Volksentscheide in der Parteiendemokratie - Das Lehrstück Stuttgart 21

In Deutschland entwickelt sich eine "Kultur der Mitentscheidung", die unser politisches System verändern und für direkte Mitsprache öffnen wird. Das ist gut. Gerade für die Sozialdemokratie als klassische "Anwältin der kleinen Leute" in Strukturen repräsentativer Entscheidung birgt dieser Trend allerdings auch beträchtliche Nachteile

Der erste Volksentscheid im grün-rot regierten Baden-Württemberg vom 27. November 2011 über das Bahnprojekt Stuttgart 21 hat ein klares Ergebnis gebracht. Eine deutliche Mehrheit im Land und auch in der Landeshauptstadt will am Bau der geplanten neuen Bahntrasse mit einem unterirdischen Bahnhof festhalten. Die Befürworter, allen voran die CDU und größte Teile der SPD, verbuchen dies als Erfolg ihrer bisherigen Politik. Die Grünen, die ihr fulminantes Landtagswahlergebnis 2011 nicht zuletzt auch den öffentlichen Protesten gegen Stuttgart 21 verdanken, konnten sich nicht durchsetzen. Dennoch: Auch der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann bewertet den Volksentscheid als Sieg für die Demokratie und als ersten großen Schritt in die Bürgergesellschaft. Allenthalben also nur Gewinner?

Ein genauerer Blick auf die Abstimmungsergebnisse gibt Hinweise auf die Entscheidungsmotive der Bürgerinnen und Bürger und ordnet den Volksentscheid in die Strukturen des Parteienwettbewerbs im Südwesten, aber auch weit darüber hinaus ein. So kann aus dem krisenhaften „Fall“ Stuttgart 21 ein Lehrstück über die Zusammenhänge von parlamentarischer Parteiendemokratie und direkter Demokratie werden. In welchem Ausmaß entsprechen sich die gruppen- und schichtspezifischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsmuster in beiden Demokratievarianten? Wer beteiligt sich wie an Wahlen und Plebisziten? Und was bedeutet dies für die Legitimität der jeweiligen Entscheidungen? Vor dem Hintergrund des Volksentscheids über Stuttgart 21 lassen sich die Chancen und auch Risiken einer umfassenden Erweiterung der repräsentativen Strukturen um direkt-demokratische Entscheidungsverfahren diskutieren: Verlieren bislang beherrschende Akteure wie Parteien und Parlamente ihre Schlüsselrolle? Oder wird ihnen durch die direkte Demokratie neues Leben eingehaucht? Und nicht zuletzt: Macht direkte Demokratie die Planung von Großvorhaben obsolet und wirkt damit letztlich als Entwicklungs- und Fortschrittsbremse? Oder führt sie zu neuen Verwaltungsabläufen und zu einer „Kultur der Mitentscheidung“, die zugespitzte Konfrontationen bei Großprojekten vermeiden hilft?

I. Bürger, Parteien und direkte Demokratie

Beim Volksentscheid im November ging es zuvorderst um das Bahnprojekt Stuttgart 21. Studien über vergleichbare Referenden in der Schweiz, wie sie etwa Hanspeter Kriesi von der Universität Zürich und Wolf Linder von der Universität Bern vorgelegt haben, zeigen jedoch, dass diese Abstimmungen in allgemeine Muster der politischen Kultur und Parteibindungen eingebettet sind, die hierzulande auch Kommunal-, Landtags- und Bundestagswahlen prägen. Dieser Zusammenhang wurde auch diesmal deutlich.

Betrachten wir zunächst die Bürger. Hier fällt die – gemessen an Landtags- und Bundestagswahlen – deutlich geringere Abstimmungsbeteiligung von 48,3 Prozent auf. Gleichwohl kann sich diese im Vergleich zu anderen Volksabstimmungen in Deutschland oder in den Nachbarländern sehr wohl sehen lassen. Zwischen den württembergischen und badischen Stadt- und Landkreisen zeigte sich ein deutliches Beteiligungsgefälle, das vor allem unterschiedliche Intensitäten der politischen Betroffenheit widerspiegelt. Im Großraum Stuttgart gingen unter dem Eindruck der monatelangen Auseinandersetzungen teilweise mehr als 60 Prozent der Wahlberechtigten zur Abstimmung, im Rheingraben in der Regel nur zwischen 35 und 45 Prozent. Hier hatten ganz offensichtlich nur die wirklich Interessierten und Engagierten abgestimmt.

Dieses Muster politischer Betroffenheit und Teilhabe lässt einige allgemeine Schlüsse zu. Bei Wahlen mit niedrigen Beteiligungsraten spielen vor allem zwei Wählergruppen eine Schlüsselrolle: gut informierte, gebildete und engagierte Bürgerinnen und Bürger, zumeist aus den Mittelschichten, sowie Wähler mit besonders engen Bindungen an die beherrschenden Parteikontrahenten, in diesem Fall an die CDU und die Grünen. Demgegenüber kam dem sozialdemokratischen Wählersegment diesmal kein entscheidendes Gewicht zu, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen waren die potenziellen SPD-Wähler mit eher niedrigen formalen Bildungsabschlüssen nur mäßig interessiert und deshalb – wie fast immer außer bei Bundestagswahlen – schwer zu mobilisieren. Die für die Südwest-SPD typischen Anhänger aus dem Beamten- und Angestelltenbereich, die das Bahnprojekt genauer verfolgten, bildeten wiederum nur einen kleinen Teil der Wählerschaft. Zum anderen war die SPD – wie übrigens auch die FDP – im Konflikt um Stuttgart 21 kein deutlich sichtbarer Akteur. Bei den Demonstrationen und Protesten blieb sie weitgehend im Hintergrund. Überdies gab die SPD für ihre Anhänger bereits im Vorfeld kein einheitliches Bild ab. Sie erschien bei dem Thema gespalten: Indem sie als Koalitionspartner der Grünen dennoch mit weiten Teilen der Parteispitze die CDU in ihrem Kampf für Stuttgart 21 unterstützte, verwirrte sie ihre Anhänger.

Bei direkt-demokratischen Verfahren kommen, das zeigen einschlägige Studien, prinzipiell zwei unterschiedliche Formen der individuellen Entscheidungsfindung zum Einsatz. Auf der einen Seite lässt sich zeigen, dass stets ein Teil der Bürgerinnen und Bürger durch einen systematischen und informierten Abgleich von Argumenten zu einer Entscheidung gelangt. Dieser argumentative Weg zum Votum setzt freilich ein ausgeprägtes politisches Interesse, Bereitschaft zur Teilhabe, eine gewisse Kenntnis der politischen Szene sowie die Gelegenheit und Befähigung zur Informationsverarbeitung voraus. All diese Voraussetzungen haben vor allem gut gebildete Angehörige der Mittelschicht. Auf der anderen Seite lassen sich bei der direkten Demokratie immer auch heuristische „Bauchentscheidungen“ nachweisen. Ohne großen Informations- und Argumentationsaufwand treffen die Bürgerinnen und Bürger ihre Entscheidungen, indem sie einfach der einen oder anderen Partei im öffentlichen Streit vertrauen oder weil sie sich schon ein langes Wählerleben hindurch mit ihr identifiziert haben.

Gerade der Volksentscheid zu Stuttgart 21 zeigt aber auch, dass zwischen argumentativen und heuristischen Entscheidungen durchaus Zusammenhänge und Übergänge bestehen. Die Bürgerinnen und Bürger, die sich seit geraumer Zeit schon mit den Weltbildern und dem Politikverständnis etwa der Union oder der Grünen identifizieren, entwickelten eine besondere Vertrautheit mit den jeweiligen Argumentationsfiguren zur Sicherung des Wirtschaftswachstums oder zur Bewahrung ökologischer und städtebaulicher Traditionen. Sie können so ihre Argumente zum Bahnhofsprojekt in einen größeren Zusammenhang einordnen und entsprechend abstützen.

Für den Erfolg bei Volksentscheiden sind – über das Beispiel Stuttgart 21 hinaus – jedenfalls zwei Faktoren entscheidend: der Zugang zu den gebildeten Schichten mit ihrer Neigung und Fähigkeit zu argumentativen Entscheidungen und die Zuordnung der zur Entscheidung anstehenden Thematik in die Traditions- und Problemfelder eines politischen Lagers oder einer Partei. Ersteres verschafft den politischen Parteien und Interessen der bürgerlichen Mittelschicht einen strukturellen (Start-)Vorteil. Ihnen gelingt fast immer und ziemlich schnell die Mobilisierung eines relativ großen Teils ihrer Anhängerschaft. Letzteres gewährleistet jedoch, dass sich bei direkt-demokratischen Verfahren eben nicht nur „bürgerliche“ oder „fortschrittliche“ Themen und Interessen durchsetzen, sondern dass auch „nicht-bürgerliche“ Themen beträchtliche Erfolgschancen haben. Wiederum bietet die Schweiz hier reichhaltiges Anschauungsmaterial zur Durchsetzungs- oder auch Verhinderungsmacht konservativer und kleinbürgerlicher Interessen bei direkt-demokratischen Entscheidungen. Die meisten Referenden werden dort zwar von eher konservativen Kräften gewonnen, die ihnen vorausgegangenen, erfolgreichen Volksinitiativen gelten dennoch als politische Erfolge. Sie verhelfen Themen und Problemen zu einem festen Platz auf der politischen Agenda und erzeugen so mittelfristig Wirkung in der öffentlichen Meinung. Initiativen und Abstimmungen werden in der Schweiz deshalb durchaus zutreffend in ihrer Kombination als „Gaspedal“ und „Bremse“ bei der demokratischen Willensbildung anerkannt.

Seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat sich, wie viele Studien zur Partizipation zeigen, im Zuge des Wertewandels verstärkt aus den gehobenen Mittelschichten eine „Aktivbürgerschaft“ von etwa 15 bis 20 Prozent herausgebildet, die eine umfassendere Beteiligung an den Entscheidungsprozessen fordert. Bei etwa einem Drittel der Bevölkerung – vorwiegend aus den unteren Mittelschichten – wächst hingegen seit längerem die Distanz zur Politik. Deren politisches Interesse und ihr politischer Kenntnisstand verringern sich. Politische Beteiligung erfolgt dann vielfach vor allem unter den Vorzeichen massiver Unzufriedenheit und Frustration, ein Ressentiment, das für populistische Parteien gerade in Krisenzeiten gute Ausgangsbedingungen bedeutet. Zwischen den Aktivbürgern und den Distanzierten verbleibt etwa die Hälfte der Bevölkerung, die das politische Geschehen kritisch und weitgehend informiert verfolgt. Ein intensiveres eigenes Engagement über die Wahlbeteiligung hinaus erachten viele indes kaum für notwendig, solange sich die politischen Dinge „in die richtige Richtung“ entwickeln.

Wenden wir uns den Parteien als politischen Akteuren zu. Hier waren verschiedene Strategien zu beobachten. Die CDU hat die Volksabstimmung zu Stuttgart 21 als „Rückspiel“ der Landtagswahlen vom März inszeniert und es mit entsprechendem Plakat- und Anzeigenaufwand vermocht, ihre Anhänger ausreichend an die Urnen zu bringen. Gelungen ist ihr dies vor allem im ländlichen und kleinstädtischen Bereich, wo sie aufgrund ihrer starken Repräsentanz in Vereinen und anderen Organisationen des vorpolitischen Raums über weitaus bessere Mobilisierungsmöglichkeiten verfügt als alle anderen Parteien. So dürfte der Sieg bei der Volksabstimmung zu wesentlichen Teilen den weit überdurchschnittlich mobilisierten Stammwählern der CDU auf dem Lande zu verdanken sein. Die Union hat also auf eine Strategie vertraut, die den Volksentscheid in hohem Maße als Variante einer Parteienwahl erscheinen ließ. Als Partei mit starkem Rückhalt im bürgerlichen Lager konnte die CDU zweifellos viele Wähler argumentativ überzeugen, aber zugleich konnte auch ein großer Teil der Unionsanhänger im Land ihrer Partei mit einer „Bauchentscheidung“ zum Erfolg verhelfen.

Die Niederlage bei der Volksabstimmung ist für die Grünen und ihren Ministerpräsidenten Kretschmann dennoch keine strategische Katastrophe. Die Mobilisierung einer Gegnerschaft des Bahnprojekts von über 40 Prozent ist für die Umweltpartei ein respektabler Erfolg. Die auffällig hohen Stimmenanteile der Stuttgart 21-Gegner entlang des Rheins zwischen Lörrach und Mannheim signalisieren eine bereits stark entwickelte Sensibilität im protestbereiten Umfeld angesichts des hier geplanten Ausbaus der Nord-Süd-Bahnstrecke im Rheintal. Bei einer insgesamt schwachen Abstimmungsbeteiligung konnten vor allem die grünen Bahnprojektgegner stark mobilisiert werden. Der Eindruck einer Parteienwahl auch zugunsten der Grünen wird dadurch verstärkt, dass die Gegner von Stuttgart 21 in allen größeren Städten des Landes gute Ergebnisse erzielten – in den Universitätsstädten Freiburg, Heidelberg und Tübingen erreichten sie mit 66,5 Prozent, 58,0 Prozent und 57,7 Prozent ihre besten Resultate. So hat die Frontstellung bei der Volksabstimmung die Grünen eindrucksvoll als zweiten Pol im baden-württembergischen Parteienwettbewerb bestätigt.

CDU und Grüne haben bei dem Volksentscheid also auf ähnliche Strategien zurückgegriffen. Beide Parteien verfügen über einen Zugang zur gut gebildeten Mittelschicht mit ihrer hohen Teilhabebereitschaft; diesen Zugang haben beide intensiv genutzt. Beiden gelang es aber auch, das politische Streitobjekt Stuttgart 21 so in ihre Weltbilder „Wachstum und Fortschritt“ beziehungsweise „ökologische und städtebauliche Bestandswahrung“ einzubauen, dass nicht nur die argumentativen Abwägungen bei der Sachfrage, sondern auch die Identifikationen mit den beiden Parteien die Anhänger zur Stimmabgabe bewegte.

Auch im Blick auf die Parteien als Akteure lassen sich grundsätzliche Lehren aus dem baden-württembergischen Volksentscheid gewinnen. Zum einen bieten direkt-demokratische Entscheidungen den Parteien fast immer die Gelegenheit, durch die in den Volksentscheiden anstehenden Streitfragen ihre über Jahrzehnte gewachsenen politischen Traditionen und Weltbilder in die Gegenwart fortzuschreiben und – wenn man so will – „auf den neusten Stand“ zu bringen. Die deutschen Parteien haben in ihren Diskussionen um die Einführung direkt-demokratischer Prozeduren diese Chance zur Aktualisierung ihrer Traditionen bezeichnenderweise noch nicht erkannt und erst recht nicht genutzt. In ihren Hauptquartieren stehen stattdessen nach wie vor die altbekannten und ausgelutschten Rituale kandidatenzentrierter Wahlkämpfe und ähnlicher Kampagnen auf der Tagesordnung. Zum anderen fällt auf, wie der anstehende Volksentscheid über das hochkomplexe Problem des Bahnprojekts Stuttgart 21 die politische Rhetorik verständlicher und klarer werden ließ: Welch ein Unterschied zu einer Reihe von sozialpolitischen Debatten wie etwa zu verschiedenen Stadien der Gesundheitsreform oder zur Pflegereform! Direkte Demokratie ist mithin auch ein wichtiges und wirksames Vehikel, um die Kommunikation mit den Bürgern entscheidend zu verbessern. Schließlich stellen, wie Studien zur Mitgliederrekrutierung zeigen, politische Kampagnen und Wahlkämpfe für die Parteien immer auch zeitliche Korridore für die Gewinnung neuer Mitglieder dar. Die Mobilisierung sachkundiger und engagierter Aktivbürger im Umfeld von Volksentscheidungen bietet mithin eine gute Chance, zumindest einen Teil der Aktivisten mit ihren Ideen und ihrem Partizipationsgeschick als Mitglieder für die Parteien gewinnen. Damit vollzögen sich Brückenschläge von den Parteien in das bürgerschaftliche Umfeld – Erfolge, die von den alljährlich propagierten Mitgliederwerbeaktionen mit großer Regelmäßigkeit verfehlt werden. Die direkte Demokratie und die aus ihr hervorgehenden Kampagnen würden somit nicht nur neue Segmente der Gesellschaft in die politische Partizipation einbeziehen, sondern zugleich den Parteien mit einem tendenziell neuen Mitgliedertypus des bürgerschaftlichen Aktivisten neues Leben einhauchen.

II. Auf dem Weg in die Bürgergesellschaft

Das Ergebnis des baden-württembergischen Volksentscheids spiegelt im Ergebnis zunächst nur die politischen Stimmungen und Mehrheitsverhältnisse im Land wider. Gleichwohl kann es als „politisch kluges“ Ergebnis angesehen werden. Das Votum für die Weiterführung des Stuttgarter Bahnprojekts war so deutlich, dass es zu einer spürbaren Beruhigung des Konflikts beigetragen hat. Auch für die allermeisten Gegner des Bahnhofneubaus gehört die Akzeptanz von direktdemokratischen Beschlüssen zum unverzichtbaren Bestandteil der Bürgergesellschaft. Dabei spielt es keine Rolle, dass die Unterlegenen ihre Argumente weiterhin als stichhaltiger ansehen mögen. Volksabstimmungen entscheiden nicht über die sachliche Richtigkeit der vorgebrachten Argumente, in ihnen kommt vielmehr der Mehrheitswille der Bürgerschaft über den einzuschlagenden Weg zum Ausdruck.

Damit zeichnen sich auf der Ebene der demokratischen Verfahren die Ansätze zu einer Überbrückung der Legitimationslücke ab, die sich seit den achtziger Jahren immer weiter und deutlicher geöffnet hat zwischen einer partizipationsorientierten, im Verfahrensverständnis direktdemokratischen politischen Kultur einerseits und dem nach wie vor vom Grundgedanken der repräsentativen Demokratie beherrschten Institutionengefüge und den Parteien als politische Schlüsselorganisationen andererseits.

Darüber hinaus hat dieses Ergebnis auch die demokratietheoretisch bedenkliche Diskrepanz zwischen der juristischen und der politischen Bewertung des Projektes Stuttgart 21 geschlossen. Demokratien beruhen auf Rechtssicherheit, und die Bahn hat seit längerem gültige, gerichtlich mehrfach überprüfte Verträge zum Bau. Für manche Verwaltungsjuristen war die Tatsache, dass angesichts dieser eindeutigen Vertragssituation dennoch politisch nochmals über das Projekt abgestimmt werden sollte – und damit die Rechtssicherheit aus ihrer Sicht letztlich zur Disposition stand –, ein zutiefst unbefriedigender Zustand. Die klare Mehrheit für den Weiterbau hat diese Irritationen aus der Welt geschaffen.

Schließlich ist dem Land bei diesem Ergebnis eine erbitterte Diskussion über den Sinn und die Gerechtigkeit des Quorums erspart geblieben. Eine Mehrheit für den Ausstieg aus dem Bahnprojekt unterhalb des Quorums hätte massive Auseinandersetzungen um die Akzeptanz der durch die Landesverfassung vorgegebenen Spielregeln losgetreten und die neue grün-rote Landesregierung in Stuttgart durchaus in politische Turbulenzen mit unübersehbaren Folgen stürzen können. Regierung und Opposition haben jetzt genügend Zeit, sich in aller Ruhe über die notwendige Herabsetzung des Quorums zu verständigen. Zweierlei gilt es dabei in Einklang zu bringen: Zum einen garantiert ein Quorum eine gewisse Mindesthöhe der Wahlbeteiligung und damit einen Schutz vor dem politischen Durchmarsch hoch motivierter Gruppen mit spezifischen Eigeninteressen. So hat die Wahlforschung immer wieder nachgewiesen, dass die gehobenen Mittelschichten eine weitaus größere Partizipationsbereitschaft aufweisen als niedrigere soziale Schichten. Deren Interessen werden in der Regel weitaus effektiver durch Parteien anwaltschaftlich vertreten. Zum anderen darf ein Quorum aber auch nicht zur schier unüberwindbaren Hürde für die Verbindlichkeit direktdemokratischer Mehrheitsentscheidungen werden. Das in Baden-Württemberg bislang geltende Quorum von einem Drittel der Wahlberechtigten erfordert bei knappen Mehrheitsverhältnissen eine fast doppelt so hohe Wahlbeteiligung, die selbst bei Landtagswahlen keineswegs immer erreicht wird. Der Blick auf andere Bundesländer verdeutlicht Alternativen. Bayern verzichtet vollständig auf ein Quorum, in Nordrhein-Westfalen liegt es bei 15 Prozent der Wahlberechtigten, in Niedersachsen, Thüringen und einer Reihe weiterer Länder bei 25 Prozent. Die in der baden-württembergischen Landespolitik im Raume stehende Absenkung des Quorums auf 20 Prozent erscheint vor diesem Hintergrund als ein durchaus angemessener allgemeiner Grenzwert.

Ein Weiteres kommt hinzu: Zusammen mit der Verringerung des Quorums müssen generell die viel zu restriktiven Hürden für ein Volksbegehren drastisch gesenkt werden. Nach der Landesverfassung in Baden-Württemberg kommt ein solches Begehren bislang nur dann zustande, wenn ein Sechstel der Wahlberechtigten – also knapp 1,3 Millionen – innerhalb von 14 Tagen durch Amtseintrag, in der Regel auf den Bürgermeisterämtern, eine entsprechende Unterstützungsunterschrift leistet. Dies ist in der Praxis nahezu unmöglich. Nochmals zum Vergleich: In Bayern reichen für den Start eines Volksbegehrens die Unterschriften von zehn Prozent der Wahlberechtigten ohne zeitliche Begrenzung.

In Demokratien geht alle Macht bekanntlich vom Volke aus. In der konkreten Praxis beruhen sie auf Regelwerken, die immer wieder auf ihre Angemessenheit überprüft und entsprechend verändert oder weiterentwickelt werden können. In der direkten Nachkriegszeit gab es angesichts der noch ungefestigten demokratischen Grundüberzeugungen vieler Bürgerinnen und Bürger gute Gründe, die neue demokratische Ordnung Deutschlands strikt repräsentativ auszurichten. Heute besteht die Aufgabe darin, die verschiedenen Elemente direkter und repräsentativer Entscheidungsfindung intelligent und effektiv miteinander zu verbinden, ausgerichtet an den höchst unterschiedlichen Erwartungen von Aktivbürgern, kritischen Zuschauern und frustriert Distanzierten an die Politik.

Die Politik kann nur versuchen, diesen gegensätzlichen Erwartungen mit einer Mischung aus tatsächlichen Beteiligungschancen und dennoch zugleich effektiven Entscheidungsprozessen gerecht zu werden. Die „Input“-Dimension muss weiter ausgebaut werden, ohne die Effizienz der „Output“-Dimension zu verlieren. Die sich abzeichnende Erweiterung des repräsentativen Systems durch direktdemokratische Entscheidungsverfahren wird aber nur dann zu einem Erfolg, wenn sich eine neue „Kultur der Mitentscheidung“ breiter entwickelt. Für die Bürgerinnen und Bürger heißt dies, dass ihre Rolle aufwendiger, zeitintensiver und anspruchsvoller wird. Es reicht dann nicht mehr aus, sich nur alle vier bis fünf Jahre einmal an einer Parlamentswahl zu beteiligen – und ansonsten politische Fragen an die gewählten Repräsentanten zu delegieren. In der Bürgergesellschaft nehmen die Bürgerinnen und Bürger die Dinge in ihre eigenen Hände, sie informieren sich, sie diskutieren und sie entscheiden mit.

Gleichzeitig ändert sich auch die Rolle der Politiker und Entscheidungsträger. Zunächst müssen sie Entscheidungsmacht abgeben. Wenn politische Entscheidungen dem Volk vorgelegt und von diesem herbeigeführt werden, beschränkt dies die in parlamentarischen Systemen machtvollen Exekutiven und reduziert sie auf ihre namensgebende, nämlich ausführende (exekutierende) Funktion. Ihre größere Wirkung entfalten Volksabstimmungen aber bereits allein durch die Möglichkeit, dass sie jederzeit stattfinden können. Wie in der Schweiz zu beobachten, sind Parteien und Politiker in dieser Situation gezwungen, in ihrem Handeln die Interessenlagen und Bedürfnisse in der Bürgerschaft weitaus intensiver zu berücksichtigen. Politische Gruppierungen und Verbände, die aufgrund ihrer organisatorischen Kapazitäten und Kampagnenfähigkeit eine potenzielle Vetomacht darstellen, müssen frühzeitig eingebunden werden. Politik wird responsiver – allein schon, um korrigierende Volksabstimmungen und damit einen Gesichtsverlust der gewählten Repräsentanten zu vermeiden. Der Ausbau der Bürgergesellschaft durch direktdemokratische Verfahren hat aus dieser Perspektive daher gute Chancen, der Verdrossenheit über Parteien und Politiker entgegenzuwirken.

III. Die Lehre aus Stuttgart: „Mehr Demokratie wagen“

Die Grünen drängen nicht nur in Baden-Württemberg auf die Weiterentwicklung des politischen Systems zur Bürgergesellschaft. Der baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann setzt auf eine „Politik des Gehörtwerdens“. Neben einer stärkeren Ausrichtung des Regierungshandelns an den Interessen der Bürgerinnen und Bürger soll dies eben auch den Ausbau direktdemokratischer Instrumente der Entscheidungsfindung umfassen. Die größten Vorbehalte gegen diesen direkten Machtzuwachs der Bürger bestehen in konservativen Wählerkreisen sowie in Teilen der Verwaltungen, die in verstärkten bürgerlichen Mitspracherechten vor allem einen Machtverlust sehen.

Dabei kristallisieren sich immer deutlicher Grüne und CDU als Antipoden beim Umbau des politischen Systems heraus. Die SPD verharrt angesichts ihrer unterschiedlichen Wählergruppen in einer wenig komfortablen, mittleren Position. Als „Anwältin der kleinen Leute“ kann sie nur in repräsentativen Entscheidungsstrukturen erfolgreich tätig werden. Ihre vom Wertewandel beeinflussten Wähler aus den gehobenen Mittelschichten und dem Beamtentum hingegen fordern ebenfalls vermehrt direktdemokratische Entscheidungsverfahren. Verstärkt wird dieser Konflikt durch die Risiken vermehrter schichtspezifischer politischer Entscheidungen, wenn sich die informierten, ressourcenstarken und gehobenen Mittelschichten sowohl bei den Wahlen als auch bei den Plebisziten aufgrund ihrer größeren Bereitschaft zur Beteiligung überproportional durchsetzen können. Gerade die Volksparteien mit einem Vertretungsanspruch auch der unteren Mittelschichten stehen in dieser Situation in der Pflicht, den Gedanken des Gemeinwohls in den repräsentativen Strukturen erfolgreich zur Geltung zu bringen.

Vor diesem Hintergrund gilt es dann auch ganz konkret, die staatlichen Planungs- und Verwaltungsabläufe neu zu überdenken. Bislang war es fast schon die Regel, Großprojekte ohne eine breitere öffentliche Diskussion über Jahre hinweg bis zum Vertragsabschluss abzuwickeln. Da sich die Gesetzmäßigkeiten der Mediengesellschaft mit ihrem Fokus auf tagespolitische Aktualität nicht außer Kraft setzen lassen, muss in den Verwaltungsabläufen die Pflicht zur frühzeitigen Offenlegung und öffentlichen Diskussion deutlich verstärkt werden.

Die sich entwickelnde „Kultur der Mitentscheidung“ wird unser politisches System schrittweise verändern und für direkte Mitsprache öffnen. Nicht zuletzt am Beispiel der Schweiz wird deutlich, dass die von den Volksvertretern abgeschlossenen Verträge in der Bürgergesellschaft immer nur vorbehaltlich des Einspruchs der Bürgerinnen und Bürger gelten. Das ist gut. Demokratien sind labile politische Systeme, die auf Zustimmung und Rechtsstaatlichkeit beruhen. Bürgerschaftliche Akzeptanz und Rechtssicherheit müssen im Gleichgewicht bleiben. Hier ist institutionelle Kreativität gefordert, um im Bund und in den Ländern angemessene Strukturen zu finden.

Damit zeichnet sich am Ende eine ironische Pointe ab. Vieles spricht dafür, dass die massiven, teilweise gewalttätigen Konflikte um Stuttgart 21, die immer auch als bedrohliche Krisensymptome nicht nur einer fragwürdigen Landespolitik, sondern der repräsentativen Parteiendemokratie überhaupt galten, mit der Befriedung durch den Volksentscheid zugleich auch ein institutionelles Lebenselixier für eben diese repräsentative Parteiendemokratie zu Tage gefördert haben.


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