Wie geht’s der Nachbarschaft?

EDITORIAL

„Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn werden im Innern und nach außen“, sagte Willy Brandt in seiner ersten Regierungserklärung im Herbst 1969. Warum dieser Satz so berühmt geworden ist, liegt auf der Hand – oder vielleicht aus dem Abstand von über vier Jahrzehnten doch nicht mehr: Was Brandt da postulierte, das war damals das Gegenteil einer Selbstverständlichkeit – und genau deshalb ein Aufsehen erregendes Vorhaben. Gerade einmal ein Vierteljahrhundert zurück lag die von Deutschland und von Deutschen angerichtete Katastrophe des massenmörderischen Zweiten Weltkrieges. Und die Bevölkerung der Bundesrepublik im Jahr 1969 bestand weit überwiegend noch aus Deutschen, die den Menschen im übrigen Europa – und auch einander – in der Vergangenheit gewiss nicht vor allem als gute Nachbarn begegnet waren. Über Europa und die Europäer waren die Deutschen hergefallen, untereinander waren sie sich in Diktatur und geistigem Bürgerkrieg jahrzehntelang misstrauisch und gewalttätig begegnet. Willy Brandt formulierte also einen unerhörten Anspruch – und zeigte den Deutschen zugleich eine attraktive Perspektive auf, sich gleichsam neu zu erfinden.

Längst ist klar, wie wichtig diese Wegweisung war. Erfolgreiche und zukunftsfähige Gesellschaften mit zufriedenen Menschen sind vor allem deshalb erfolgreich, zukunftsfähig und zufrieden, weil sie high trust societies sind: Gesellschaften, in denen die Leute einander vertrauensvoll begegnen. Besonders die skandinavischen Länder, die Niederlande und auch die Schweiz sind ausgeprägte „Vertrauensgesellschaften“. Und offensichtlich korreliert hohes soziales Vertrauen mit ausgeprägter Nachbarschaftlichkeit: Es sind die Beziehungen im – sozial und infrastrukturell möglichst intakten – engeren Lebensumfeld, in denen Vertrauen entstehen und wachsen kann. Das macht gute Nachbarschaft zur sozialen und ökonomischen Ressource.

Viel ist ja die Rede davon, im Prozess der Modernisierung, Säkularisierung, Globalisierung et cetera werde unsere Gesellschaft rücksichtsloser, egoistischer und kälter. Anhand empirischer Daten weist Thomas Petersen in diesem Heft nach, dass nichts davon zutrifft. So haben etwa der Umfang von Nachbarschaftshilfe und bürgerschaftlichem Engagement in Deutschland langfristig zugenommen. Und die Frage „Glauben Sie, dass man den meisten Menschen vertrauen kann?“ beantworten heute viel mehr Deutsche positiv als noch vor einigen Jahrzehnten.

Wie sehr sich Brandts Hoffnung auf gute Nachbarschaft auch nach außen insgesamt erfüllt hat, wird wohl nirgends so deutlich wie in der erstaunlichen Entwicklung der deutsch-polnischen Nachbarschaft in den letzten Jahren, über die in diesem Heft Dietrich Schröder berichtet. Hier scheinen die Hypotheken des 20. Jahrhunderts endlich abgetragen. Doch wo alte Belastungen vergehen, können neue auftauchen. Welchen Wert Deutschland derzeit eigentlich darauf legt, seinen vielen Nachbarn in Europa ein high trust neighbour zu sein, fragen sich im Lichte der gegenwärtigen Krise viele Europäer. Sie haben Grund dazu. Darum erinnern in dieser Ausgabe der Luxemburger Jean Asselborn und der Pole Rafał Woś daran, warum wir Deutschen auch im 21. Jahrhundert jede Menge gute Gründe haben, weiterhin ein Volk der guten Nachbarn sein zu wollen.



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