Legitimität und Alltag

Die Europäische Union ist eine einzigartige politische Gemeinschaft auf dem Weg zu einer Staatenföderation neuen Typs. Zwölf Thesen zur europäischen Verfassungspolitik

Auf Beschluß der EU-Staats- und Regierungschefs vom Dezember vergangenen Jahres in Laeken soll ein Konvent bis Ende 2002 Vorschläge zu einer Reform der Europäischen Union machen und einen Entwurf für eine gemeinsame europäische Verfassung unterbreiten. Ziel ist es, die "Union der 15" demokratischer, transparenter und effizienter zu gestalten und sie für eine Erweiterung der Union 2004 vorzubereiten. Zwölf Thesen.

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Das in der Europäischen Union vereinigte Europa ist eine einzigartige politische Gemeinschaft. Die EU ist und bleibt etwas anderes als etwa die Vereinigten Staaten von Amerika. Der europäische Integrationsprozeß führt, so sehr er einem Staatsbildungsprozess ähneln mag (Rechtseinheitlichkeit, gemeinsame Währung, Parlament), nicht zu einer neuen europäischen Super-Nationalstaatsgründung, sondern zu einer supranationalen Staatenföderation neuen Typs.

2
Die Europäische Union hat sich von einer Wirtschaftsgemeinschaft zu einer Wertegemeinschaft entwickelt. Sie versteht sich als "Leuchtfeuer" (Laekener Erklärung) für Frieden, Demokratie, Gerechtigkeit und Wohlstand. Fundament der Gemeinschaft sind gemeinsame Kultur, Geschichte und Grundwerte sowie das Bekenntnis zu sozialer Marktwirtschaft und repräsentativer Demokratie (Kopenhagener Kriterien; Charta der Grundrechte). Die EU hat selbst kein Vorbild, aber kann Vorbild sein für die Staatenbünde ASEAN, Afrikanische Union und Mercosur (Südamerika).

3
Die Politisierung der demokratischen EU-Institutionen, insbesondere des Parlaments und der Parlamentswahlen, erfordert die Herausbildung wahrnehmbarer, wirksamer und unterscheidbarer gesamteuropäischer Parteien. Parteipolitische Polarisierung wird nicht von heute auf morgen die nationalstaatlich-diplomatische Konsensbildung der Gründer-EU ablösen. Wichtige Schritte auf dem Weg zur (mehr als nur formalen) europäischen Parteibildung können kontroverse Diskussionsanstöße wie das "Schröder-Blair-Papier" oder Konferenzserien wie die "Modern governance"-Tagungen der progressiven Partei- und Staatschefs sein.

4
Erst an den geographischen Grenzen Europas liegen die Grenzen der EU-Erweiterung. Grenzfälle sind die Türkei (eher Beitrittskandidat) und Rußland (eher Kooperationskandidat). Die Vertiefung der Zusammenarbeit kann mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten erfolgen.

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Europa fehlt es an personaler Identifikation. Deshalb sollte der Kommissionspräsident von einer "Europaversammlung" gewählt werden. Diese könnte sich zusammensetzen aus allen Mitgliedern des Europäischen Parlaments und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern der nationalen Parlamente.

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Der Realität einer gemeinschaftlichen, internationalen Zusammenarbeit neuen Typs entspricht die Einsetzung besonderer Europaminister in den Regierungen der einzelnen Mitgliedsstaaten. Europäische Innenpolitik ist etwas anderes als nationalstaatliche Außenpolitik.

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Entscheidungen der EU betreffen "bürgernah" unmittelbar das Alltagsleben: Telefonieren ist billiger geworden, Frauen dienen in der Bundeswehr, Bereitschaftsdienst für Ärzte wird als Arbeitszeit gerechnet, Autohändler dürfen mehr als eine Marke anbieten. Zwar wird "Brüssel" stets ferner bleiben als eine Kommunalverwaltung oder eine Landesregierung, aber europäische Entscheidungen können Legitimität in dem Maße beanspruchen, in dem klar ist, wie die Kompetenzen zwischen den staatlichen Ebenen nachvollziehbar verteilt sind.

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Ein Kompetenzausschuss aus Europa- und Nationalstaats-Parlamentariern sollte bestimmen, welche Entscheidungen in Brüssel, welche in den Ländern und Regionen und welche gemeinsam beschlossen werden sollen. Seine Maßstäbe sind Subsidiarität, Effizienz und Kohärenz.

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Europa muss Identität schaffen. Der Euro wird dabei als eine identitätstiftende Institution einen bedeutenden Beitrag leisten. Am wichtigsten für das Grundgefühl, ein Europäer zu sein, ist aber das gemeinsame Auftreten Europas in der Welt - ist die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.

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Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union geben im Verteidigungs- und Sicherheitsbereich insgesamt etwa zwei Drittel dessen aus, was die USA an Mitteln aufwenden, erreichen damit aber nur ein Drittel der Fähigkeiten. Dabei ist klar, daß die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) nicht mit den USA konkurrieren oder der Weltmacht militärisch ebenbürtig werden soll. Allerdings muss die EU durch Arbeitsteilung, bündnisgemeinsame Aufgabenerledigung und gemeinsame Rüstungsentwicklung und Beschaffung ähnlich effektiv werden.

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Erste Felder für gemeinschaftliche Institutionen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) können die Überwachung des EU-Luftraums und der Aufbau eines ständigen Marineeinsatzverbandes der EU sein. Gemeinsame EU-Botschaften, insbesondere in Ländern, in denen Deutschland und andere europäische Staaten nicht mit eigenen diplomatischen Vertretungen präsent sind, können das außenpolitische Gewicht Europas erhöhen.

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Auf längere Sicht braucht die EU eine eigene Armee. Als Schutzbündnis für die westliche Welt hat die NATO mehr als ein halbes Jahrhundert ihre Stärke bewiesen. Die Aufgabe einer Sicherheitsklammer zwischen den USA und Europa wird ihr auch weiterhin zukommen. Dennoch braucht die EU eigene funktionsfähige Strukturen militärischer Integration. Artikel 5 des WEU-Vertrages, die bedingungslose Beistandspflicht aller für den Fall des Angriffs auf eines oder mehrere Mitglieder, könnte für die EU-Sicherheitspolitik konstitutiv werden. Eine Doppelung von Fähigkeiten NATO/EU kann dabei in Kauf genommen werden.

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