Triumph ohne Profil und Programm

Verliert, wer reformiert? Bei Regionalwahlen in Frankreich haben die Sozialisten unerwartet vom verbreiteten Unmut gegen die Regierung profitiert - was sie mit ihrem Sieg anfangen wollen, wissen sie nicht so recht

Je weiter der Abend des 28. März 2004 voranschritt, desto roter wurde er. Schon nach den ersten Hochrechnungen war klar: Die zweite Runde der Regionalwahlen würde den französischen Sozialisten einen großartigen Erfolg bescheren. Immer bildgewaltiger zeichneten die Strategen im Hauptquartier der Parti Socialiste (PS) ihren Erfolg nach. Eine rosa Welle werde Europa nun durchfluten. Nach Spanien würden die Konservativen jetzt auch in Frankreich nach und nach abgewählt. Zur Ikone der neuen linken Stärke wurde schnell Ségolène Royal verklärt. Die einstige Familienministerin in der Regierung Jospin hatte den Konservativen die bitterste aller Niederlagen zugefügt. In der Region Poitou-Charentes, der Heimat von Premierminister Jean-Pierre Raffarin, kam sie auf 54 Prozent der Stimmen. Symbolisch krönten sie ihre Kameraden zur "Zapatera", in Anlehnung an den neuen spanischen Ministerpräsidenten.

In einem Interview des französischen Radiosenders RTL ging der Sozialistenchef und Ehemann der "Zapatera", François Hollande, sogar noch weiter. Er verglich den Sieg der Linken mit jenem historischen Sonntagabend 1981, als François Mitterrand zum ersten Mal in der Geschichte der Fünften Republik die Präsidentschaft für die Sozialisten gewann. Damals zogen Massen von jubelnden Franzosen spontan zur Bastille. Mit dem Sieg des Marathon-Politikers Mitterrand hofften sie auf ein neues Frankreich, eine modernere Gesellschaftsordnung, mehr Gerechtigkeit für die Benachteiligten. Gerade für die Angehörigen der "Generation Mitterrand", jener Politiker also, die als junge Menschen in die Partei des damaligen Präsidenten eingetreten waren und unter seiner Herrschaft politisch sozialisiert wurden, bedeutet die Referenz an den großen sozialistischen Sieg heute eine große Hoffnung.

Den Bürgerlichen bleiben Elsass und Korsika

Tatsächlich kann sich der Sonntag im März 2004 aber nur in einem Punkt mit dem großen Vorbild aus dem Jahr 1981 messen - im Ergebnis. Auf dem Papier handelt es sich wirklich um eine historische Wahl für Frankreichs Linke. Zum ersten Mal seit den Präsidentschaftswahlen von 1988 konnte eine linke Koalition wieder die absolute Mehrheit erzielen. Etwas mehr als 50 Prozent erhielt der Zusammenschluss aus Sozialisten, Kommunisten, Grünen und Radikaldemokraten. In den nächsten fünf Jahren werden 20 von 22 Regionen von sozialistischen Präsidenten geführt. Der Triumph ist umso erstaunlicher, als die Linke ohne erkennbares Profil und klares Programm in die Wahlen gegangen ist.

Vielmehr sollten die Regierenden einen Denkzettel bekommen. Mit 37 Prozent der Stimmen hat das bürgerliche Lager eine der schlimmsten Niederlagen in der Fünften Republik einstecken müssen. Nicht einmal die Unterstützung in manchen Wahlbezirken durch die bürgerlich-liberale UDF konnte der (KS) Union pour un Mouvement Populaire (KS) (UMP) von Präsident Jacques Chirac helfen. Von einstmals 14 Regionen verbleiben den Konservativen gerade zwei. In Zukunft stehen bürgerliche Präsidenten nur noch dem Elsass und Korsika vor.

Die ganze Tragweite der Abstimmung wird an den durchgefallenen Kandidaten der Rechten deutlich. Sämtliche 19 Minister der Regierung Raffarin wurden unter dem Spott der Franzosen nach Hause geschickt. Keiner der hohen Politiker aus Paris, die sich in der Provinz dem Wahlvolk gestellt hatten, gewann auch nur eine Region. Sogar politische Schwergewichte des bürgerlichen Lagers, wie der ehemalige Präsident Valéry Giscard d′Estaing, wurden abgewählt. Die Abstimmung war zu einer schallenden Ohrfeige für Präsident Chirac und seine Regierung unter Premier Raffarin geworden.

Allerdings kam das Ergebnis nicht ganz überraschend. Schon seit einigen Monaten brodelte es in der Bevölkerung. Die Regionalwahlen boten nun die erste Möglichkeit, dem angestauten Ärger über den Reformkurs der Regierung freien Lauf zu lassen. Dafür spricht auch die hohe Wahlbeteiligung. Zur zweiten Runde der Regionalwahlen kamen 65 Prozent der Abstimmungsberechtigten, zum ersten Durchgang schon 62 Prozent. Zu bewahrheiten schien sich die alte Weisheit, dass die Franzosen immer dann an die Urnen strömen, wenn sie an ein politisches Projekt nicht mehr glauben.

Zwischen Trotzkisten und Le Pen

Das hatten die Sozialisten bereits bei den Präsidentschaftswahlen 2002 Schmerzlich feststellen müssen. Damals schien sich ein selbstbewusster Regierungschef Lionel Jospin seiner Sache zu sicher und glaubte, die eigene Klientel nicht von seinen Ideen überzeugen zu müssen. Ein fataler Irrtum. Denn so liefen zahlreiche linke Wähler in die Arme der Trotzkisten und andere linker Splittergruppierungen über. Damit eine solche Pleite nicht mehr passiere, betrieben die Sozialisten diesmal im Vorfeld eine große Kampagne für die so genannte vote utile, die entscheidende Stimme. Linke Wähler sollten sich vor der Abstimmung genau überlegen, wen sie wählen, und für die gemeinsame Sache ihre Stimme dem stärksten unter den Linksparteien geben, nämlich der PS. Mit einigem Erfolg. Nach ihrem guten Abschneiden bei den Präsidentschaftswahlen erhielten die Trotzkisten nur noch 4,6 Prozent der Stimmen und durften im zweiten Wahlgang nicht mehr antreten.

Aber auch auf der anderen Seite büßten die Extremisten von Jean-Marie Le Pens (KS) Front National (KS) Stimmen ein. Mit 12,5 Prozent verloren die Rechtsextremisten die Hälfte ihrer Regionalräte. Allerdings scheint sich die Partei dennoch relativ verlässlich auf jede zehnte Stimme der Franzosen stützen zu können. Immerhin kamen die Rechtsextremisten in 17 Regionen in die Endrunde. In Marseille und Umgebung erhielten sie sogar 21 Prozent der Stimmen. Gerade der Erfolg der Rechtsextremisten vom FN kann als ein ablehnendes Signal gegenüber den etablierten französischen Politikern verstanden werden. So werfen die FN-Propagandisten die Politiker der großen rechten und linken Volksparteien ständig in einen Topf und brandmarken diese als arrogante Machtelite in Paris.

Lehrer, Arbeitslose, Intellektuelle...

Dabei scheinen die Franzosen durchaus ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein zu haben, das sehr wohl zwischen rechts und links unterscheidet. In einer kürzlich veröffentlichten Umfrage sprachen sich 61 Prozent der Franzosen für eine sozialere Politik zugunsten der ärmeren Schichten aus. Entsprechend können die Ergebnisse der Regionalwahlen als eine Fortsetzung der Massenstreiks und Demonstrationen mit anderen Mitteln verstanden werden. Die Protestbewegung vor einem halben Jahr ging als "Sozialer Herbst" in die Annalen ein. Lehrer, Schauspieler, Intellektuelle, Studenten, Ärzte, Arbeitslose und Forscher hatten sich gegen die Klientelpolitik der Regierung verbündet und waren auf die Straße gegangen. Anfang März veröffentlichte ein Musikmagazin eine Petition mit 8.000 Unterschriften gegen den von der Regierung geführten "Krieg gegen die Intelligenz". Wenige Tage vor den Wahlen kündigten auch noch 3.500 Forscher aus Protest ihre Arbeit.

Auch wenn die Regionalwahlen nun den Unmut der Bevölkerung widerspiegeln: An der französischen Politik wird sich erst einmal nichts Strukturelles ändern. Es fand kein Machtwechsel im Land statt. Im Parlament verfügen die Konservativen immer noch über eine breite Mehrheit. Auch haben die neuen Regionalpräsidenten kein wirkliches politisches Gewicht. Sie treffen sich weder in einer Länderkammer, noch haben sie Befugnisse, um an der nationalen Politik mitwirken zu können. Dazu kommen die niedrigen Budgets der Regionen, die eine merkliche Einflussnahme zusätzlich erschweren.

Mit 13 Milliarden Euro steht den Regionen ein Bruchteil des nationalen Budgets von 200 Milliarden Euro zu Verfügung. Die geringen finanziellen Mittel müssen entsprechend klug eingesetzt werden, um Wirkung zu zeigen. Daneben sind die Kompetenzbereiche der Regionalräte stark beschränkt. Als wichtigstes Instrument können sie versuchen, mittels regionaler Wirtschaftsförderung Akzente zu setzen. Begrenzter Einfluss kann auch in der Bildungspolitik ausgeübt werden, etwa beim Bau und der Ausstattung von Gymnasien. Im Übrigen bleiben den Regionalfürsten aber nur die klassischen Verwaltungsaufgaben - teilweise die Verkehrsplanung und gewisse Spielräume in kulturellen Angelegenheiten. Im Rahmen ihres geplanten Dezentralisierungsprojektes will die Regierung Raffarin den Regionen zwar weiterhin inhaltlich mehr Kompetenzen zubilligen, doch werden die nun überwiegend roten Regionalpräsidenten kein Extrageld dafür bekommen.

In der Not schart Chirac die letzten Freunde

Überhaupt wird Präsident Chirac einige Konsequenzen ziehen müssen. Direkt nach der Wahl sprachen sich bereits mehr als die Hälfte der Franzosen für den Austausch des farblosen Premiers Raffarin aus. Aus parteitaktischen Gründen hat Chirac dies bislang noch nicht gewagt. Zumindest bis zur Europawahl wird die willige Marionette im Amt bleiben. Doch auch ein Austauschen des Regierungschefs wäre nur eine Schönheitskorrektur. Nur 19 Prozent der Bevölkerung wollen die Regierung behalten. Als Reaktion auf die Niederlage holte Chirac jedoch nur 18 neue Mitglieder in das Kabinett von 43 Ministern und Staatssekretären. Allein bei der Ressortverteilung kam frischer Wind in die Regierungsreihen. So wurde der Law-and-order-Mann Nicolas Sarkozy vom Posten des Innenministers auf den des Wirtschafts- und Finanzministers gehoben. Ex-Außenminister Dominique de Villepin übernahm das Innere. Parteilose Ressortchefs wie der für die Wirtschaft zuständige Francis Mer oder sein Kollege Luc Ferry als Bildungsminister wurden ausgetauscht. In Zeiten der Not schart Präsident Chirac nur noch Getreue aus der eigenen Partei um sich. Allein der Verkehrsminister Gilles de Robien von der UDF kommt aus einer anderen Partei.

Chirac und der frech-forsche Minister

Im Lager der Konservativen bricht der Kampf um die Präsidentschaftskandidatur 2007 jetzt vollends aus. Als einziger Minister ist der ständige Querulant Sarkozy gestärkt aus den Wahlen getreten. Er lässt bereits seit einiger Zeit offen erkennen, dass er in drei Jahren Chirac beerben möchte. Bei den Regionalabstimmungen trat er zwar nicht an, wurde jedoch bei den gleichzeitig stattfindenden Kantonalwahlen mit 80 Prozent der Stimmen gewählt. Aus eigener Kraft konnte Sarkozy so sein Gewicht verstärken, muss sich nun jedoch gegen die Granden in der UMP durchsetzen. Präsident Chirac kanzelt den frech-forschen Minister regelmäßig ab. Allerdings scheint sein Wunschkandidat für die Nachfolge, Alain Juppé, bereits aus dem Rennen zu sein. In einer Bestechungsaffäre wurde er von einem Gericht für schuldig gesprochen und darf für zehn Jahre nicht mehr bei Wahlen antreten. Nun versucht Chirac seinen zweiten Vertrauensmann, Ex-Außenminister de Villepin in Stellung zu bringen. Doch nicht nur die personellen Konkurrenzkämpfe schwächen die Regierungspartei. Wie verheerend die Wahlen für die Rechten waren zeigt sich vor allem daran, dass seit dem 28. März viele neue Bewegungen innerhalb der UMP entstanden sind. Diese Entwicklung mit aggressiven Flügelkämpfen erinnert stark an die Selbstzerfleischungsphase der PS nach den verlorenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2002.

Entsprechend trotzig kam Chiracs Antwort nach den Wahlen. "Je vous ai compris - ich habe euch verstanden", trompetete der Staatschef seinen Bürgern in de Gaullscher Manier zu. Schwerpunkt der Regierungsarbeit werde in Zukunft die "soziale Wende" sein. Ein Versprechen, das er bereits im Wahlkampf 1995 gegeben hatte und sieben Jahre später im Duell mit Le Pen wiederholte. Nun wird er an der Einlösung der Zusage gemessen werden.

Auch Premier Raffarin kündigte vor der Nationalversammlung Kurskorrekturen an. So sollen 550 Stellenstreichungen in der Forschung wieder rückgängig gemacht und an den Universitäten gar 1.000 neue Stellen geschaffen werden. Auf der anderen Seite zeichneten die UMP-Verantwortlichen für die nächsten Monate bereits einen strammen neoliberalen Kurs vor. Die Privatisierungspolitik soll beschleunigt werden. Bei den noch staatlichen Strom- und Gasversorgern EDF und GDF soll schnellstmöglich privates Kapital eingebracht werden. Zudem kündigte Chirac trotz eines Rekorddefizits in der Staatskasse neue Steuersenkungen an. Damit er die Reform der Sozialversicherungen, bei denen ein Fehlbetrag von 32 Milliarden Euro aufgelaufen ist, in den Griff bekommt, will der Präsident eine "Union Nationale" starten. In der Art des deutschen Bündnisses für Arbeit sollen sich alle Sozialpartner wie Gewerkschaften und Opposition gemeinsam über Wege aus der Misere einigen.

Linke Opposition ohne Projekt

Genau hier liegt die taktische Tücke für die linke Opposition. In der Sozialpolitik klaffen beide Lager um Längen auseinander. Bei den Sozialreformen einen Kompromiss zu finden, wird erst einmal sehr schwer sein. Zweitens würden dadurch aber die Alternativen für die nächsten Nationalwahlen verwischt. Ein strammer Gegenkurs zur Regierung hat in den seltensten Fällen unzufriedene Wähler abgeschreckt. Die Linken müssen sich für den zukünftigen Erfolg also eher profilieren, als sich an die Leine der Regierenden nehmen zu lassen.

Der jetzige Sieg ist dem Oppositionslager in den Schoß gefallen. Auf Seiten der Sozialisten gab es weder ein klares Programm, noch ein Gesamtkonzept für eine zukünftige Politik. Dafür waren die Sozialisten viel zu sehr damit beschäftigt, Wege aus der politischen Wüste zu suchen, in die sie vor zwei Jahren gerieten. Mit dem Erfolg bei den Regionalwahlen befinden sie sich heute in einer bequemen Situation. Von dem Sieg in den Regionen wird das Handeln in Paris nicht großartig beeinflusst werden. Ein eventuelles Scheitern der eigenen Politik in der Provinz bleibt für die Masse der Wähler zudem eher unsichtbar. Die Linken können also in den kommenden zwei Jahren weiterhin die knallharte Oppositionskarte spielen, obwohl sie in der Provinz in die Regierungsverantwortung gelangt sind.

Die Meinung der Bevölkerung? Nebensache!

Außerdem sind die neuen Regionalchefs fast sämtlich Hinterbänkler. Keiner der Granden aus der ersten Reihe, weder Laurent Fabius noch Dominique Strauss-Kahn, Bernard Kouchner oder Henri Emmanuelli gehören zu den neuen Regionalpräsidenten. Einzig "Zapatera" Royal spielt zukünftig auf zwei Ebenen - in der Regierung auf dem Lande und in der Opposition auf nationaler Ebene. Vor allem sie hat an politischem Gewicht gewonnen und gehört nun zum engen Kreis der Anwärter für die Präsidentschaftskandidatur der Sozialisten. Bis dahin ist nun aber erst einmal ihr Ehemann Hollande gefragt. Er muss als Parteichef ein Programm ausarbeiten, was er für 2007 bereits versprochen hat. Der Erfolg an der Urne hat die Sozialisten also motiviert, nun Inhalte zu schaffen.

Auf dieser Basis kann dann die entscheidende Frage geklärt werden: Wie soll der nächste Präsidentschaftskandidat heißen? In einer Umfrage von Canal IPSOS haben sich Anfang April 71 Prozent der Befragten bereits für Royal ausgesprochen, gefolgt von Jospin, dem Pariser Bürgermeister Betrand Delanoë und Parteichef Hollande. Eventuell ist die Meinung der Bevölkerung und der Sozialistenbasis aber völlig nebensächlich. Wenn es nämlich zu einem familieninternen Duell kommen sollte. Für den Fall hat sich das Ehepaar Royal-Hollande bereits festgelegt: "Das sollen unsere Kinder entscheiden."

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