Keile in der transatlantischen Brücke

Die Situation ist da. Neue Bedrohungsszenarien und unterschiedliche Wahrnehmungsmuster auf beiden Seiten des Atlantiks entziehen der Nato ihre einstige Bedeutung. Jetzt muss sich Europa auch verteidigungspolitisch von Amerika emanzipieren

Vor 15 Jahren wäre ein außenpolitischer Prophet, der die gegenwärtige politische Weltlage vorhergesagt hätte, als Spinner bezeichnet worden. Was wir heute in den internationalen Beziehungen erleben, scheint jeder Logik der lange exerzierten Westintegration zu spotten. In der zentralen Frage eines möglichen Irakkrieges gibt es wieder zwei Lager. Neu ist nur, dass die Grenzen zwischen diesen "Meinungsblöcken" nun scheinbar irrational durch die Welt verlaufen. Auf der Seite der Kriegsbefürworter scharen sich alte Verbündete wie die Vereinigten Staaten und Großbritannien mit neuen Freunden aus dem ehemaligen Warschauer Pakt. Die fragile Koalition der Kriegsgegner reicht von den Altverbündeten Deutschland und Frankreich über Russland bis nach China.


Die Irakfrage zeigt vor allem, dass sich die internationalen Beziehungen grundlegend verändern. Alte Bündnisbindungen verlieren zunehmend an Bedeutung. Mit jeder neuen Frage, die die Weltgemeinschaft beschäftigt, werden auch die politischen Würfel neu geworfen. Eine intelligente Außenpolitik müsste jedoch versuchen, zumindest den eigenen Standort und die eigenen langfristigen Ambitionen zuverlässig zu bestimmen. Diese Aufgabe stellt sich in besonderem Maße der Bundesregierung und ihren europäischen Partnern.


Für Deutschland, gleichzeitig aber auch die Europäische Union ist die momentane weltpolitische Lage alles andere als vorteilhaft. Auf beiden Seiten des Atlantiks werden immer weitere Keile in die transatlantische Brücke getrieben. Dabei müsste gerade zwischen Europa und den Vereinigten Staaten ein größtmöglicher Konsens bestehen, was Werte und Ideale ihrer jeweiligen Außenpolitiken anbelangt. Immerhin sind sich die beiden Partner diesseits und jenseits des Atlantiks prinzipiell darin einig, dass sie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte in der Welt befördern wollen. Als jeweiliges nationales beziehungsweise europäisches Interesse sehen es zudem beide Seiten an, die Sicherheit ihrer modernen Gesellschaften gegen militärische und terroristische Bedrohungen zu gewährleisten. Allein was die Wahl der geeigneten Instrumente dafür betrifft, gibt es einen Dissens. Hierbei hat die legitime europäische Ablehnung der amerikanischen Instrumente in der Irakfrage schwerwiegende Konsequenzen auf die beiderseitigen Beziehungen. Für die Vereinigten Staaten scheint Europa zu einem unkontrollierbaren, teils antiamerikanischen Verbündeten geworden zu sein. In Europa wird die militante Position der amerikanischen Regierung und deren brachiale Durchsetzung als machtpolitische Arroganz wahrgenommen. In Deutschland und Frankreich findet ein Prozess der Emanzipation von der amerikanischen Vormundschaft statt.

Die Nato im verzweifelten Todeskampf

Als Konsequenz lassen sich mehrere Entwicklungen beobachten. Vor dem Hintergrund neuer Bedrohungsszenarien verliert die Nato mehr und mehr an Bedeutung. Gezeigt hat sich dies in einem ersten Schritt bei der Ausrufung des Bündnisfalls nach dem 11. September 2001, der in seiner militärischen Wirkungslosigkeit eher den Anschein von Aktionismus erweckt hat. Zuletzt wurde sogar die Solidarität innerhalb des Bündnisses in Frage gestellt, als über die Unterstützung der Türkei mit Patriot-Abwehrraketen Uneinigkeit bestand. Eine Zukunft kann die Nato nur als lose, aber wirkungsvolle Sicherheitsklammer haben. Ihre militärischen Komponenten müssen sämtlichen Mitgliedern in kurzfristigen Koalitionen auch autonom zur Verfügung stehen. Zumindest in ihrer jetzigen Form kämpft das Atlantische Bündnis jedoch einen verzweifelten Todeskampf.


Nicht viel besser steht es um die jüngsten Entwicklungen in der Europäischen Union. Nachdem die Phalanx der osteuropäischen Neu-Mitglieder gemeinsam mit den Schwergewichten Großbritannien, Spanien und Italien ihre transatlantische Nibelungentreue versicherte, scheint die innereuropäische Solidarität aufgebrochen worden zu sein. Der deutsch-französische Führungsanspruch wird zurückgewiesen. Damit ist erst einmal auch die Perspektive einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in weite Ferne gerückt. Dabei wäre es gerade eine "echte" ESVP, die die momentanen Probleme der Europäer lösen könnte. Die außenpolitische Zersplitterung der EU muss in einen gegenteiligen Prozess gewandelt werden. Die Mitgliedsstaaten der EU können nur durch Gemeinsamkeit gewinnen.

Autonomie nur durch Abgrenzung

Hier setzt die Überlegung des deutschen Bundeskanzlers an, der eine "europäische Souveränität" einforderte. Dies ist keine neo-gaullistische Idee in sozialdemokratischem Gewand. Vielmehr hat die deutsche Seite hier erkannt, dass ein gewisses Maß an außenpolitischer Autonomie nur durch die europäische Karte und dabei in einer gewissen Abgrenzung von den Vereinigten Staaten erreicht werden kann. Diese Logik geht von einer multipolaren Weltordnung aus, in der es nicht nur einen dominanten Pol - nämlich Amerika - geben kann. Dafür muss Europa aber mit einer Stimme sprechen. Die Vorteile wären immens und lägen in jedem Fall immer im deutschen Interesse.


Wenn es den Europäern ernst ist mit dem Willen, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) zu schaffen, dann müssen sie endlich einige entscheidende Schritte unternehmen. Die GASP respektive ihre Untereinheit ESVP ausschließlich als zwischenstaatliche Politik zu betreiben, ist wenig sinnvoll. Vielmehr müsste dieser ganze Politikbereich einen "Doppelhut" bekommen. Sowohl der Europäische Rat, als auch die Europäische Kommission brauchen Kompetenzen im Bereich der Außenpolitik. Die EU steht hierbei für einen doppelköpfigen Ansatz. Die Europäer räumen militärischer Gewalt nicht den überragenden Anspruch ein, wie dies die Amerikaner tun. Vielmehr konkurrieren hier Ansätze der Krisenprävention gleichberechtigt mit militärischen Einsätzen. Letztere können aber stets nur eine ultima ratio sein. Diesen Ansatz gilt es zu vertiefen. Die Kommission muss für die zivile Konfliktprävention verantwortlich sein. Allerdings bräuchte sie hierfür noch einige Kompetenzen - wie etwa die Entscheidungsgewalt über europäische Polizeieinsätze. Für die militärische Seite sollte der Europäische Rat weiterhin verantwortlich bleiben. In der kommenden Verfassung der EU sollte zudem der Beistandsartikel (Artikel V) aus dem Nordatlantischen Bündnis stehen. Damit die territoriale Unversehrtheit der EU-Staaten auch in Zukunft gesichert bleibt, muss der Europäische Rat mit eigenen militärischen Kapazitäten ausgestattet werden.

Langfristig braucht die EU eine echte Armee

Die schnelle Eingreiftruppe der EU kann nur ein erster Schritt sein. Eine ähnliche Entwicklung muss für die Gesamtheit der Streitkräfte begonnen werden. Warum gibt es in der EU immer noch 15 verschiedene Armeen mit einigermaßen gleichen Ausrüstungsprofilen? Eine Spezialisierung im europäischen Rahmen würde hier erhebliche Vorteile bringen. Langfristig kann nur eine wirkliche EU-Armee, die im Ernstfall schnell zu mobilisieren wäre, den außenpolitischen Anspruch der Union sicherstellen. Denkbar wäre hierfür eine Spezialisierung der verschiedenen nationalen Armeeteile. Als erster Schritt in diese Richtung kann die Schaffung eines binationalen Verbundes von Flugzeugträgern gesehen werden, wie diesen in einem vorsichtigen Versuch zuletzt die Franzosen und Briten angedeutet haben. Andere nationale Streitkräfte würden wiederum ihre speziellen Stärken in die EU-Armee einbringen. So könnten die Deutschen einen Großteil der Waffentechnologie für das Heer stellen.

Wie Europa sein Geld verschleudert

Dass derartige Entwicklungen absolut notwendig sind, zeigt sich wie so oft am eindeutigsten beim Geld. Gemeinsam geben die EU-Staaten 170 Milliarden Euro jährlich für ihre Verteidigung aus. Das sind zwar nur etwa 45 Prozent der amerikanischen Ausgaben. Allerdings stellt die Summe durchaus einen ordentlichen Batzen Geld dar. Dennoch gibt es ständig Stimmen, die nach einer Erhöhung der Verteidigungsbudgets schreien. Die ist aber überhaupt nicht notwendig. Es muss nicht mehr ausgegeben werden, sondern die vorhandenen Mittel müssen effizienter eingesetzt werden. Das ist man immerhin auch den Steuerzahlern schuldig. Tatsächlich nehmen Experten in der EU für Europa gerade einmal fünf bis zehn Prozent der amerikanischen Militärkraft an.


Würde die EU wirklich über 45 Prozent der militärischen Fähigkeiten der USA verfügen, bräuchte sich niemand über die europäischen Streitkräfte Sorgen zu machen. Schäbiges Material und überflüssige Ausrüstung gehörten in Europas Streitkräften schnell der Vergangenheit an. Das Problem der Europäer ist, dass ihr Geld in hohem Maße verschleudert wird. Teuer werden Waffen vor allem, wenn sie in kleinen Stückzahlen produziert werden. Aber warum braucht man in der EU drei verschiedene Kampfjet-Programme? Die Amerikaner haben nur eines. Warum brauchen die Europäer vier verschiedene Panzertypen? Auch hier reicht den Amerikanern einer. Die Liste könnte beliebig weiter fortgesetzt werden. Auch die national isolierten Rüstungsunternehmen - oft unwirtschaftliche Staatssubventionsbetriebe, die zudem nicht einmal die neusten Waffentechnologien produzieren können - tragen ihren Anteil zu den besonders hohen Kosten bei. Deshalb muss der Artikel 296 im EG-Vertrag restlos gestrichen werden. So würde auch im Bereich der Verteidigungsindustrie Wettbewerb stattfinden. Nationale Regierungen könnten ihr Geld nicht mehr der effizientesten Lösung verweigern.

Legitimität durch Selbstkontrolle

Gleichzeitig muss sich die Europäische Union auf gemeinsame Waffensysteme für ihre Streitkräfte einigen, die dann am besten auch von einer einzigen EU-Institution beschafft werden. Am sinnvollsten wäre hier eine Europäische Beschaffungs- und Rüstungsagentur (EBRA). Diese muss die gemeinsame Rüstungsplanung und auch die anschließende Beschaffung sicherstellen. Dafür sollte sie über ein gemeinsames Budget für die Union verfügen. Nur so können aus einem Topf die gleichen Waffen zu einem besseren Preis und in sinnvollerem Umfang angeschafft werden. Auch für die militärischen Forschungs- und Technologie-Aufwendungen wäre die EBRA verantwortlich, damit auch die EU wieder über neueste Waffentechnik verfügen kann. Immerhin ist diese Voraussetzung für Kampfeinsätze mit einer möglichst geringen Zahl von Opfern - vor allem ziviler.


Ziel der Europäischen Union muss es sein, auf lange Sicht zu einem gleichberechtigten Partner der Vereinigten Staaten in der Welt zu werden. Nur so können die Europäer erreichen, dass ihre ureigenen Interessen in ausreichendem Maße berücksichtigt werden. Dies darf nicht ein Wettlauf zwischen Europa und Amerika um die politische Führerschaft in der Welt bedeuten. Vielmehr müssen sich die beiden Supermächte in einem gesunden Maße gegenseitig kontrollieren und würden damit in der westlichen Welt eine gewisse balance of powers sicherstellen. Durch diese Selbstkontrolle würde der Westen auch eine größere Legitimität in der übrigen Welt erfahren.


Zu einem außenpolitischen Schwergewicht kann die EU aber nur werden, wenn sie auch über entsprechende militärische Fähigkeiten und klare Entscheidungswege verfügt. Wie aber müsste ein Europa der Verteidigung strukturiert sein? An der Spitze sollte ein "Verteidigungs-Solana" stehen, also ein Hoher Repräsentant der EU für Verteidigungsfragen, der dem Ratssekretariat zugeordnet werden könnte. Dieser stünde als Partner des Europäischen Rates für eine kohärente europäische Sicherheitspolitik. Damit er seine Aufgabe erfolgreich ausüben kann, müsste er sich auf ein europäisches Verteidigungsministerium stützen können, das zum Beispiel jeweils mit einem Anteil von zehn Prozent der verschiedenen nationalen Ministerien bestückt würde. Also nur die Spitze dieses europäischen Verteidigungsministeriums säße auf EU-Ebene. Die restlichen 90 Prozent des Personals würden auf die Mitgliedstaaten verteilt bleiben, wo sie etwa die Spezialisierung der nationalen Armeeteile innerhalb der EU-Armee überwachen müssten.

Ideale und Instrumente

Denkbar wäre auch für besonders sensible politische Entscheidungen, etwa über einen Kriegs- oder prinzipiellen Militäreinsatz, auf der EU-Ebene einen europäischen Sicherheitsrat einzurichten. Dieser würde sich aus dem Präsidenten der Kommission, dem noch zu schaffenden Präsidenten des Europäischen Rates, den beiden Hohen Repräsentanten sowie den für die verschiedenen Sicherheitsfragen verantwortlichen Kommissaren oder Ministerrats-Vorsitzenden zusammensetzen. In jedem Fall würde die Europäische Union so eine stringente und starke Sicherheits- und Verteidigungspolitik verfolgen können. Und dass gerade diese notwendig ist, zeigt das momentane außenpolitische Chaos. Nur durch Gemeinsamkeit in der ESVP können sich die Bürger Europas auch in Zukunft ausreichend geschützt fühlen. Und eines würde die Europäische Union mit diesen Schritten auch zeigen: dass ihre Außenpolitik auf einem festen Grund geführt wird, mit Idealen und ausgewogenen Instrumenten.

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