Der den Unterschied gemacht hat

Ohne den Ausnahmemenschen Winston Churchill hätte Hitler gewonnen. Boris Johnson hat Churchills Leben und Leistung nahezu kongenial beschrieben

Braucht die Welt noch ein Churchill-Buch? Unbedingt! Und zwar genau dieses! Zum 50. Todestag hat der überaus witzige, kontroverse, konservative Londoner Bürgermeister Boris Johnson das Lebensabenteuer des größten Briten aller Zeiten sehr unterhaltsam nacherzählt. Wie er das neben seinen Amtsgeschäften in dieser Ausführlichkeit und Recherchedichte geschafft hat, bleibt Johnsons Geheimnis. Jedenfalls: Wer noch nie etwas Substanzielles über Churchill gelesen hat, lese dieses Buch! Es eignet sich auch sehr gut als Geschenk. Soweit der Werbeblock.

Winston Churchill (1874 – 1965) ist die demokratische Symbolfigur des schrecklichen 20. Jahrhunderts mit seinen verheerenden Weltkriegen und totalitären Todesregimen. Er hielt mehr als ein halbes Jahrhundert lang Reden im britischen Unterhaus, war Starjournalist und Bestsellerautor, Offizier und Marineminister, Innenminister, Kolonialminister, Schatzkanzler, zwei Mal Premierminister. Er ist der Mann, der vor Hitlers Krieg warnte, als noch „Appeasement“ angesagt war. Er ist der Regierungschef einer Allparteienregierung, als Großbritannien von Juni 1940 bis Juni 1941 ganz allein gegen das von den Nazis besetzte Europa steht. Die Insel überlebte die Luftschlacht um England; dann überfiel Hitler Stalins Sowjetunion, die Japaner erklärten mit ihrem Angriff auf Pearl Harbour Amerika den Krieg. Und endlich gab es wieder Alliierte.

Bemerkenswert an der Allianz, die den Krieg gegen Nazi-Deutschland entschied, ist, dass allein Großbritannien aus eigener Entscheidung gegen den Diktator und Aggressor zu Felde zog – mit der Kriegserklärung nach Hitlers Überfall auf Polen. Das war Churchills Verdienst. Die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten wurden erst militärische Verbündete, als Hitler ihnen den Krieg erklärt hatte. Der in Churchills zwölf Memoirenbänden über den Zweiten Weltkrieg dokumentierte Briefwechsel mit Präsident Franklin Roosevelt zeigt, wie schwer die Amerikaner damals zu bewegen waren, die Freiheit unterdrückter Völker mit Waffengewalt wiederherzustellen.

Johnson ist genau der richtige Biograf

Boris Johnson ist ein nahezu kongenialer Biograf für den Ausnahmemenschen Churchill. Das ergibt sich schon aus den vielen faszinierenden Ähnlichkeiten in den Lebensgeschichten der beiden Männer. Beide hatten bis zu einem gewissen Grad unter den Leistungserwartungen ambitionierter Eltern zu leiden. Beide sind sprachbegabt, kämpfen aber mit der Mathematik. Beide sind viel beschäftigte Politiker und Publizisten. Beide verdienen unverschämt viel Geld mit ihren Schriften. Beide polarisieren: Churchill wird sein opulenter Lebensstil vorgeworfen, das ungehemmte Rauchen, Essen und Trinken; seine Scharfzüngigkeit; seine mitunter abenteuerlichen politischen und militärischen Manöver, sein (angeblicher) Rassismus. Über Boris Johnson schreibt seine Biografin Sonia Pernell, wenn man ihn nicht liebe, halte man ihn „entweder für böse, für einen Clown, für einen Rassisten oder für einen bigotten Typen mit Doppelmoral“. Beide Männer leiden unter solchen Zuschreibungen, auch wenn sie ihrerseits jederzeit hart austeilen. Beide sind keine „zuverlässigen“ Parteipolitiker: Churchill verlässt sogar zeitweise die Tories und wechselt zu den Liberalen. In der Sozialpolitik ist er seinen Toryfreunden weit voraus. Johnson bedient zwar konservative, euroskeptische Positionen, tritt aber in gesellschaftspolitischen Fragen, etwa bei Schwulen- und Minderheitenrechten oder der Cannabis-Freigabe, durchaus liberal auf.

Beide sind Sprachkünstler, Meister der schnellen, witzigen Erwiderung oder des herzergreifend pathetischen Zitats. Johnson liebt Churchills Formulierung zur Leistung der britischen Luftwaffe im „Battle of Britain“ im August 1940: „Never in the field of human conflict has so much been owed by so many to so few.“ Er preist den Satz als „sofort unvergesslich, rhythmisch perfekt, eine klassische rhetorische Figur“.

Wie hat Churchill das alles geschafft?

Ähnlich geht es ihm mit einer Zeile aus der Churchill-Rede zum britischen Sieg von El Alamein 1942: „Now this is not the end. It is not even the beginning of the end. But it is, perhaps, the end oft the beginning.“ Gänsehaut-Stoff für den Zuhörer, fürwahr. Unglaublich, aber anders wundervoll natürlich auch Churchills Bemerkung: „I have taken a lot more out of alcohol than alcohol has taken out of me.“ Das schreit bis heute nach Motto-T-Shirts.

Churchill habe gern neue Worte erfunden, so wie „Gipfeltreffen“ oder „Eiserner Vorhang“, schreibt Johnson; und tut das dann selbst mit großer Freude, um seinerseits Churchill gerecht zu werden. Der habe Neville Chamberlain wegen dessen Appeasement-Politik permanent „gemonstert“; der arme Lord Halifax, Churchills Rivale um das Amt des Premierministers, sei das Opfer monatelanger „Charakter-Attentate“ geworden. Welcher deutsche Politiker, genau besehen: welcher deutsche Journalist liebt die Sprache, spielt so mit ihr, lässt Pathos und Humor derart ihren Raum?

Johnson ist sich dabei absolut im Klaren, dass er selbst (obwohl zeitweise gleichzeitig Unterhausabgeordneter, Herausgeber der Zeitschrift Spectator und Kolumnist, oder später Abgeordneter, Kolumnist und Londoner Bürgermeister) nicht an die gewaltige Schaffenskraft und den politischen Weitblick Churchills heranreicht. Das ist es auch, was ihn umtreibt: Wie hat Churchill das alles geschafft? Er hat mehr geschrieben als William Shakespeare und Charles Dickens zusammen (und dafür den Literaturnobelpreis bekommen). Was war sein Treibstoff?

Johnsons eigene Erfahrungen mit Öffentlichkeit und politischer Verantwortung lassen ihn immerhin recht nah herankommen an den eigenartigen Mix aus Selbstüberwindung, Mut, Humor, Großherzigkeit, Größenwahn, galaktischem Ego, Selbstironie und Gespür für die historische Situation, der den „Churchill-Faktor“ ausmacht. Und der ihn, Johnson, am Ende zu seiner zentralen These führt: dass Geschichte eben doch nicht immer, wie es heute gern gesehen wird, nur eine große anonyme Abfolge sozialer Entwicklungen, ökonomischer Bedingungen und technischen Fortschritts ist. Sondern dass es doch auf einzelne Menschen ankommt. In Hitlers und Stalins Fall zum Bösen – in Churchills Fall zum Guten der ganzen westlichen Welt. „Er, und er alleine, hat den Unterschied gemacht“, lautet Johnsons Fazit.

Boris Johnson, Der Churchill-Faktor, Stuttgart: Klett-Cotta Verlag 2015, 472 Seiten, 24,95 Euro


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