Meine Hassliebe zur SPD

Wer sich anstrengt und sich selbst verbessern will, muss dazu alle erdenkliche Hilfe bekommen - das ist die große Idee der Sozialdemokratie. Doch ihre Wirklichkeit ist allzu oft geprägt durch Herablassung, Realitätsverweigerung und Plastiksprache

Als Studentin arbeitete ich eine Zeitlang im Landtag von Schleswig-Holstein. Im Nachbarbüro saß eine, nun ja, etwas dumme SPD-Abgeordnete. Ich weiß, es ist nicht nett, so etwas zu sagen. Aber sie war wirklich ziemlich beschränkt in ihrer Weltsicht. Das war aber gar nicht schlimm: Im Prinzip kann jeder Vollpfosten im Landtag sitzen, über Leben und Tod wird dort nicht entschieden. (Wobei ich mich im Rückblick schon frage, ob sie gar keine Gegenkandidaten gehabt hatte.)

Anyway, was ihren Mitarbeiter so an ihr störte, dass er sich ständig bei mir ausjammerte, war nicht die Dummheit seiner Chefin – sondern ihre Überheblichkeit. Ihre Herablassung gegenüber „Bürgern“ und „einfachen Genossen“, wie sie zu sagen pflegte. Ihr unerträglicher sozialdemokratischer Spiegelstrich-Sound, der immer nur so klang, als ob sie argumentiere. Ihre Art, Gremienkungelei für das echte Leben zu halten. Ständig belehrte sie Leute über Dinge, von denen die Belehrten mehr verstanden als sie. Mein Mit-HiWi schrieb für sie kleine, harmlose Artikel für Stadtteilzeitungen. Sie sagte: „Das verstehen die Menschen nicht.“ Und schrieb die Texte um, in einer sprachlichen Mischung aus Duziduziduzi und Juso-Leitantrag. Ich glaube heute, sie verkörperte einen Gutteil der sozialdemokratischen Langzeitprobleme, die der Partei derzeit so zu schaffen machen.

Ich würde gern mal in die SPD eintreten oder so

Ich möchte noch einen anderen Schwank aus meiner sozialdemokratischen Jugend erzählen, der vielleicht ein anderes Langzeitproblem illustriert. Es war im Herbst 1986, als ich mit 19 Jahren in die SPD eintrat. Oder richtiger: Als ich versuchte, in die SPD einzutreten. Das war nämlich gar nicht so leicht. Niemand hatte mich für die sozialdemokratische Idee begeistert oder mich zum Parteieintritt gedrängt. Ich schwärmte auch nicht für eine sozialdemokratische Führungsfigur. Nein, ich hatte mich irgendwie davon überzeugt, dass die SPD die Partei derjenigen sei, die etwas für andere tun wollten. Das fand ich gut. Die CDU indes kam mir wie eine Partei vor, die sehr darauf pochte, was ihren Anhängern zustand. Das mochte ich nicht so.

Ich studierte im ersten Semester an der Universität meiner Heimatstadt Kiel. Und ich hatte immerhin mitbekommen, dass der Allgemeine Studentenausschuss (AStA) dieser großen und verwirrenden Bildungsstätte von den Jusos geführt wurde. Also, folgerte ich messerscharf, müsste es doch bei diesen AStA-Jusos ein Aufnahmeformular für die SPD geben, deren Jugendorganisation sie ja schließlich waren. Ich begab mich in die Räume der Studentenvertretung, die in einem kompromisslosen Betongebäude des Studentenwerks untergebracht waren. Trotz meiner bürgerlichen Erziehung konnte ich schon von außen sehen, dass Anklopfen hier wohl nicht nötig sein würde: Die Tür zum AStA-Büro war über und über mit Aufklebern bedeckt, die für verschiedene gute Sachen warben (Feminismus, Frieden, Waffen für Nicaragua) oder sich gegen schlechte Sachen wandten (Krieg, die Landesregierung, Biotechnologie).

Ich trat ein. Durch den Zigarettenrauch erkannte ich schemenhaft einige Eisenregale mit Leitzordnern und eine Anzahl von Schreibtischen, auf denen unfassbares Chaos zu herrschen schien. Papierstapel türmten sich in gefährlicher Schieflage, dazwischen volle Aschenbecher, Kaffeetassen und mehrere Schreibmaschinen (für die Jüngeren unter uns: Es war die Zeit, als Flugblätter getippt und fotokopiert wurden, also nach Matrizen, aber vor Computern). Erst als es sich bewegte, bemerkte ich ein – wahrscheinlich – männliches Individuum in Jeans, einem extrem ausgeleierten Sweatshirt und mit Birkenstocksandalen an den Füßen, die in grob gestrickten Wollsocken steckten. Ich wusste in dem Moment noch nicht, dass dies die informell vorgeschriebene Dienstkleidung aller Jusos an der Hochschule war – und ich ahnte nicht im Entferntesten, dass ich später mehrere höchst prägende Jahre meines Lebens selbst in diesem Look herumlaufen sollte. Das Individuum (wie sich später herausstellte der AstA-Referent für politische Bildung) wandte mir einen durchaus freundlichen Blick zu, sagte aber nichts.

„Tja“, sagte ich, „also ich studiere im ersten Semester und ich würde, also, ich würde gern mal in die SPD eintreten oder so, und ich frage mich, ob ihr da ein Eintrittsformular für mich habt vielleicht …?“ Diesen grammatikalisch sicher nicht viel versprechenden, aber aus Parteisicht doch eigentlich erfreulichen Satz hätte man nun auf vielerlei Weise beantworten können. Zum Beispiel mit: „Das ist ja super. Wie heißt du denn, ich bin der Jochen“. Oder mit: „Willst du einen Kaffee?“ Oder: „Hast du politisch schon mal was gemacht? Wofür interessierst du dich denn?“ Oder: „Die Juso-Hochschulgruppe trifft sich immer mittwochs um 19 Uhr, komm doch einfach mal vorbei!“ Oder so. Was das Individuum tatsächlich sagte, war: „Glaub’ ich nicht, dass wir eins da haben.“ Dann versank es wieder in Schweigen. „Ja, aber könntest du mir eins besorgen?“ fragte ich: „Könnte ich irgendwann wiederkommen und es abholen?“ Pause. „Kannst ja nächste Woche noch mal nachfragen“, sagte der Referent für politische Bildung.

Ökosozialismus und Forschungskontrolle

Liebe Sozis, nur damit ihr das mal wisst: Mir ist man nicht mit Mentoring-Programmen für junge Frauen oder mit Schnuppermitgliedschaften hinterhergerannt! Ich wollte wirklich freiwillig und von mir aus in die SPD eintreten. Ich kam nicht einmal wieder. Ich kam nicht zweimal wieder. Ich kam dreimal wieder, bis mir der Referent ein zerknittertes, winziges Formular überreichte, das offenbar, allerdings recht akkurat, aus einer Juso-Zeitung ausgerissen worden war. (Die Adresse der SPD suchte ich mir nach dem Ausfüllen aus dem Telefonbuch heraus.) Nachdem ich das Aufnahmeersuchen abgeschickt hatte, geschah erst einmal nichts. Dann geschah noch etwas weiter nichts, und dann kam eines Tages ein älterer Mann in einem kurzärmeligen Hemd bei mir zu Hause vorbei, stellte sich als Kassierer meines Ortsvereins vor und überreichte mir – mein Parteibuch! Es war rot, und es stand SPD drauf. Der Mann erklärte mir, wie viel Beitrag ich als Studentin mindestens zahlen und wie ich das machen sollte. Mit Vorschlägen, was man denn in der SPD so tun könnte, belästigte er mich nicht.

Einige lustige Kommilitonen nahmen mich irgendwann mit zu einer liberalen Hochschulgruppe, wo es ziemlich interessante Diskussionen und noch bessere Partys gab. Da blieb ich erst mal ein Jahr lang. Auf die Dauer wurde mir aber klar, dass ich eines zu diesem Zeitpunkt vermutlich wirklich nicht war: ­liberal. Ich fand es schon richtiger, den armen Leuten, die es nicht besser wissen konnten, eindeutig zu sagen, wo es lang ging. Und so landete ich schließlich doch, und wieder aus eigenem Antrieb, bei der Juso-Hochschulgruppe, die sich tatsächlich mittwochs um 19 Uhr traf. In denkbar ungemütlicher, rauchgeschwängerter Atmosphäre saß man ohne jegliches Getränk im Besprechungsraum des AStA im Kreis. Die Szene war in das bleiche Licht einer einzelnen Neonröhre getaucht. Wer zu spät gekommen war, um eine der fragwürdigen Sitzgelegenheiten zu ergattern, musste sich an den Kopierer lehnen.

Aber trotz allem lauschte ich mit Verzückung den vielen älteren Jungs und den wenigen älteren Mädels, die hier über das „allgemeinpolitische Mandat“ diskutierten, über die „Doppelstrategie“ der Jusos, über die Unzulänglichkeiten der SPD, über Ökosozialismus und Forschungskontrolle und Friedenspolitik und Drittelparität in den universitären Gremien. Ich erkannte, dass die Welt beherrschbar war, weil es Worte gab, die bestimmten, wie sie sein sollte. Man musste nur über diese Worte verfügen, dann würde schon alles gut werden. Die Mehrheit der SPD-Funktionäre glaubt genau dies bis heute, und das ist ein Teil des tragischen Problems dieser schwierigen, wunderbaren Partei.

Ich lernte die Worte schnell. Die Juso-„Arbeit“ (Flugblätter tippen und verteilen, Pressemitteilungen schreiben für die Rundablage der Lokalzeitung und dergleichen) machte Spaß. Zwanzig Jahre lang habe ich die SPD seither beobachtet, gedanklich begleitet, mit Kollegen über sie gestritten, über sie geschrieben (eher selten) und einmal (mit schlimmem Ende) ein politisches Wahlamt für sie errungen.

Ich liebe die große Idee, für die sie einmal stand: Dass Menschen, die sich anstrengen und sich selbst verbessern wollen, dazu alle erdenkliche Hilfe bekommen müssen. Ich liebe das, was an der ältesten Partei der Welt bis heute anständig und aufrichtig und fürsorglich und menschlich ist. Ich verstehe ihre Rituale, und einen Teil davon mag ich auch.

Das Land braucht eine zurechnungsfähige SPD

Aber ich hasse ihre Realitätsverweigerung. Ihre Plastiksprache, die die Wirklichkeit weder beschreibt noch verändert. Ihr verlogenes Verhältnis zu Frauen. Ihr Nicht-Verhältnis zu Intellektuellen. Den dogmatischen Opportunismus ihrer Funktionäre. Die lächerlichen Folklore-Trümmer ihrer Parteiflügel. Christoph Hickmann hat das in der Süddeutschen Zeitung wundervoll beschrieben (in einem Artikel übrigens, der „Au weia“ hieß): „Parteitage sind eine Art sozialdemokratischer Mehrkampf, weil hier zwei oder drei Tage lang von der Vorsitzendendebatte über den Flügelstreit bis zum gemeinsamen Singen die wichtigsten sozialdemokratischen Kerndisziplinen in verdichteter Form zu absolvieren sind. Das klingt aufregender als es ist, weil auch der Parteitag, genauer: der Bundesparteitag, einem klaren Muster folgt. In den Wochen zuvor beginnt das Geraune, dieser Parteitag könne ‚kritisch‘ werden, es habe sich ‚Unmut‘ über dieses und jenes (meist über den Vorsitzenden) angestaut. Es gibt ein paar kritische Anträge, gegen den Freihandel an sich oder für ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen, aber am Ende läuft alles doch viel harmloser ab, weil ein Gremium namens Antragskommission die kritischen Anträge unschädlich gemacht hat.“

Wobei das vielleicht Unerträglichste auf Parteitagen diese 10-Minuten-stehend-Applause sind. Ja, sicher, die Presse stoppt das mit. Dann pfeift doch auf die Presse. Eine Minute ernst gemeinter Applaus sind gesünder als 10 Minuten Theater. Das gleiche gilt für den frenetischen Jubel, der im Willy Brandt-Haus noch bei 23-Prozent-Ergebnissen ausbricht. Und hört doch endlich auf, jede Niederlage schönzureden! Wenn die bundesweite Stimmung verheerend ist, werden immer die Ministerpräsidenten gelobt. Wenn zwei von drei Wahlen Katastrophenergebnisse bringen wie jüngst (Platz vier hinter der AfD!), ist garantiert nur noch von der einen Wahl die Rede, die geklappt hat.

Es ist auch nicht schön, auf den Koalitionspartner einzuhauen, bloß weil man selbst in Schwierigkeiten steckt. Wie es überhaupt viel zu oft (und viel viel zu oft bei dem Mann mit den Mundwinkeln) vorkommt. Auch der Begriff „die Schwatten“ aus dem possierlichen Putzfrauen-Dialog mit Sigmar Gabriel auf dem SPD-Wertekongress ist eigentlich wenig angemessen. Kein Mensch mehr hat ein so polarisiertes Weltbild. Naja, einige offenbar doch.

Ich hasse außerdem, wie sich die SPD darauf konzentriert, von ihr selbst definierte Verlierer zu bevormunden – ohne zu fragen, wie diese „Verlierer“ wohl von sich selbst denken. Ich hasse es, wie sie Methoden anbetet und Mitglieder- und Bürgerbeteiligung vortäuscht – aber dem Publikum am Wahlkampfstand ganz buchstäblich den Rücken zukehrt. Ich hasse es auch oft, wie meine Journalistenkollegen mit der SPD umgehen – denn eigentlich möchte ich doch gern, dass sie Erfolg hat.

Eigentlich glaube ich, dass eine zurechnungsfähige SPD zutiefst wichtig ist für die Demokratie in unserem Land. Mein Hass ist ganz schön anstrengend, und es erfordert sehr viel Liebe, ihn aufrecht zu erhalten und nicht einfach zu sagen: Ach, ist doch egal.

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