AfD im Osten: Üble Normalität oder krasser Dammbruch?

Auf den AfD-Triumph in Sachsen-Anhalt sollten Demokraten mit Klugheit und Umsicht reagieren. Weil die SPD im Osten alleine kaum noch kampagnenfähig ist, muss sie verstärkt den Schulterschluss mit den zivilgesellschaftlichen Aktivisten der Willkommensbewegung suchen

Der Schreck über das Wahlergebnis der AfD in Sachsen-Anhalt fiel überraschend klein aus. Dabei hatte ein Viertel der Wähler die rechtspopulistische Partei gewählt, in manchen Wahlkreisen sogar fast jeder Dritte. Viele scheinen eine einfache Rechnung aufzumachen: Die Menschen lehnen die Flüchtlingspolitik ab und wählen deshalb die AfD. „Normalisiert“ sich die Flüchtlingssituation (was auch immer das bedeutet), wird die AfD wieder abstürzen. Aber geht diese Rechnung wirklich auf? Oder wird unterschätzt, welche Folgen das Ergebnis für Ostdeutschland haben könnte – gerade vonseiten der SPD, die bei der Landtagswahl auf 10,6 Prozent abstürzte? Kurzum: Markieren die Wahlerfolge der AfD eine Zäsur für das gesamte ostdeutsche Parteiensystem? Oder handelt es sich um ein typisch ostdeutsches Ergebnis, wo die Wechselwählerneigung traditionell höher ist und eine größere Bereitschaft existiert, rechte Parteien zu wählen?

Für die zweite These sprechen zum Teil die Ergebnisse der Wahlumfragen: Bei den Landtagswahlen 2014 in Sachsen, Thüringen und Brandenburg gaben 76 Prozent der AfD-Anhänger an, die Partei aufgrund ihrer politischen Inhalte gewählt zu haben. Und 20 Prozent wollten den etablierten Parteien einen Denkzettel verpassen. Nur jeder Fünfte bezeichnete sich also als Protestwähler. Bei den drei Wahlen im März dieses Jahres begründete hingegen die Hälfte der AfD-Wähler ihre Wahl mit Protest. Angesichts der kritischen Haltung vieler Wähler in der Flüchtlingspolitik überrascht dies nicht. Ohne die Denkzettel-Wähler schrumpft das Kern-Potenzial im Osten aber auf 12 bis 15 Prozent, was – bitter genug – keine überraschende Entwicklung ist. In Sachsen erzielten seit den Wahlen 2004 die gleichermaßen (wenn auch nicht gleichzusetzenden) rechtspopulistisch argumentierenden NPD, FDP oder AfD zusammen stets rund 15 Prozent. Und im Jahr 1998 verlor die CDU in Sachsen-Anhalt mehr als 12 Prozentpunkte, während die rechtsextreme DVU auf rund 13 Prozent kam. Auch kann der katastrophale Absturz der SPD in Sachsen-Anhalt keineswegs allein mit Bezug auf die Stärke der AfD erklärt werden: Selten zuvor wurde ein miserablerer Wahlkampf geführt als dieses Jahr zwischen Harz und Halle. Dieser Lesart zufolge wird sich die AfD auch wegen des Linksschwenks der Bundes-CDU etablieren und starke Ergebnisse erzielen, sofern politische Ereignisse im Sinne der AfD emotionalisiert werden können. Die AfD werde aber wieder abstürzen, wenn der „Untergang des Abendlandes“ nicht mehr herbeigeredet werden kann.

Es lassen sich allerdings auch Belege für die These finden, dass der Erfolg der AfD in Sachsen-Anhalt eine Zäsur für das ostdeutsche Parteiensystem darstellt. So sind Rechtspopulisten weltweit erfolgreich, etwa in Polen, Russland, der Türkei oder in den Vereinigten Staaten. Das Erfolgsrezept des (Rechts-)Populismus besteht dabei nicht in purer Ausländerfeindlichkeit, sondern darin, dass Gesellschaften in Freund und Feind unterteilt werden. Rechtspopulisten beschwören eine homogene Gruppe („die Deutschen, „das Volk“, „die Mitte“, „die Steuerzahler“), die bedroht oder ausgebeutet werde, und zwar von „unten“ („Asylanten“, „Sozialschmarotzer“) ebenso wie von „oben“ („Politiker“, „Eliten“) oder auch „von außen“ (Griechen, Flüchtlinge, EU). Die ostdeutschen Bundesländer bieten dank der Konzentration einer (vermeintlich) großen Zahl an Globalisierungsverlierern und geringem Systemvertrauen die perfekte Basis für eine solche rechtspopulistische Agitation.

Die Zukurzgekommenen setzen auf die AfD

Dem Soziologen Heinz Bude zufolge sind die für rechtspopulistische Argumentationen anfälligen Gruppen im Osten besonders stark und sensibel. Die erste Gruppe, die „solide Mitte“, hat Angst, dass der in 25 Jahren hart erarbeitete Aufstieg in Gefahr ist. Anders als im Westen erbt im Osten kaum jemand ein nennenswertes Vermögen. Die zweite Gruppe des „Dienstleistungsproletariats“ ist im Osten stark vertreten und hat seit 1990 einen Absturz sondergleichen erlebt. Rund 25 Prozent der Arbeitnehmer in Sachsen verdienten vor der Einführung des Mindestlohns weniger als 8,50 Euro die Stunde. Trotz steigender Beschäftigung haben die Jahre hoher Arbeitslosigkeit tiefe Spuren hinterlassen. Folglich ist auch die dritte Gruppe der „prekären Mitte“ besonders sensibel. Viele denken, dass für Banken, Griechen und Flüchtlinge viel getan wird, während über ihre eigene Situation kein Mensch redet. Sogar eine Mehrheit der Arbeitslosen wählte die AfD (37 Prozent), obwohl diese Gruppe von den Rechtspopulisten wenig zu erwarten hat. Mit Blick auf Frankreich stellte der Geograf Christophe Guilluy jedoch klar, es sei ein Missverständnis, dass die Rechtspopulisten „auf die Unterschichten setzen“. Umgekehrt würden diese auf den Front National vertrauen, um sich gegen die Globalisierung zu wehren und ihre Besorgnis über Migrationsströme zu bekunden.

Das Potenzial rechtspopulistischer Parteien ist also in Ostdeutschland besonders groß – und kann in Krisen noch vergrößert werden. Es ist allerdings nicht ausgemacht, ob die AfD die soziale Frage „von rechts“ auf Dauer angehen will – was sowohl für die SPD als auch für die Linkspartei enorm gefährlich wäre. Noch verfolgt die AfD ein neoliberales Programm, doch bei der Debatte über den Mindestlohn zeigt sich die AfD bereits geschmeidig.

Anstand und Engagement für das Gemeinwohl

Welche der oben genannten zwei Thesen letztlich zutrifft, wird nicht zuletzt von den Reaktionen von Gesellschaft, Politik und Medien abhängen. Die derzeitige Flüchtlingssituation hat zu einer Politisierung, Polarisierung und Positionierung vieler Ostdeutscher geführt. Hieran kann man anknüpfen, auch wenn klar ist, dass Teile der rechtspopulistischen Wähler mit einer pluralistisch-demokratischen Argumentation gar nicht (mehr) erreicht werden können. Zumal es nicht die Brandstifter sind, die für die negativen Folgen der aktuellen Hetze verantwortlich gemacht werden, sondern die etablierten Parteien – wenn etwa wissenschaftliche Spitzenkräfte und internationale Firmen nicht mehr nach Sachsen kommen.

Es reicht nicht, Rechtspopulisten einfach mit dem Nazi-Vorwurf zu begegnen. Von inszenierten Polarisierungen („alle gegen die AfD“), der medialen Dauerbeschäftigung mit den Inhalten der Partei und den empörten Reaktionen auf jede Provokation profitieren in der Regel nur sie. Stattdessen sind im Umgang mit der AfD kluge und gelassene Strategien auf allen Ebenen gefragt. Die SPD selbst ist zu schwach, um im Osten kampagnenfähig zu sein. Zielführend erscheint jedoch ein Bündnis mit der neuen Bürgerbewegung für Flüchtlinge, die es ja auch im Osten gibt. Es geht dabei um Anstand und praktische Gemeinwohlorientierung – zwei Werte, für die sich der SPD-Landesvorsitzende Martin Dulig in Sachsen einsetzt. Entscheidend ist, dass die ostdeutsche SPD den Rechtspopulisten eine Gesamterzählung entgegensetzt, die über Einzelprojekte hinausgeht, denn diese werden von verbitterten Bürgern gar nicht mehr wahrgenommen. Eine erste, für manche überraschende Zielrichtung: Wir brauchen 25 Jahre nach der Deutschen Einheit eine Aufarbeitung der Nachwendezeit – sonst besetzen und benutzen die Rechtspopulisten diese emotionale Erinnerung. Verbitterung ist der Nährboden für die AfD. Dass die SPD imstande ist, dies zu leisten, hat Regine Hildebrand in Brandenburg gezeigt. Will man also in Richtung Zukunft schreiten, muss man sich im Osten erst einmal mit der Vergangenheit auseinandersetzen.

Antworten gibt es, eine plausible Erzählung fehlt

Zweitens muss die SPD die Leistungsgerechtigkeit wieder in den Mittelpunkt stellen – für alle, die jeden Tag zur Arbeit gehen. Missstände beklagen hier sowohl das „Dienstleistungsproletariat“ als auch die „prekäre“ und die „solide“ Mitte. Diese Forderung ist nicht zu verwechseln mit der Forderung der CDU, Leistung müsse sich wieder lohnen. Sondern es geht um das Gefühl, dass sich zwischen unten und oben, zwischen Privilegierten und Nicht-Privilegierten, Ungerechtigkeiten entwickelt haben.

Die Einführung des Mindestlohns war der erste Schritt. Dass Menschen trotz Arbeit Stütze beantragen mussten, verstieß gegen jedes Prinzip der Leistungsgerechtigkeit. Ebenso ungerecht ist es, wenn Löhne stärker besteuert werden als Kapitalgewinne; wenn am Band die gleiche Arbeit mit unterschiedlichen Löhnen bezahlt wird; oder wenn man nach Jahren des Paketetragens oder Bodenwischens genauso in der Grundsicherung landet wie Arbeitslose, die nie eingezahlt haben; aber auch wenn Millionäre ihre Vermögen mithilfe von Briefkastenfirmen verstecken oder Vorstände trotz der Skandale hohe Boni kassieren, während die „kleinen Leute“ unter niedrigen Zinsen leiden und bei kleinsten Verfehlungen entlassen werden; und wenn kleine, im Osten oft prekäre Unternehmer (vermeintlich) anders behandelt werden als große Unternehmen.

Der sozialdemokratische Forderungskatalog – Solidarrente, Maßnahmen gegen prekäre Arbeit, Kapitalertragssteuer und so weiter – zeigt: Es mangelt nicht an Antworten, sondern an einer glaubwürdigen Erzählung, die nicht taktisch begründet ist – und die auch gegen Widerstände und trotz Niederlagen (etwa gegenüber dem Koalitionspartner) ehrlich und offen verfolgt wird. Dafür ist es notwendig, ostdeutsche Interessen in der Bundespartei und auf Bundesebene stärker einzubringen – aber nicht gegen den Westen, sondern für ein neues Gleichgewicht in der Leistungsgerechtigkeit zwischen Ost und West.

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