Schaut ostwärts, Genossen!

Innerhalb der SPD sind die ostdeutschen Landesverbände ohne nennenswerten Einfluss, der Partei kommt die Ostperspektive abhanden. Das ist fatal, denn ohne Stärke im Osten wird die deutsche Sozialdemokratie insgesamt schwach bleiben. Jetzt kommt es (auch) auf die neue Generation Ost in der SPD an

Am 7. Oktober jährt sich die Neugründung der Ost-SPD zum 25. Mal, ein Jahr später der Vereinigungsparteitag von SDP und SPD. Die Hoffnung, die Vereinigung würde die Sozialdemokratie insgesamt stärken, erwies sich rückblickend als falsch. Die Bundestagswahl 1990 brachte eine derbe Niederlage, bei der die SPD gerade im Osten besonders schlecht abschnitt. Bei der Bundestagswahl 2009 errang die SPD in Ostdeutschland nur 18,3 Prozent der Stimmen – fast eine Halbierung ihres Anteils von 2005 (30,4 Prozent). Das beste Ergebnis holte sie 2009 noch in Brandenburg mit 25 Prozent, in Sachsen-Anhalt verlor sie 16 Prozentpunkte. Die Bundestagswahl 2013 brachte keine Verbesserung: Die SPD erhielt in Ostdeutschland nur 19 Prozent, im Westen legte sie auf 27,4 Prozent zu.

Gleichwohl zeigt sich ein ambivalentes Bild: 1998 und 2002 sorgten die ostdeutschen Wähler für den Wahlsieg Gerhard Schröders; es gelang damals zum ersten Mal, traditionelle Wählergruppen im Osten zu erschließen. Die SPD erhielt in Sachsen 33,3 Prozent (2002) und 29,1 Prozent (1998) – bei den Landtagswahlen

2004 erreichte sie dann nur noch 9,7 Prozent. In Mecklenburg-Vorpommern, vor allem in Brandenburg und lange auch in Berlin gelang es, seit den neunziger Jahren nicht nur dauerhaft Mehrheiten, sondern auch eine kulturelle Dominanz aufzubauen, so dass die SPD dort souverän die Ministerpräsidenten stellt.

In der SPD wiegt Dortmund schwerer als Sachsen

Die Frage ist allerdings: Welche Rolle spielt bei dieser Entwicklung die ostdeutsche SPD? Und welche Rolle spielt Ostdeutschland für die Bundespartei?

Geht man davon aus, dass wichtige inhaltliche und personelle Entscheidungen auf Parteitagen getroffen werden, stehen die ostdeutschen Landesverbände strukturell eher auf verlorenem Posten. So hat etwa der sächsische SPD-Landesverband mit ungefähr 4 500 Genossen nur halb so viele Mitglieder wie allein der Unterbezirk Dortmund. Zwar ist der Abstand in den vergangenen Jahren kleiner geworden, weil die SPD im Westen zwischen 1990 und 2012 fast 48 Prozent ihrer Mitglieder verloren hat, die SPD in Sachsen hingegen „nur“ 22 Prozent. Die Brandenburger SPD konnte als einziger Landesverband der gesamten Partei in diesem Zeitraum ihre Mitgliedschaft sogar steigern – trotzdem finden sich auch dort lediglich 6 197 Sozialdemokraten.

Die Gründe für diese schwache Organisationsentwicklung sind oft beschrieben worden: Die SPD als echte Neugründung konnte nicht wie PDS, CDU und FDP Mitglieder aus der SED oder den DDR-Blockparteien übernehmen. Sie hat nach 1990, damals aus verständlichen Gründen, ehemaligen SED-Mitgliedern meist die Mitgliedschaft verweigert – obwohl gerade unter den früheren Funktionseliten viele durchaus sozialdemokratisch dachten; aus ihrem Milieu stammen viele heutige Politiker der Linkspartei. Ferner war „Parteizugehörigkeit nach der Wende verpönt“, wie Manuela Schwesig in einem Interview mit der Zeit exemplarisch erläuterte. Die Attraktivität der SPD wurde für viele Menschen danach nicht größer angesichts negativer sozialer Umwälzungen in Ostdeutschland, marktradikaler Politik­experimente, Hartz IV oder Kosovo-Krieg.

Guter Osten, böser Westen?

Die Mitgliederschwäche hat zur Folge, dass die ostdeutsche SPD von den großen westdeutschen Landesverbänden zunehmend an den Rand gedrängt wird, auch weil angesichts schwacher Wahlergebnisse vom geschrumpften Kuchen in der Partei nicht mehr so viele Stücke verteilt werden können. Bei der Aufstellung der Kandidaten für die Europawahl 2014 war unter den ersten zwanzig die Berliner Kandidatin Yvonne Kaufmann auf Platz 14 die einzige „Ost“-Kandidatin. Beim Parteitag im November 2013 ließen die Westverbände ostdeutsche Landeschefs und sogar ostdeutsche Ministerpräsidenten im ersten Wahlgang durchfallen.

Allerdings wäre ein Bild, demzufolge „böse“ westdeutsche Landesverbände den „guten“ Osten unterdrücken, zu holzschnitthaft. Ein Grund für die Schwäche der Ost-SPD liegt darin, dass es ihren Vertretern nur selten gelungen ist, sich auf Bundesebene erfolgreich öffentlich durchzusetzen. Nach der Vereinigung beider Parteiteile wurde schnell deutlich, dass ostdeutsche Politiker einen anderen Stil, eine andere Sprache, ein unterschiedliches Verständnis und Wissen über den Ablauf politischer Prozesse hatten als ihre Kollegen im Westen. Viele Angehörige der Gründergeneration der ostdeutschen SPD waren geprägt durch basisdemokratische Prozesse der friedlichen Revolution und stammten aus technokratischen Eliten. Ihnen gelang es deshalb nicht, eine bundespolitische Rolle zu spielen. Zum einen, weil viele von ihnen zu wenig dazulernten und zu sehr in einer gewissen ostdeutschen Larmoyanz verharrten, zum anderen, weil sie zugleich von westdeutschen Machtpolitikern ausgebremst wurden.

Letztlich haben es nur wenige geschafft, tatsächlich eine öffentliche bundespolitische Rolle einzunehmen: Regine Hildebrand, Manfred Stolpe, Wolfgang Thierse sowie Matthias Platzeck, der sogar SPD-Vorsitzender wurde und als Kanzlerkandidat im Gespräch war; ansatzweise sind zudem Wolfgang Tiefensee und Christine Bergman zu nennen. Mit Ausnahme von Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig sind die meisten ostdeutschen Spitzenpolitiker und Ministerpräsidenten der SPD heute außerhalb ihrer Bundesländer weitgehend unbekannt. Sie scheinen (bislang) auch wenig bundespolitische Ambitionen zu hegen. Dass einer der aktuellen ostdeutschen Ministerpräsidenten am Gitter des Kanzleramts rüttelt, ist kaum vorstellbar.

Zudem muss man nach 25 Jahren fragen, was ein „ostdeutscher Politiker“ eigentlich sein soll. In den neunziger Jahren spielte das „Forum Ostdeutschland“ zeitweise noch die Rolle eines informellen ostdeutschen Parteivorstandes und forderte als zentrales Politikziel die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West. Doch diese gemeinsame Vertretung von ostdeutschen Interessen und ostdeutscher Identität ist auseinandergebrochen. Das Zusammengehörigkeitsgefühl ostdeutscher Sozialdemokraten hat durch den Generationswechsel stark abgenommen, und es findet eine normale politische Ausdifferenzierung statt – etwa hinsichtlich unterschiedlicher Standpunkte zu den rot-grünen Arbeitsmarktreformen oder in der Frage, ob die ostdeutsche Gesellschaft Avantgarde oder Verlierer der deutschen Einheit sei. Außerdem gingen SPD-Ministerpräsidenten mit der zunehmenden Betonung von Wettbewerb ihre eigenen Wege und stellten die Interessen ihrer Länder vor ostdeutsche Regionalinteressen, zum Beispiel in der Föderalismus-Kommission. Oft bestehen auch eher gemeinsame Interessen mit westdeutschen Nachbarländern; so verortet sich Mecklenburg-Vorpommern inzwischen eher als Teil Norddeutschlands.

Nur Platzeck und Thierse mischten richtig mit

Die Rolle der ostdeutschen SPD in der Gesamtpartei ist ebenso ambivalent wie die „Gemeinschaft“ ostdeutscher Sozialdemokraten. Gab es nach 1989 eine echte Solidarität mit dem Osten, so kühlte sich das Verhältnis danach schnell ab. Die West-SPD schaute oftmals eitel auf die komischen „Ossis“, viele aus der Ost-SPD wiederum richteten sich in ihren Minderwertigkeitskomplexen ein. Ihre Schwäche in der Gesamtpartei führte dazu, dass es selten gelang, inhaltliche Entwicklungen der Bundes-SPD mitzubestimmen. Es ist nicht überraschend, dass mit Wolfgang Thierse und Matthias Platzeck die einzigen bundespolitisch profilierten Ost-Politiker zugleich auch eine besondere Rolle bei inhaltlichen Debatten auf der sozialdemokratischen Bundesebene spielten – etwa als es um das neue Grundsatzprogramm oder das vor allem aus Brandenburg inspirierte Modell eines vorsorgenden Sozialstaats ging. Es war der Höhepunkt des Einflusses eines ostdeutschen Politikers auf die Bundespolitik der SPD, als Matthias Platzeck im Jahr 2005 als Hoffnungsträger den Parteivorsitz von Franz Müntefering übernahm.

Platzeck trat 2006 nur 146 Tage später nach zwei Hörstürzen als Parteivorsitzender schon wieder zurück. Wolfgang Thierse füllte als Bundestagspräsident eine andere Rolle aus. Seit dieser Zeit geht der Einfluss ostdeutscher Politiker auf die Gesamtpartei immer weiter zurück, und umgekehrt werden ostdeutsche Interessen in der SPD-Bundespolitik immer weniger mitgedacht. Gerhard Schröder traf zwar angesichts von Elbhochwasser (2002), Irak-Krieg (2003) oder nach Edmund Stoibers Beschimpfung der „frustrierten Ostdeutschen“ (2005) oft instinktiv das Gefühl der Ostdeutschen. Doch schaut man sich Schröders Politik und vor allem die rot-grünen Reformen genau an, wird deutlich, dass die Bundes-SPD ihren Westblick nie wirklich verlor. Ostdeutsche Interessen wurden meist nicht mitgedacht, ostdeutsche Mentalitäten blieben unverstanden – und das gilt so bis heute.

Jetzt muss die neue Generation Ost liefern

Die Ostperspektive ist innerhalb der SPD aber auch deshalb verlorengegangen, weil viele Westverbände zu Recht (und mittlerweile im Konsens mit der ostdeutschen SPD) Solidarität mit ihren strukturschwachen Gebieten einfordern. Bei den Bundestagswahlen 2009 und 2013 war die SPD schließlich weit entfernt von jeglichen ostdeutschen Befindlichkeiten. Frank-Walter Steinmeier trat 2009 zwar als Brandenburger Direktkandidat an, doch hatte dies kaum einen Effekt. Und Peer Steinbrücks persönlicher Angriff auf Angela Merkel, deren mutmaßlich mangelnde Leidenschaft für Europa er 2013 auf ihre DDR-Vergangenheit zurückführte, war sogar ein deutlicher Rückschlag für die Verankerung der SPD in Ostdeutschland.

Angela Merkel hingegen hatte leichtes Spiel, sich als einzige ostdeutsche Politikerin zu inszenieren; sie wird im Osten immer noch als willkommener Kontrast zu (männlichen) Westpolitikern wahrgenommen. Weil die Bürger den Institutionen nicht mehr zutrauen, für das Gemeinwohl einzustehen und die großen Herausforderungen des Landes anzugehen, richten sie ihre Erwartungen an Einzelpersonen – Merkel oder Landesmütter und -väter. Oder sie wählen aus Protest (rechts-)populistische Parteien. In beiden Fällen profitieren meist nicht Sozialdemokraten. So wählte Ostdeutschland 2013 schwarz; selbst bei den Landtagswahlen 2014 in Brandenburg und Thüringen gaben 42 beziehungsweise 41 Prozent der CDU-Wähler an, dass sie die Union ohne Merkel nicht unterstützen würden.

Doch wenn die These stimmt, dass die SPD Bundestagswahlen vor allem in Ostdeutschland verliert, dann muss der Osten für die Partei (wieder) zum wichtigen Thema werden. Anderenfalls kann sie aus ihrem gesamtdeutschen 25-Prozent-Keller nicht herauskommen. Der neuen sozialdemokratischen Generation Ost um Manuela Schwesig, Erwin Sellering, Dietmar Woidke, Martin Dulig, Iris Gleicke, Katrin Budde und Daniela Kolbe kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, selbst wenn sich diese Akteure nicht mehr allein als ostdeutsche Politiker begreifen. Denn man darf nicht vergessen, dass die Zukunft sowohl der Ost-CDU als auch der Linkspartei für die Zeit nach Merkel und Gysi ebenfalls nicht rosig aussieht.

Alles in Ordnung im Osten? Keineswegs!

Es ist dabei falsch zu glauben, ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall sei im Osten „alles in Ordnung“, wie unlängst junge Ostdeutsche im Zeit-Magazin verlauten ließen. Die Wahlergebnisse und die Wahlbeteiligung in Sachsen, Thüringen und Branden­burg haben gezeigt, dass vieles eben nicht in Ordnung ist. Die soziale Ungleichheit in Deutschland ist noch immer nicht zuletzt eine Spaltung zwischen Ost und West. Ähnlich sieht es beim Vertrauen in die Demokratie und die demokratischen Institutionen aus. Die neue SPD-Riege hat hierzu im Koalitionsvertrag 2013 bereits manches erfolgreich durchgesetzt, zum Beispiel den einheitlichen flächendeckenden Mindestlohn von 8,50 Euro für ganz Deutschland sowie die Ost-West-Rentenangleichung. Doch das reicht noch lange nicht aus.

Die Bundes-SPD darf keinen West-Blick, aber auch keinen reinen Ost-Blick mehr haben, sondern braucht eine umfassende Perspektive auf die spezifischen Gegebenheiten von demokratiefernen und verunsicherten Bürgern. Diese leben in Ostdeutschland in großer Zahl und müssen repräsentiert werden. Dafür bedarf es einer ernsthaften Debatte über die Chancen peripherer Regionen in Deutschland. Die Sozialdemokraten müssen über die Stärkung der Demokratie und über mehr soziale Gerechtigkeit diskutieren – gerade im 25. Jubeljahr der friedlichen Revolution.

Zudem ist der Osten immer noch die verlängerte Werkbank des Westens. Die ostdeutschen Unternehmen sind zu klein, und es stellt sich die Frage, wie man die Wirtschaft in Ostdeutschland nachhaltig stärken und Arbeitsplätze sichern kann. Schließlich muss sich die SPD verstärkt dem Thema Altersarmut zuwenden, denn diese droht nach Jahren der Arbeitslosigkeit und Niedriglöhne zum Massenphänomen vor allem im Osten der Republik zu werden. All das sind Themen, die gerade ostdeutsche Sozialdemokraten diskutieren und in die Bundespartei tragen sollten – für eine gemeinsame fortschrittliche Politik.

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