»Wir wollen den ganzen Wechsel«

Matthias Machnig gilt als einer der wichtigsten Strategen der SPD. Unter anderem leitete er die Kampagnen zur Bundestagswahl 1998 und 2002 sowie zur Landtagswahl 2000 in Nordrhein-Westfalen. Bis 2002 war Machnig Bundesgeschäftsführer der SPD, und nach einer Zwischenstation als Unternehmensberater bis 2009 Staatssekretär im Bundesumweltministerium. Mit dem Thüringer Wirtschaftsminister sprach Carsten Stender für die »Berliner Republik« über die Ausrichtung der SPD gut ein Jahr vor der Bundestagswahl

Wo steht die SPD 15 Monate vor der Bundestagswahl da?

Schwarz-Gelb liegt seit Regierungsbeginn in den Umfragen unter 40 Prozent. Und es gibt eine Umfragemehrheit links von der Mitte, die deutlich über 50 Prozent liegt. Schon heute ist also klar: Es wird einen Regierungswechsel geben. Die Frage ist nur: Gibt es einen halben oder einen ganzen Regierungswechsel? Bleibt Angela Merkel Kanzlerin oder nutzt Rot-Grün seine Chance? Das ist die offene Frage, die nicht entschieden ist. Auf dem Weg zur Bundestagswahl muss es jetzt um klare Alternativen und Richtungsentscheidungen gehen. Wenn wir das deutlich machen, kann der Regierungs- und Politikwechsel gelingen.

Gibt es denn diese Fundamentalalternativen wirklich oder ist die Richtungswahl eher ein Popanz?

Ich glaube, dass es sehr klare Alternativen gibt, die auf dem Tisch liegen. Erstens: Wir brauchen in den nächsten Jahren Wachstumsimpulse in Europa. Da muss Deutschland einen Beitrag leisten. Denn es ist überhaupt nicht vorstellbar, dass eine große Exportnation dauerhaft Wirtschaftswachstum produziert, wenn im europäischen Markt und im Euroraum andere Länder in einer rezessiven Situation sind. Konservative Austeritätspolitik allein wird da nicht ausreichen. Zweitens: Beim Thema Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt geht es um die Frage, ob wir die Segmentierung und die Spaltung des Arbeitsmarktes weiter fortsetzen wollen. Oder brauchen wir nicht unbedingt Mindestlöhne, eine höhere Tarifbindung und eine andere Lohnpolitik? Drittens: Die Bundesregierung ist mit der Energiewende klar überfordert. Und zwar aus strukturellen und inhaltlichen Gründen. Das heißt, Rot-Grün wird 2013 auch vor der Aufgabe stehen, dieses Projekt zu retten. Viertens gibt es wichtige gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen: Ich denke an die Debatte um das Betreuungsgeld. Wollen wir den Infrastrukturausbau oder eine Subventionspolitik für die konservative Kernklientel? Es gibt also eine Vielzahl von Fragen, die klare Richtungen ermöglichen und auch eine Richtungsdebatte in Deutschland auslösen können. Darin liegt die Chance.

Linkspartei und Piraten haben umso bessere Aussichten, je geringer die Zuspitzung des Bundestagswahlkampfes ist.

Genau. Wer die Richtungsdebatte nicht führt, der wird eher einen Beitrag dazu leisten, dass die kleinen Parteien stärker werden. Das ist meine feste Überzeugung. Linkspartei und Piraten möglichst klein und außerhalb des Parlaments zu halten, wird nur gelingen, wenn die Richtungsdebatte Rot-Grün versus Schwarz-Gelb das Zentrum der Wahlauseinandersetzung bildet. Auch die Grünen müssen ein Interesse daran haben. Ich wünsche mir deshalb von den Grünen eine eindeutige Ausrichtung. Diese Klarheit müssen sie schaffen, wenn sie nächstes Jahr mit der SPD eine neue Regierung bilden wollen.

Wie sollte die SPD mit den Piraten umgehen?

Nicht so viel über sie reden, sondern durch klare politische Konzepte punkten. Die SPD muss das Zentrum der gesellschaftlichen Auseinandersetzung bestimmen: Euro, Wachstum, Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt, Energiepolitik, moderne Familien- und Gesellschaftspolitik und gute Bildung für alle. Allerdings sollten wir auch ausstrahlen, dass wir stärker als bislang bereit sind, die Meinung der Menschen in unsere Diskussionen mit einzubinden und zu berücksichtigen. Dann wird deutlich, dass die Piraten kein Problem lösen. Sie sind Teil des Problems, wenn es darum geht, die Richtungsdebatte zu führen und Rot-Grün als Mehrheitsprojekt zu etablieren.

Um einen Kanzlerwahlkampf zu führen, braucht die SPD eine plausible Machtperspektive. Die Erwartung eines halben Regierungswechsels wäre etwas dürftig.

Ja, darum geht es. Wir wollen den ganzen Wechsel. Ich glaube, wenn die SPD den Eindruck erweckt, sie sei auch mit dem zweiten Platz zufrieden, dann führt das dazu, dass wir an Zustimmung verlieren und andere Parteien davon profitieren – etwa die Piraten, die Linkspartei, aber auch die Grünen. Das heißt, die SPD muss klar und deutlich ihren Führungsanspruch formulieren. Wer einen wirklichen Politik- und Regierungswechsel will, muss sich ausdrücklich dazu bekennen und das auch selbstbewusst ausstrahlen.

Wird die FDP im nächsten Bundestag vertreten sein?

Diese Frage ist offen. Allerdings haben die letzten Wahlen ja eines gezeigt: Die FDP profitiert derzeit von der Schwäche der Union. Ob ein solcher Mechanismus auch 2013 greift, bleibt abzuwarten.

Kann man mit der FDP flirten und sie gleichzeitig im Wahlkampf hart angreifen?

Ich rate, eines zur Kenntnis zu nehmen: In der SPD-Stammklientel gibt es eine Partei, die ganz besondere Aversionen hervorruft – das ist die FDP. Jede Diskussion in Richtung Ampel trägt deshalb zur Demobilisierung in unserem Wählermilieu bei. Deswegen kann ich nur dazu raten, Rot-Grün im Zentrum der Diskussion zu halten. Mit Blick auf den Ausgang der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen und auf aktuelle Umfragen ist das auch plausibel. Rot-Grün liegt irgendwo um die 45 Prozent. Das heißt, mit einem Zugewinn um zwei bis drei Prozentpunkte hat man eine Mehrheit im nächsten Deutschen Bundestag. Das muss das Ziel sein.

Kann die Union den Widerspruch zwischen konservativen Traditionalisten und modernen, urbanen Wechselwählern auflösen? Bietet dieser Widerspruch Ansatzpunkte für eine Demobilisierungsstrategie?

Nein, eher umgekehrt: Depolitisierung nützt immer den Regierenden. Angela Merkel wird deshalb wieder versuchen, einen depolitisierten Wahlkampf zu führen. Sie ist doch um Folgendes bemüht: alle Themen, die zu Richtungsdiskussionen führen könnten, zumindest virtuell abzuräumen. Ich erinnere an die Vorschläge der Union zum Thema Mindestlohn, die ja – wenn man sie sich fachlich anschaut – mitnichten eine Lohnuntergrenze definieren. Vielmehr wird damit ein höchst löchriger Schweizer Käse produziert, der das eigentliche Problem nicht löst. Ähnlich ist es bei der Energiewende oder bei anderen entscheidenden Fragen. Aus vordergründigen taktischen Motiven werden die Themen aufgegriffen und Scheinlösungen produziert. Angela Merkel wird versuchen, im Inland zu depolitisieren und auf die europäische Ebene zu flüchten, um sich nicht der innenpolitischen Diskussion stellen zu müssen. Die SPD muss Merkel deshalb in die innenpolitische Arena zurückführen. Das ist die entscheidende Aufgabe.

Worin liegen die Besonderheiten der Kampagne zur Bundestagswahl 2013 im Hinblick auf Dramaturgie und Timing?

Entscheidend sind vier Punkte. Erstens sehe ich eine ganz wichtige Wahl im Januar 2013: Die Landtagswahl in Niedersachsen wird Signalwirkung haben. Daran entscheidet sich, wie man in das Wahljahr startet. Wenn für Merkels CDU die zwölfte Wahl in Folge verloren geht, dann ist das ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Bundestagswahl. Für Rot-Grün waren die Umfragen ja in letzter Zeit auch in Niedersachsen durchaus erfreulich. Zweitens kommt es auf die Art und Weise an, wie wir die Kandidatenfrage lösen. Egal, wer am Ende des Tages der Kandidat der SPD wird: Alle Mitglieder der Troika werden gebraucht. Ich wünsche mir, dass alle drei im Wahlkampf eine wichtige Rolle spielen und mit unterschiedlichem Temperament und mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten am Projekt Regierungswechsel arbeiten. Drittens, ist entscheidend, ob es uns gelingt, Merkel in die innenpolitische Arena zu zwingen und sie bei den wichtigen innenpolitischen Fragen zu stellen. Viertens sollte man sich über eines immer im Klaren sein: Regierungen werden abgewählt. Wir müssen eine Stimmung produzieren, wo Menschen sagen: Schwarz-Gelb, es reicht! Auch das wird eine wichtige Aufgabe sein im Wahljahr 2013.

In jeder Kampagne kommt der Punkt, wo sich das Zeitfenster für inhaltliche Profilierung schließt und Agenda-Setting die Szene bestimmt. Wann kommt für die SPD dieser Punkt?

In den letzten sechs, acht Wochen, vielleicht zehn Wochen ist das so. In der Zeit nach der Niedersachsenwahl muss man zunächst die personellen, programmatischen und auch die Performance-Fragen in der SPD endgültig klären. Person, Programm und Performance, also der Auftritt einer Partei, sind ganz entscheidend. Diese drei Ps müssen zusammenpassen. Wir brauchen einen starken modernen Kandidaten, ein starkes und mutiges, zukunftsorientiertes Programm. Und die Partei muss insgesamt eines ausstrahlen: Geschlossenheit und auch Zuversicht, dass man diese Bundestagswahlen gewinnen kann.

Sie haben mal gesagt: Erfurt ist nicht der Nabel der Welt.

Das ist wahr.

Reizt es Sie manchmal, eine aktivere Rolle auf der Bundesebene zu spielen, zumal im Wahlkampf?

Ich habe hier eine schöne Aufgabe. Mir macht das sehr viel Spaß, was ich in Thüringen mache. Zunächst mal sehe ich meine Rolle hier. Und die werde ich auch ausfüllen. Da, wo ich unterstützen kann, in welcher Form auch immer, will ich das gerne tun. Das gilt für inhaltliche, aber auch für andere Fragen. Wo man möchte, dass ich helfen soll, bin ich dazu gerne bereit.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

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