Den Fortschritt neu denken

Mit der SPD ist progressiver Geist in die Regierung eingezogen. Jetzt kommt es darauf an, auch bei Digitalisierung und Freihandel fortschrittlich zu handeln

Die intensive sozialdemokratische Fortschrittsdebatte der vergangenen Jahre ist in konkrete, bessere Politik für Deutschland gemündet. Durch die Regierungsbeteiligung der SPD wird die Leistung vieler Menschen künftig höher belohnt, werden gute Arbeit und soziale Sicherheit zunehmen und neue Chancen und Perspektiven entstehen. Ausgehend vom Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag konnten viele wichtige Vorhaben auf den Weg gebracht werden wie der Mindestlohn, das Rentenpaket, die Frauenquote, die Mietpreisbremse, die Allianz für Fort- und Weiterbildung, mehr Geld für Bildung und einiges mehr.

All das ist progressive Politik, die unter der alten Regierung unvorstellbar gewesen wäre. Sie ist nicht nur aus sozialen, sondern auch aus ökonomischen Gründen gut für unser Land. Denn sie stärkt die ökonomischen Binnenkräfte, die uns trotz zahlreicher internationaler Herausforderungen auf dem Wachstumspfad halten. Und nur ein Staat, der anerkennt, dass Talent und Kreativität breit über die ganze Gesellschaft verstreut sind, der beides fördert und nutzt, kann dauerhaft erfolgreich sein.

Die OECD fasst Politikansätze wie diese unter dem Begriff inclusive growth zusammen und empfiehlt sie dieser Tage als Wachstums- und Wohlstandskonzept. Konsequent wäre es, diesen Ansatz möglichst breit zu denken. Denn die Fortschrittsdebatte ist ja noch lange nicht am Ende. Besonders die Stärkung der Demokratie und die Gestaltung der Globalisierung bleiben drängende Aufgaben. Um sie zu lösen, müssen wir den Fortschritt, den wir erreicht haben, weiter denken. Und zwar offener und mutiger als bisher.

Das gilt vor allem mit Blick auf die Digitalisierung und den Freihandel. Beide Themen werden derzeit leidenschaftlich diskutiert. Und dies völlig zu Recht. Wenn wir auch hier einem inklusiven Ansatz folgen wollen, dürfen wir nicht auf Ab- oder Ausgrenzung abzielen, sondern auf Öffnung und Einbindung. Regeln, die dies ermöglichen, sind ein wichtiges Element „inklusiver Wirtschaftsinstitutionen“, die Daron Acemoglu und James A. Robinson in ihrem Buch Warum Nationen scheitern: Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut zu den Grundvoraussetzungen für die positive Entwicklung von Staaten zählen.

Beispiel Freihandel: Das Ziel ist es doch nicht, Normen, Werte und Standards aufzugeben, sondern ihnen im Gegenteil breitere Geltung zu verschaffen. Wir wollen Regeln entwickeln, die einerseits mehr Wettbewerb im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher schaffen und besonders kleineren Unternehmen neue Marktchancen ermöglichen. Gleichzeitig wollen wir hohe soziale, kulturelle, ökologische und technische Standards globalisieren, die Vorbild sein können für weitere internationale Abkommen dieser Art. Das wollen wir erreichen, und Europa ist dazu bereit.

Auch das Thema Digitalisierung müssen wir mutig und aufgeklärt angehen. Jeremy Rifkin und Jaron Lanier haben die Spannbreite der Debatte definiert. Während Rifikin in seinem Band Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft in der Sharing Economy und dem Internet der Dinge das unweigerliche Ende des ungezügelten Kapitalismus sieht, prophezeit Lanier in Wem gehört die Zukunft?, dass die Digitalisierung den Kunden immer stärker zum Produkt beziehungsweise das menschliche Subjekt zum entmündigten Objekt machen werde. Die Aufgabe der Sozialdemokratie ist es, solche Diskussionen aufzunehmen. Aber es geht nicht darum, die Welt zu interpretieren, sondern eine Politik der Zukunft zu entwickeln.

Fest steht: Der naive Glaube an das grundsätzlich Gute im Netz hat sich überlebt. Dennoch entscheiden sich die Menschen tagtäglich für die Digitalisierung – in der Art, wie sie kommunizieren, leben und wirtschaften. Auch verhindert die intelligente Verwendung von Daten Katastrophen, verlängert Leben, reduziert den Ressourcenverbrauch, senkt Kosten und schafft Arbeit. Zudem bieten sich Chancen für mehr Demokratie, wenn Informationen leichter zugänglich sind, Vernetzung in sozialen Netzwerken stattfinden kann, Know-how geteilt wird oder IT-gestützte Verwaltungsabläufe Zugangsschwellen senken und die Transparenz erhöhen.

Was wir brauchen, ist ein intelligenter ordnungspolitischer Rahmen für das digitale Zeitalter. Einen Rahmen, der Big Data zu Smart Data macht, zu einem Hilfsmittel, nicht zu einer Bedrohung. Dieser Rahmen muss einerseits Innovationen ermöglichen und andererseits die Freiheit und Privatsphäre der Bürger schützen, damit aus der gigantischen Kreativität der virtuellen Welt reale Produktivität wird, die keinem schadet und allen dient.

Niemand behauptet, dass dies eine einfach Aufgabe ist. Allerdings bietet diese Herausforderung auch eine große Chance. Denn es ist keinesfalls klar, wer am Ende als Sieger aus dem Digitalisierungswettbewerb hervorgehen wird. Das müssen nicht zwangsläufig die amerikanischen Internetgiganten sein, sondern wäre auch den vielen innovativen Unternehmen in Deutschland und Europa zuzutrauen. Noch haben wir die Chance, den so genannten Plattform-Kapitalismus, unter dessen Regie die Grundlagen unseres Industriestandortes nicht von uns weiterentwickelt, sondern von anderen zerstört werden, in die richtigen Bahnen zu lenken und zu gestalten.

Kurzum: Wir brauchen eine neue, eine offenere, optimistischere, aber auch inklusivere Idee von Fortschritt. Eine Idee, die auf Realismus setzt, Chancen erkennt, Probleme klar adressiert und neue Regeln schafft. Dies erfordert den Mut zur Gestaltung, keine Politik der Verweigerung und des Kritizismus. Unsere Vorstellung von Fortschritt umfasste schon immer das Versprechen auf eine bessere Zukunft und das dazugehörige Programm, mit dem wir den Fortschritt gestalten wollen. Zukunft braucht Mut.

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