Fukushima 3/11

Auf das Desaster in Japan muss in Deutschland ein neuer Energiekonsens folgen

Kein Restrisiko mehr eingehen! Die Katastrophe im Atomkraftwerk Fukushima hat tiefe Narben in der – zumindest aus Regierungssicht schlüssigen und konsequenten und mancherorts sogar als alternativlos bezeichneten – deutschen Energiepolitik hinterlassen. Als wären in großem Umfang bahnbrechend neue Erkenntnisse über die Sicherheit der Atomkraftwerke in Deutschland zu Tage getreten, rechnet die Koalition mit ihrem eigenen, erst im Herbst 2010 durchgesetzten Energiekonzept ab und ordnet eine neue Sicherheitsüberprüfung der deutschen Kernkraftwerke an.

Dabei folgt Schwarz-Gelb wieder einmal ihrer ganz eigenen, fachlich-sachlich nicht zu begründenden Logik. Der breite Widerstand in Wissenschaft und Bevölkerung wurde so scham- wie verantwortungslos übergangen, ebenso das seit 2009 vorliegende kerntechnische Regelwerk, das noch in der Großen Koalition erarbeitet worden war. Die Bundesregierung verfährt auch an dieser Stelle nach einem bekannten Muster: Wendehalsiger Aktionismus dominiert über Substanz und Gesetz. Einige der großen Energieversorger bringen sich schon in Stellung, die Schadensersatzklagen werden kommen, weil gut gemeint an dieser Stelle das Gegenteil von gut ist. Die Einsicht kommt einfach zu spät und widerspricht den zuvor eigenhändig eingeräumten Renditeerwartungen der Energieriesen.

Energie ist die Schlüsselfrage

Unabhängig vom Anteil wahltaktischer Motivation stellt sich die Frage, welche Konsequenzen sich aus rein energietechnischer und -wirtschaftlicher Sicht durch die japanische Katastrophe für die deutsche Energiepolitik ergeben. Ob wirklich ergebnisoffen diskutiert wird, wie die Bundesregierung Glauben machen will, darf bezweifelt werden. Dennoch ist die Zeit günstig. Fukushima hat das Fenster zur Energiewende weit aufgestoßen. Der Moment muss genutzt werden, um einen parteiübergreifenden Konsens zu schaffen. Die Opposition muss ihrer Verantwortung gerecht werden und die Koalition in die Pflicht nehmen, damit gemeinsam eine neue fachliche, das heißt die energietechnischen, ökonomischen, ökologischen und auch ethischen Fragen der Energieversorgung berücksichtigende Diskussion eingeleitet wird.

Notwendig ist dafür ein neuer Energiekonsens in Deutschland und in Europa. Energie ist die Schlüsselfrage für die Entwicklungschancen und Möglichkeiten von Menschen, Regionen und Wirtschaftsräumen. Eine sichere, nachhaltige Energieversorgung für eine wachsende Weltbevölkerung wird eine der großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sein. Gerade die modernen Industriegesellschaften müssen eines zeigen: Dass sie in der Lage sind, das magische Dreieck der Energieversorgung – Versorgungssicherheit, bezahlbare Energiepreise und eine nachhaltige Energiepolitik zur Sicherung des Klimas – zu verwirklichen. Dazu bedarf es eines Grundkonsenses in der Gesellschaft, denn die heutigen Investitionen in die Energieinfrastruktur prägen unser Leben, unsere Wirtschaft für viele Jahrzehnte. Deswegen ist es notwendig, dass Energieversorgung und Investitionen in die Energiezukunft auf breite Akzeptanz stoßen.

Die Atomenergie war zu keinem Zeitpunkt beherrschbar – und sie wird es auch niemals sein. Entgegen den Meinungsäußerungen neu geborener Bedenkenträger hat die Katastrophe keinerlei neue Erkenntnisse in Bezug auf die Sicherheit gebracht. In Japan ist nichts anderes passiert, als das, wovor Katastrophenforscher immer warnen. Es gibt ein nicht kalkulierbares und nur begrenzt beherrschbares Restrisiko! Wenn es nach den Planern der Atommeiler gegangen wäre, hätte der Unfall in Fukushima nicht passieren dürfen, sonst hätte es ein entsprechendes Katastrophenmanagement gegeben.

Harrisburg, Tschernobyl, Fukushima: Alle 25 Jahre eine Katastrophe

Das Unbeherrschbare ist das mangelnde Erfahrungswissen in der Kombination der Einzelhavarien und vor allem in der daraus entstehenden Kombinationskatastrophe. Verlogen ist die Behauptung, eine Atomkatastrophe würde nur alle Millionen Jahre stattfinden. Die Gefahr ist nicht nur eine theoretische Größe – sie ist real und tritt offensichtlich etwa alle 25 Jahre auf (Harrisburg, Tschernobyl, Fukushima). Bei weltweit 440 Atomkraftwerken erhöht sich das Unfallpotenzial eben erheblich. Nicht das Risiko ist eine minimale theoretische Größe, sondern die Wahrscheinlichkeit, ein relativ sicheres Atomkraftwerk zu bauen, ist viel zu gering. Überdies könnten selbst Kraftwerke der fünften oder sechsten Generation niemals wirtschaftlich betrieben werden, wenn man alle Kosten ehrlich mit einpreist. Die Atomkraft in Deutschland ist bislang direkt und indirekt mit etwa 160 Milliarden Euro bezuschusst worden.

Selbst diejenigen, die es mit der Atomkraft gut meinen, müssen eingestehen, dass sie bestenfalls als Luxustechnologie für wenige Industriestaaten taugt, die Kernenergie mit Fortschritt gleichsetzen wollen. Es geht aber darum, bald neun Milliarden Menschen nachhaltig zu versorgen. Dann muss man natürlich fragen, ob Investitionen in erneuerbare Energiequellen nicht wirtschaftlicher wären. Alle vorliegenden wissenschaftlichen Szenarien zeigen: Ja, sie wären es! Denn warum sollen wir teure Technologie für die Kernfusion verwenden, wenn uns Wind, Sonne und Erde (Geothermie) ihre Energie gratis und nahezu unendlich anbieten? Nur der schnelle Ausstieg vermindert die Gefahr einer weiteren Katastrophe, die unter Umständen in Europa geschieht – und ermöglicht eine in wirtschaftlicher Hinsicht vernünftige Energieversorgung.

Denn für eine sichere Energieversorgung ist die Kernenergie verzichtbar. Schon heute ist Deutschland Nettostromexporteur, auch ohne Kernkraft gibt es keine Energielücke. Gehen jetzt die sieben ältesten Atomkraftwerke vom Netz, gibt es noch andere Kraftwerke mit einer Leistung von insgesamt 88 Gigawatt. Das ist mehr als ausreichend. Der Stromverbrauch der Deutschen lag im vorigen Jahrzehnt bei jährlich höchstens 80 Gigawatt. Als Ersatz für die Kernkraftwerke brauchen wir ein buntes Portfolio aus alternativen Energieträgern, Infrastrukturprojekten und Energieeinsparungen. Realistisch erscheint aus energietechnischer Sicht eine Abschaltung der Atommeiler bereits gegen Ende des Jahrzehnts.

In der Fachwelt besteht Konsens

Beim Ausbau erneuerbarer Energien beruht die Marschrichtung auf einem relativ hohen Konsens in der Fachwelt: Windkraft und Photovoltaik müssen den wesentlichen Beitrag leisten, wobei Windkraft aufgrund des heute deutlich besseren Kosten-Nutzen-Verhältnisses die schnelleren Ausbaureserven hat. Bioenergie wird, wie bereits heute, eine weitere tragende Säule in der Stromproduktion sein – allerdings mit zunehmendem Fokus auf die effiziente Kraft-Wärme-Kopplung. Die Kompensation der Kernenergie wird aber nur gelingen, wenn sowohl die Leitungsinfrastruktur als auch Speicherkapazitäten ausgebaut werden. Wind und Sonne korrelieren nur unzureichend mit Zeiten hoher Nachfrage, so dass bei wenig Nachfrage zunehmend Strom gespeichert und bei hoher Nachfrage Strom über größere Entfernungen (zum Beispiel von Offshore-Windparks) transportiert werden muss. Somit ist der zeitnahe Ausbau leistungsfähiger europäischer Übertragungsleitungen und verschiedener Speichersysteme (Pumpspeicher-Kraftwerke, Druckluftspeicher-Kraftwerke, Batterien et cetera) die Achillesferse des Energieumbaus. Hier müssen die Leistungen für Forschung und Entwicklung sowie die Anreizprogramme vergrößert werden.

Die Kostenstruktur im Produzierenden Gewerbe zeigt, wo sich die wirklichen Stellschrauben zum Kostensparen verbergen. Rund 43 Prozent der Kosten sind heutzutage Materialkosten. Die Lohnkosten betragen weniger als 20 Prozent! Dass die Ressourceneffizienz ein „schlafender Riese“ ist, stellt sogar das Statistische Bundesamt fest. Und die Deutsche Material Effizienz Agentur schätzt das Einsparvolumen der gewerblichen Wirtschaft in Deutschland auf 100 Milliarden Euro pro Jahr bei einer Material- und Rohstoffeffizienzsteigerung von 20 Prozent. Und wir tun so, als wären die Löhne unser größtes Problem.

Entscheidend ist die Gebäudesanierung


Große Schritte zur Steigerung der Energieeffizenz sind besonders bei der Gebäudewärme und der Prozessenergie in der Industrie möglich. Nur wenn wir dort erfolgreich sind, können wir die notwendigen Quantensprünge schaffen. Vor allem die energetische Gebäudesanierung ist wichtig. Die Halbierung der Förderung durch die Bundesregierung ist kontraproduktiv. Unterstützenswert ist die Initiative von Wirtschaft, Städten und Verbraucherschützern, die in einem neuen „Pakt für Klimaschutz“ jährlich zwei Milliarden Euro für die Sanierung von Gebäuden fordern. Natürlich brauchen wir auch beim Thema Mobilität neue Konzepte. Der renommierte Verkehrsberater Axel Friedrich geht davon aus, dass beispielsweise auf dem Gebiet der nachhaltigen Mobilität mittels technischer Innovationen wie Leichtbau, Start-Stopp-Systemen oder verbesserter Aerodynamik bis zu 50 Prozent der Kohlendioxid-Emissionen gespart werden können.

Wachstumsfaktor Erneuerbare Energie

Die Frage nach den Kosten des Energieumbaus sollte mit einer Gegenfrage kommentiert werden: Was kostet es, wenn die Energiesysteme nicht schnell umgebaut werden? Der ehemalige Chefökonom der Weltbank Nicholas Stern hat gezeigt, dass Kosten kein Argument gegen, sondern für erneuerbare Energien, Klimaschutz und Umwelttechnologien sind. Nach Sterns Berechnungen kostet ein Abstoppen des Anstiegs der klimarelevanten Emissionen lediglich ein Prozent des globalen jährlichen Bruttosozialprodukts, während die Folgekosten der ungebremsten Erwärmung mindestens fünffach darüber lägen. Eine volkswirtschaftliche Gesamtkostenrechnung für Deutschland hat jüngst das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung vorgelegt. Danach sollten spätestens ab etwa 2020 positive gesamtökonomische Nettoeffekte des Ausbaus erneuerbarer Energien erzielt werden, die zu einer Steigerung des Bruttoinlandsproduktes führen. Ein Ausbauszenario für erneuerbare Energien sorgt bereits heute für zusätzliches Wirtschaftswachstum und wird das in Zukunft noch mehr tun.

Längst sind die erneuerbaren Energien eine volkswirtschaftliche Erfolgsgeschichte: Mehr als 360.000 Arbeitsplätze umfasste die Branche im Jahre 2010. Die Kommunen profitierten 2009 mit einer Wertschöpfung von 6,8 Milliarden Euro durch Steuereinnahmen, die Einsparung fossiler Brennstoffe und Arbeitsplätze; und die Exportquote der Branche beträgt bei Wasserkraft-, Windkraft- und Photovoltaik-Technologien mehr als 50 Prozent. Dass die Arbeitsplätze dabei vielfach hochqualifiziert sind und die Bioenergie ländliche Räume ökonomisch aufwertet, sind zusätzliche positive Kollateraleffekte für die deutsche Wirtschaft.

Dabei ist zunächst wenig von Belang, dass unsere Nachbarländer ihre Atompolitik kaum hinterfragen. Während die EU derzeit einen Stresstest für Atommeiler plant, finden in den einzelnen europäischen Ländern – und auch außerhalb der EU – wenig ernsthafte Diskussionen statt um die Zukunft der Kernkraft nach dem Desaster von Fukushima. Deshalb können diese Länder keine Vorbilder sein. Der Sachverhalt ähnelt der Finanzkrise: Wenn aus internationalem Koordinierungsbedarf Untätigkeit wird, muss national gehandelt werden. Im Vergleich zum Nichtstun ist das immer noch die bessere, sichere und glaubwürdigere Alternative.

Wenn Deutschland auf Kernkraft verzichtet und auf eine nachhaltige Energieversorgung umbaut, würde uns das innerhalb Europas bereits mittelfristig stärken. Das wäre die logische Konsequenz einer verbesserten Außenhandelsbilanz durch verminderte Energieimporte, erhöhte Exporte ökologischer Technologien und mittel- und langfristiger Preisstabilität durch erneuerbare Energien. Hinzu kommt ein verringertes internationales Konfliktpotenzial in Bezug auf die Länder mit großen Öl-, Gas- und Uranvorkommen. «

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