Es fehlt an Weitsicht und an Strategen

Die Bertelsmann-Stiftung hat untersucht, wie es um die Steuerungsfähigkeit in den Staatskanzleien der Länder bestellt ist

"Ereignisbeherrschung" ist in der Politik ein voraussetzungsvolles Unterfangen. In den Bundesländern stehen die Staats- und Senatskanzleien im täglichen Kampf mit Unsicherheit, knappen Ressourcen und den konfligierenden Interessen konkurrierender Akteure. Einerseits wachsen die Herausforderungen: demograpfischer Wandel, Urbanisierung, soziale Ungleichheit und ein enormer Investitionsbedarf im Bildungssystem. Andererseits brechen Steuereinnahmen weg. Landeshaushalte geraten in Schieflage. Die Sklerose des öffentlichen Dienstes schreitet fort. Die Landespolitik gerät in die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. In der gestressten Kernexekutive verdrängt das kleinteilige Tagesgeschäft unterdessen langfristig wichtige Projekte wie die Entwicklung von Leitbildern, den Aufbau und die Pflege von Frühwarnsystemen oder das Wirkungsmonitoring.

Diese Entwicklungen haben in Politik- und Verwaltungswissenschaft die Frage provoziert, ob Regierungen wirklich "führen" können. In diesem Sinne lässt sich die Studie Strategische Steuerung in Regierungszentralen deutscher Bundesländer der Bertelsmann-Stiftung als Kampfansage lesen: gegen kurzatmige Ad-Hoc-Politik und ein regierungsamtliches muddling through. Im Ergebnis machen die Autoren die fehlende Analyse langfristiger Trends, die strategische Planung und mangelnde Erfolgsauswertung als Schwachpunkte in der landespolitischen Regierungsarbeit aus. Befragt wurden Chefs der Staatskanzleien und deren Planungsabteilungsleiter aus allen Bundesländern. Lediglich in Wiesbaden scheiterte die Befragung an den sprichwörtlichen "Hessischen Verhältnissen", weil der Untersuchungszeitraum mit dem gescheiterten Versuch einer Regierungsbildung zusammenfiel. Das Ergebnis der Studie ist eine lesenswerte Auflistung der Schwachpunkte von Regierungsorganisation aus Sicht der Praxis.

Der erste Mangel ist die fehlende Analyse langfristiger Entwicklungen. Die Praktiker kritisieren, dass relevante Zukunftsthemen zu spät identifiziert werden. Wichtige Ziele und Vorhaben fließen daher nicht rechtzeitig in die strategische Planung ein. Im Tagesgeschäft fehlt die Zeit  für strategisch-langfristiges Denken. Die Autoren der Studie empfehlen daher, in den Regierungszentralen Analyseeinheiten einzurichten, die unabhängig vom Tagesgeschäft gesellschaftlich relevante Trends und Themen sondieren. Als historische Referenz dient die "Denkfabrik", die 1989 unter Björn Engholm in Schleswig-Holstein eingerichtet wurde. Die Gründung solcher "Zukunftsschmieden" soll den Mangel an heimischen Think Tanks ausgleichen helfen, unter der die deutsche Policy-Entwicklung im internationalen Vergleich leidet. Was diesen Mangel betrifft, dürfen wir freilich Hoffnung aus der Gründung des Progressiven Zentrums schöpfen, das sich im Jahr 2007 als gemeinnützige Initiative in Berlin etabliert hat.

Der Feind sitzt in der Pressestelle

Den zweiten Schwachpunkt bilden die Planungs- und Rationalitätsdefizite. Politische Planung handelt von der Bestimmung der eigenen Position und der Justierung des course of action. Basis der strategischen Planung sind die politischen Vorgaben aus Koalitionsvertrag und der Regierungserklärung. Es werden strategische Themenfelder definiert, politisch-strategische Ziele abgeleitet, konkrete Vorhaben zur Zielerreichung festgelegt und deren Verwirklichung geplant.

Die Autoren machen deutlich, wie unterschiedlich strategische Planung in den Regierungszentralen der Länder wahrgenommen wird: Die Mehrheit der Staatskanzleien verwendet lediglich einfache Vorhabenlisten. Einzelne Staatskanzleien setzen dagegen auf IT-basierte Planungssysteme, die einen systematischen Überblick über laufende und geplante Vorhaben der Ressorts liefern.

In der Praxis fürchtet jedoch mancher alter Verwaltungshase den Ressourcenaufwand für die Entwicklung, Einführung und langfristige Anwendung strategischer Steuerungsansätze. Ihren wohl mächtigsten natürlichen Feind haben die Planer dabei in den hektischen Medienarbeitern in den Pressestellen: Schon vor zehn Jahren identifizierte Gerd Mielke den Bedeutungszuwachs von Presse- und Öffentlichkeitsarbeit als eine Hauptursache für den Bedeutungsverlust der Planungsbereiche in den Staatskanzleien. Man gewinnt den Eindruck, dass sich zentrale Akteure und ihre Pressesprecher wechselseitig dazu anstacheln, immer neue "Säue durchs Dorf zu treiben". Das Ringen um Medienpräsenz und Imagebildung hat jedenfalls eine Tendenz zur Verdrängung sachrationaler Regierungsführung. Um die Strategiekompetenz institutionell abzusichern, schlagen die Verfasser der Studie vor, in der Umgebung des Regierungschefs "Strategiewerkstätten" anzusiedeln. Transparente Vorhabenplanung und ehrliche Gesetzesfolgenabschätzung können helfen, die regierungsinternen Prozesse rationaler (und damit rationeller) zu gestalten.

Die unterentwickelte Wirkungsorientierung ist ein dritter Schwachpunkt. Wirkungsorientierte Instrumente sollen messen, ob mit den eingesetzten Ressourcen bei Bürgern und Unternehmen auch die beabsichtigten Folgen eintreten. Nachdem dieses Thema in der Schweiz bereits seit über zehn Jahren auf der politischen Agenda steht, sehen inzwischen auch die hiesigen Regierungseliten mangelnde Wirkungsorientierung als Herausforderung. Einige der untersuchten Regierungszentralen haben vorsichtig begonnen, Ansätze zur Analyse der Wirkung staatlichen Handelns bei den Politikempfängern einzuführen: So verwendet das Saarland ein IT-gestütztes Regierungsinformationssystem zur Beobachtung der 200 wichtigsten Leistungs- und Wirkungsindikatoren.

Die Einführung solcher Wirkungskontrollen verläuft schleppend, weil mehr "Ziel- und Zielerreichungstransparenz" den Medien und der parlamentarischen Opposition zusätzliche Möglichkeiten der politischen Kontrolle, aber auch der medialen Skandalisierung von Steuerungsdefiziten an die Hand gibt. Doch die Vorteile überwiegen: Eine regelmäßige Erfolgsanalyse ermöglicht es, politische Schwerpunkte besser zu reflektieren.

Der große Verhinderer von Reformen ist die Regierungskrankheit "Koordinitis" " Schwachpunkt Nummer vier. Die Koordination zwischen Regierungszentrale, Ressorts, Fraktionen und Parlament ist seit jeher eine der Kernfunktionen von Regierungszentralen. Sie ermöglicht es im Idealfall, Regierungshandeln zielführend abzustimmen und Konflikte zu lösen. Die Effektivität, mit der Regierungen diese Aufgabe bewältigen, ist der Lackmustest auf ihre Politikfähigkeit: Eine Regierung, der es nicht gelingt, ihre eigenen Präferenzen und Vorhaben zu koordinieren, wird kaum in der Lage sein, gesamtgesellschaftliche Ziele und Programme durchzusetzen.

Koordination ist das halbe Leben

Naturgemäß ist der Koordinationsaufwand von Regierung zu Regierung sehr verschieden. Er hängt unter anderem ab von der Anzahl der an der Regierung beteiligten Parteien, der Konfliktbereitschaft der Koalitionspartner, den Mehrheitsverhältnissen im Parlament und der Durchsetzungsfähigkeit des Ministerpräsidenten. Das Tagesgeschäft der Abstimmungsbemühungen ist aber auch ein großer Zeit- und Ressourcenfresser. Es beansprucht etwa die Hälfte der Personalressourcen in den Regierungszentralen.

In einer idealen Welt würde die Koordination durch eine systematische strategische Planung einfacher, zielführender und in ihrem Umfang begrenzt. Tragischerweise unterbleibt die Planung aber, weil die Koordination ihre Ressourcen bindet. Es müsste daher Chefsache sein, für ein gesundes Verhältnis von Planung und Koordinierung zu sorgen. Die Sache scheitert aber an den Eigengesetzlichkeiten des Politikbetriebs: Was vom Ministerialbeamten " aus der Systemperspektive " koordinierende Abstimmung genannt wird, erscheint dem Ressortminister als eine Frage der (horizontalen) Interessendurchsetzung. Der Stellenwert der Planung korrespondiert mit der Stärke des strategischen Zentrums. In einer Landesregierung könnten diesem etwa der Ministerpräsident, der Chef der Staatskanzlei, der Fraktionsvorsitzende oder der Vorsitzende der Landespartei angehören. In anderen Fällen kommt es vielleicht mehr auf den Finanzminister oder den Generalsekretär der Landespartei an. Die Mechanik wäre damit einfach: Ein starkes strategisches Zentrum erhöht die Verbindlichkeit politischer Planung und mindert den Koordinationsaufwand.

Ziel und Richtung müssen deutlich werden

Mit dem fünften Schwachpunkt verbinden sich Not und Elend der Politikvermittlung: der Mangel an Narrativen. Wer Wahlen gewinnen will, benötigt nichts dringender als öffentliches Vertrauen in die eigene Problemlösungsfähigkeit. Legitimationsdefizite stellen sich dagegen ein, wenn die Wähler in bewegten Zeiten das Gefühl beschleicht, "die Mannschaft auf der Brücke steuere nur nach Sicht und ohne Radar". Vertrauen und Glaubwürdigkeit entstehen durch die Akzeptanz stiftende Vermittlung von Inhalten. Dazu sind Narrative besonders dienlich.

Wer politische Ziele und Vorhaben vermitteln will, muss anknüpfen an emotional und normativ besetzte, überwiegend unbewusst wirkende Basisvorstellungen. Tragend ist die Einsicht Tucholskys aus dem Jahr 1931: "Das Volk versteht das meiste falsch, aber es fühlt das meiste richtig." Ein Narrativ ist eine zusammenhängende Erzählung, die dazu dient, ein intellektuell fundiertes Argumentationsgerüst glaubhaft zu vermitteln. Die Geschichte hinter dem Regierungshandeln muss "fühlbar" werden. Bezogen auf die Landespolitik meint dies vor allem einen über den Koalitionsvertrag hinausgehenden Kompass, der den angestrebten Zustand des Landes in der Zukunft beschreibt. Ohne die Aufrechterhaltung von Sinn, Leitbildern und Begründungszusammenhängen ist jedenfalls keine echte Steuerungsfähigkeit des Spitzenakteurs zu haben.

Den sechsten und letzten Schwachpunkt bildet der Mangel an Strategen in den Regierungszentralen der Länder. Die verstärke Einstellung beziehungsweise Ausbildung "strategieaffinen" Personals wäre ein Schlüssel für die Verbesserung der Steuerungskapazität. Theoretisch ist allen Befragten klar, dass es ohne strategieorientierte Personalentwicklung keine nachhaltige Strategiefähigkeit der Ministerialverwaltung gibt. In der Realität des Lebens betragen die Fortbildungsbudgets in manchen Staatskanzleien jedoch unter 70 Euro pro Person und Jahr.

Woran es mangelt, sind geeignete akademische Fortbildungen für Landesbedienstete in den Bereichen Governance und Public Management. Zur Personalentwicklung müsste eine Personalrekrutierung kommen, bei der langfristig in die Strategiekompetenz von Regierungszentralen investiert wird. Der Anteil der über 55-Jährigen im öffentlichen Dienst der Länder ist im Jahr 2007 auf durchschnittlich 27 Prozent gestiegen. In den nächsten zehn Jahren kündigt sich daher ein Generationenwandel an, der die Chance birgt, gute junge Mitarbeiter für Politik und Verwaltung zu gewinnen. Genügend Leserinnen und Leser der Berliner Republik stehen hoffentlich bereit.

Kurz und gut: Das lesenswerte Büchlein nennt die Probleme beim Namen. Strategien zur Überwindung der strukturellen Steuerungsdefizite deuten die Autoren jedoch nur an. Insoweit steckt der Teufel im Detail einer Verwaltungspolitik, die die regulativen, normativen und kognitiven Seiten des Problems gleichermaßen angeht. Daran sollten wir arbeiten. 

zurück zur Ausgabe