"Staunen und Unverständnis"

Sein Land hat nur 460.000 Einwohner, aber seine Stimme hat Gewicht in Europa: Seit 2004 ist Jean Asselborn Außenminister und Vize-Premierminister von Luxemburg. Für seine Bemühungen um die deutsch-luxemburgischen Beziehungen und die enge europapolitische Zusammenarbeit wurde der Sozialdemokrat im Jahr 2010 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Für die "Berliner Republik" sprachen Johanna Lutz und Michael Miebach mit Jean Asselborn über das Verhältnis Deutschlands zu seinen Nachbarn, das "System Merkozy" in Europa und die Attraktivität des deutschen Modells für andere Staaten

Mit ihrem Auftreten als Eiserne Lady und ihre Forderung, alle Bürger Europas müssten sich endlich „gleich anstrengen“, ist Bundeskanzlerin Angela Merkel in vielen südeuropäischen Ländern zur Persona non grata geworden. Macht sich Deutschland bei seinen Nachbarn in der Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise unbeliebt?

In der Tat: Angela Merkel hat seit ihrem zweiten Amtsantritt teilweise sehr harte und strenge Positionen bezogen, die bei so manchem EU-Mitgliedsstaat und internationalen Partner großes Staunen, gar Unverständnis geweckt haben. Übrigens nicht nur im Kontext der Wirtschafts-, Finanz- und Staatsschuldenkrise: Als deutsche Bundeskanzlerin zu behaupten, die multikulturelle Gesellschaft sei fehlgeschlagen, ist ein sehr gewagtes Statement, das ruhige, stabile und vertrauensvolle nachbarschaftliche Beziehungen unnötig stört. Die Europäische Union ist seit Jahrzehnten darum bemüht, die Integration nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im sozialen Sinne voranzutreiben. In der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik strebt die Union stets auch die Verteidigung der Menschenrechte sowie den Dialog und die Zusammenarbeit zwischen den Nationen an. Die Basis für den Erfolg des Friedensprojekts Europa kann nur inklusives Denken sein, nicht exklusives. Darum ist es ein Fehler, EU-Mitgliedsstaaten, die heute sehr stark unter den Folgen der Schuldenkrise leiden, zu harte Zugeständnisse aufzuzwingen oder gar den Ausschluss aus der Eurozone zu diskutieren. Als stärkste Wirtschaftskraft der EU, als Export-Europameister und als einer der größten Gewinner der Einführung des Euro muss Deutschland darauf achten, den Zusammenhalt der EU nicht unnötig zu strapazieren.

Wir Deutschen haben vor dem Hintergrund unserer Geschichte lange große Anstrengungen unternommen, uns mit unseren Nachbarn auszusöhnen und unser Image aufzupolieren. Willy Brandt sagte „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn werden im Innern und nach außen.“ Ist diese Periode der Nachkriegszeit vorbei?

So weit würde ich nicht gehen. Die Ostpolitik Willy Brandts legte den Grundstein zur Aussöhnung und zum Wiederaufbau guter nachbarlicher Beziehungen zwischen Deutschland und seinen Partnern. Jedoch hat sich der geschichtliche Kontext verändert – aufgrund des rasanten Fortschritts der europäischen Integration, der EU-Erweiterungen und der Globalisierung. Die Nachbarschaft Deutschlands hat sich tiefgreifend gewandelt und ist heute ein wesentlicher Bestandteil der Europäischen Union. Ein voller Erfolg! Auch wenn im Kontext der Krise zum Teil recht harsche Töne aus Berlin zu hören waren, bin ich überzeugt, dass die Deutschen das Gedankengut Willy Brandts jeden Tag leben. Ich darf daran erinnern, dass täglich rund 50.000 Deutsche zum Arbeiten nach Luxemburg kommen und einen wesentlichen Bestandteil unserer Wirtschaft ausmachen. Im Gegenzug zieht es immer mehr Luxemburger ins Saarland und nach Rheinland-Pfalz. Luxemburgs bilaterale Beziehungen zum deutschen Nachbarn sind ausgezeichnet.

Haben wir es in Europa mit einer Krise der Nachbarschaft zu tun?

Nein, sondern wir beobachten konjunkturelle nachbarschaftliche Spannungen, die aus der Wirtschafts- und Schuldenkrise resultieren: Es ist deutlich geworden, dass einige Mitgliedsstaaten Probleme mit der Einhaltung des Stabilitäts- und Wirtschaftspakts und vor allem auf der Ebene des Binnenmarktes haben. Dies hat einige Politiker dazu verführt, auf simplistische und populistische Weise, einen oder gar mehrere Nachbarn öffentlich für diese Missstände an den Pranger zu stellen. Der Solidaritätsgedanke geriet vollkommen in Vergessenheit. Das hat die Krise nur noch verschlimmert, Zeit gekostet und unnötige Verstimmungen verursacht. Doch grundsätzlich glaube ich, dass innerhalb der EU alle Mitgliedsstaaten weiterhin über alle Probleme miteinander sprechen können. In konstruktiver Zusammenarbeit werden wir Lösungen finden. Auch wenn manchmal mit harten Bandagen gestritten wird.

Was macht gute Nachbarschaft in Europa überhaupt aus?

Gute nachbarliche Beziehungen zeichnen sich heute durch regelmäßige bilaterale Treffen auf verschiedenen Ebenen aus: zwischen den Regierungen, aber auch auf der Ebene der Städte und Gemeinden. Das Zusammengehörigkeitsgefühl ist die Basis des Bewusstseins, dass Europa eine Schicksalsgemeinschaft ist. Wir brauchen unsere Nachbarn in jeder Hinsicht mehr denn je. Die regionale und grenzüberschreitende Zusammenarbeit wird immer wichtiger. Deshalb versucht Luxemburg, alles dafür zu tun, um die Großregion Saar-Lor-Lux weiterzuentwickeln. Grundsätzlich benötigt man starkes gegenseitiges Vertrauen und Offenheit, um verlässliche und stabile nachbarschaftliche Beziehungen aufzubauen und zu erhalten.

Jüngst hat spannenderweise ausgerechnet der polnische Außenminister Radosław Sikorski von Deutschland mehr „Führung“ verlangt. Wie wird Deutschland von seinen Nachbarn ihrem Eindruck nach derzeit wahrgenommen? Gibt es sie gar nicht mehr, die alte Angst vor der deutschen Dominanz in Europa?

Nein, ich halte diese Angst für ein emotionales Konstrukt, das im Kontext der Staatsschuldenkrise entstanden ist. Es findet Anklang, weil es einfache Erklärungen bietet, mit denen sich das Handeln mancher Staats- und Regierungschefs deuten und in der Öffentlichkeit karikieren lässt. In Wirklichkeit haben sich die Deutschen zu den verantwortungsvollsten Bürgern der Europäischen Union entwickelt. In vieler Hinsicht ist Deutschland ein Modell für andere Staaten. Sikorski hat Recht: Man erwartet von Deutschland Führungsqualitäten, zumal in der jetzigen Situation. Als führende Wirtschaftsmacht Europas muss Deutschland seinen Teil dazu beitragen, die Krise zu meistern – und mithelfen, Europa auf die Zukunft vorzubereiten. In diesem Sinne erwarte ich auf EU-Ebene weitsichtige Entscheidungen, die den allgemeinen europäischen Interessen Rechnung tragen, und nicht von deutschen, innenpolitischen oder gar parteipolitischen Interessen beeinträchtigt werden. Wir meistern diese Krise nur, wenn wir gemeinsame Lösungen finden und europäisch denken. Vor allem muss dieses Denken und Handeln auf der Gemeinschaftsmethode fußen, nicht auf zwischenstaatlichen Prinzipien.

Seit Monaten treffen Frankreich und Deutschland die wichtigsten Absprachen bilateral. Werden im „System Merkozy“ die kleinen von den großen Nachbarn an die Wand gedrängt?

Diesen Eindruck teile ich auch, aber nur manchmal und nur ganz augenblicklich! Ein Beispiel: Im Oktober 2010 trafen sich Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Sarkozy im französischen Badeort Deauville um – wieder einmal – richtungsweisende Entscheidungen der EU vorzubereiten. Die Absicht war klar: Frankreich und Deutschland, der Motor Europas, arbeiten und führen die EU aus der Krise. Ganz großes Theater und enormer Medienandrang! Zu dem Zeitpunkt bekam man tatsächlich den Eindruck, dass wichtige Absprachen ausschließlich bilateral zwischen Frankreich und Deutschland getroffen und die Entscheidungen hinterher den übrigen 25 Mitgliedsstaaten aufgezwungen werden. Aber: Ironischerweise sind die Entscheidungen, die Merkel und Sarkozy in Deauville trafen und welche die Diskussionen und Bemühungen der Mitgliedsstaaten monatelang negativ beeinflussten, völlig vom Tisch. Zum Teil wurden sie sogar ins Gegenteil verkehrt. Das ist der Beweis, dass Deutschland und Frankreich die EU nicht dominieren. Dieser Eindruck ist nur dadurch entstanden, dass alle Mitgliedsstaaten sich schwer tun, den Lissaboner Vertrag in die Tat umzusetzen. Seit seinem Inkrafttreten und mit dem Amtsantritt von Herman Van Rompuy und Catherine Ashton ist ein regelrechter Kampf um Einfluss entbrannt. In Kombination mit den Konsequenzen der Staatsschuldenkrise – welche ja oft fälschlicherweise als „Eurokrise“ verschrien und so völlig falsch dargestellt wird – ist die EU in national-orientiertes Denken zurückgefallen, statt den Weg tieferer gemeinsamer Integration zu wagen.

Das Besondere an der EU ist, dass Nachbarn Kompetenzen an supranationale Institutionen abgegeben haben. Es handelt sich also gar nicht um ein gemeinsames „Haus Europa“ mit einzelnen Wohnungen, sondern eher um eine Wohngemeinschaft mit WG-Besprechungen und einem WG-Vorstand. Nun versuchen die Regierungen, die gemeinschaftlichen Strukturen zu unterlaufen. Die geplante „Wirtschaftsregierung“ soll ein Gremium der nationalen Exekutiven sein.

Was die geplante Wirtschaftsregierung angeht, sind die Verhandlungen über ihre Kompetenzen und Funktionen noch nicht beendet. Obwohl in den vergangen Tagen tatsächlich der Eindruck entstanden ist, das Europaparlament und die Kommission könnten marginalisiert werden, bin ich der festen Überzeugung, dass dies nicht geschehen wird, zumal – schlussendlich – der zwischenstaatliche Vertrag in die europäischen Verträge integriert werden muss. Wenn dies so kommt, muss die institutionelle Gleichgewichtung zwischen Kommission, Parlament und dem Rat, respektive der Wirtschaftsregierung, garantiert bleiben.

Mit der Wirtschafts- und Fiskalunion versucht die Bundesregierung, das deutsche Austeritätsmodell in ganz Europa durchzusetzen – europaweite Sparanstrengungen als Bedingung finanzieller Hilfen. Viele Ökonomen kritisieren, dass Europa die Krise auf diese Weise nur weiter verschärfen wird. Haben sie Recht?

Ob Ökonomen Recht haben, wird die Zukunft zeigen. Ich bin der Ansicht, dass zu viele Sparmaßnahmen der EU auf Dauer schaden und nicht aus der Krise herausführen. Man darf die europäische Wirtschaft nicht erdrosseln, sondern muss versuchen, wirtschaftliches Wachstum zu fördern. Dafür benötigen wir keine weiteren Sparprogramme, sondern strukturelle Verbesserungen der EU-Entscheidungsmechanismen und eine bessere Koordinierung der Wirtschaftspolitiken der einzelnen Mitgliedsstaaten. Mit anderen Worten: Wir müssen jene Entscheidungen in die Tat umsetzen, die bereits vor der letzten Sitzung des Europäischen Rats im Dezember 2011 beschlossen wurden, zum Beispiel das europäische Semester, die Bestimmungen des so genannten „Six Pack“ oder den Euro Plus Pakt.

Die europäischen Nachbarn haben sehr unterschiedliche Wirtschafts- und Sozialmodelle, aus denen sehr unterschiedliche Wettbewerbsvor- und -nachteile resultieren. Wie sinnvoll ist es, wenn das – derzeit aufgrund des wirtschaftlichen Erfolgs sehr attraktiv erscheinende – „deutsche Modell“ von den Nachbarn kopiert wird?

Es geht darum, Krisen vergleichbaren Ausmaßes in Zukunft – das heißt auf lange Dauer – zu verhindern. Dazu bedarf es in manchen Mitgliedsstaaten tief greifender Reformen. Aber die EU selbst ist das Modell. Darum haben wir für den Lissabonner Vertrag gekämpft.

Großbritannien – zumindest England – scheint sich immer stärker von der EU abzuwenden. Entfernt sich ein wichtiger Nachbar?

Historisch gesehen hat Großbritannien seit jeher eine besondere Beziehung zum europäischen, kontinentalen Festland. Auch pflegen die Briten ein traditionelles, fast romantisches Gefühl der Unabhängigkeit, wie das sture Festhalten am britischen Pfund zeigt. Teilweise leben die Briten ja noch in dem Glauben, im Besitz ihres „Empire“ zu sein, in Form des heutigen British Commonwealth. Das Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU ist seit langem eher kühl. Die Briten sind darauf bedacht, stärker als andere Mitgliedsstaaten erheblichen Einfluss auf die Entscheidungsprozesse innerhalb der EU zu haben – vor allem in jenen Fällen, wo ihre nationalen Interessen betroffen sind.

Hat die Verteidigung nationaler Interessen einen Preis?

Genau, der Preis ist Solidarität. Die Briten haben sich mit diesem Vorgehen selbst in eine gewisse Sackgasse manövriert. Die Entwicklung des Verhältnisses von Großbritannien zur Europäischen Union unter Premierminister David Cameron ist auch deshalb besorgniserregend, weil man die weitere Dynamik im Kontext der Krise nicht vorhersehen kann. Großbritannien ist für die EU ein unentbehrliches Mitglied. Umgekehrt braucht das Land die Europäische Union. Es wird höchste Zeit, dass diese Tatsache manchen britischen Regierungsmitgliedern bewusst wird. Sonst riskieren sie, dem Verhältnis Großbritanniens zur EU nachhaltigen Schaden zuzufügen – mit unvorhersehbaren Konsequenzen.

Von guter Nachbarschaft profitieren langfristig alle Seiten. Dennoch fällt es den europäischen Regierungen derzeit schwer, ihren Bevölkerungen die Notwendigkeit gegenseitiger Solidarität zu erklären. Fehlt es an politischem Mut oder an schlüssigen Argumenten?

Ich glaube, es fehlt vor allem ein Element: genügend Zeit, um der Öffentlichkeit die ganze Komplexität der Krise sowie die getroffenen Gegenmaßnahmen adäquat zu erklären. Die Politik steht seit Ausbruch der Krise unter enormem Zeitdruck, zumal das Rennen von einem Krisengipfel zum nächsten praktisch immer von Schocknachrichten begleitet wird. Mal sorgen die Fluktuationen an den Finanzmärkten für Aufregung, mal die Herabstufungen der Kreditwürdigkeit einzelner Eurostaaten durch die Rating-Agenturen. Die Rolle der Rating-Agenturen im Zusammenhang mit der Staatsschuldenkrise ist, mit europäischen Augen betrachtet, destruktiv. Objektiv haben die 27 EU-Länder seit Ausbruch der Krise bereits enorme Schritte unternommen, um die Solidarität zu stärken. Doch demokratische Prozesse sind nun mal nicht so schnell wie Transaktionen an den Finanzmärkten. Die Politik hat durchaus den Mut, die gegenseitige Solidarität innerhalb der EU weiter zu stärken, die Integration voranzutreiben und dieses Vorgehen auch in der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Der Erfolg wird allerdings davon abhängen, ob wir auch fähig sind, Wachstum, also Arbeitsplätze, zu sichern und zu schaffen. Innerhalb der EU sind derzeit 27 Millionen Menschen ohne Beschäftigung!

Die anhaltende Finanzkrise hat sehr unterschiedliche Haltungen gegenüber Europa verstärkt: Die einen fordern mehr Solidarität und Kooperation, die anderen verlangen, vorrangig die nationalen Interessen zu wahren. Wie wahrscheinlich ist das Auseinanderdriften eines „Kerneuropas“ und eines „Resteuropas“?

De facto besteht schon heute eine Kluft, nämlich zwischen den 17 Staaten, die die gemeinsame Währung bereits benutzen, und den übrigen 10 Ländern mit eigener Währung. Auch gibt es eine Kluft zwischen den Mitgliedern des Schengen-Raums und den Staaten, die es noch nicht sind. Laut EU-Vertrag müssen alle Mitgliedsländer eines Tages die gleiche Währung benutzen. Der Zwist zwischen mehr Solidarität und Zusammenarbeit auf der einen und der Wahrung nationaler Interessen auf der anderen Seite ist so alt wie die EU selbst. Momentan geht es vor allem darum, die Bestimmungen des Lissabonner Vertrages hinsichtlich der Entscheidungsprozesse auf Gemeinschaftsebene zu verwirklichen. Hier beobachte ich die Entwicklungen mit Besorgnis: weg von der Gemeinschaftsmethode hin zu mehr zwischenstaatlichen Entscheidungen. Diesem Trend muss entgegengewirkt werden. Die Kompetenzen der Europäischen Kommission sollten dringend ausgedehnt werden auf Politikfelder, auf denen gemeinschaftliches Handeln die besseren Lösungen bieten würde – vor allem, wenn wir tatsächlich eines Tages eine Union haben möchten, die mit einer Stimme spricht. In anderen Worten, ultimatives Ziel ist es, alle zusammen auf der gleichen Seite, im gleichen Kapitel des gleichen Buches zu sein.

Manchmal bekommt man mit, dass bei Nachbarn etwas falsch läuft. Sollte man sich als wachsamer Nachbar einmischen, zum Beispiel in die politische Entwicklung Ungarns?

Die Integration ist so weit vorangeschritten, dass innenpolitische Entscheidungen Einfluss haben auf die Gemeinschafts-ebene. Im Falle Ungarns habe ich seit Dezember 2010 auf die gefährlichen Entwicklungen hingewiesen und diese verurteilt. Die Regierung Orbán ist auf dem Holzweg und verletzt nicht nur allgemeine europäische Gesetze, sondern auch fundamentale europäische Werte. Als Außenminister besteht ein Großteil meiner Arbeit darin, eben diese europäischen Werte – basierend auf dem Erbe der großen Errungenschaften und Erkenntnisse der europäischen Geschichte – zu verteidigen und zu verbreiten. Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Toleranz – dafür müssen wir Europäer jeden Tag eintreten. Wenn EU-Mitgliedsstaaten selbst solche Werte in Frage stellen und sie mit hinterhältigen und praktisch unumkehrbaren Mitteln einzuschränken versuchen, betrifft das die Glaubwürdigkeit der europäischen Außenpolitik, ebenso wie die Integrität der gesamten EU. In diesem Fall ist es gerechtfertigt, wenn sich die anderen Mitgliedsstaaten in die Innenpolitik einmischen und die Kommission handelt. Wir dürfen keinen menschenrechtlichen Schandfleck in der EU dulden.

Auch die EU als Einheit hat Nachbarn. Welchen Stellenwert hat die EU-Nachbarschaftspolitik eigentlich noch in Anbetracht der aktuellen Vertrauenskrise innerhalb der Union?

Die gemeinsame Nachbarschaftspolitik ist und bleibt ein unentbehrlicher Bestandteil der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Die Beziehungen zu unseren südlichen und östlichen Nachbarn genießen einen sehr hohen Stellenwert. Jeden Monat beraten die europäischen Außenminister über die Lage in der europäischen Nachbarschaft, im Jahre 2011 vor allem mit Blick auf den arabischen Frühling oder die Entwicklungen in der Ukraine und in Weißrussland. Die gemeinsame Nachbarschaftspolitik regelt die Beziehungen zu unseren Nachbarn und bietet somit den geeigneten Rahmen für stabile, vertrauensvolle und stetig wachsende Kontakte. Durch die Zusammenarbeit im Rahmen der EU-Nachbarschaftspolitik versuchen wir, sowohl wirtschaftliche Stabilität zu garantieren, als auch weitere Fortschritte im Demokratisierungsprozess der verschiedenen Länder zu begleiten und voranzutreiben.

Das geplante Assoziationsabkommen der EU mit der Ukraine ist nicht zustande gekommen, ein Abkommen zu Visumserleichterungen mit Belarus liegt wegen der dortigen politischen Situation ebenfalls auf Eis. Die politischen Systeme im Mittelmeerraum sind im Umbruch. Was müsste die EU-Politik tun, um gute Nachbarschaft zu fördern?

Ich warne davor, in Sachen Nachbarschaftspolitik zu sehr zu verallgemeinern. Man muss differenzieren, vor allem zwischen dem Süden und dem Osten, weil die politische, geostrategische, wirtschaftliche und soziale Lage dieser beiden Regionen sehr unterschiedlich ist. Auch die einzelnen Länder der jeweiligen Regionen sollte man nicht in einen Topf werfen. Die Situation in der Ukraine unterscheidet sich sehr von jener in Weißrussland; die Lage in Syrien ist anders als in Libyen.

Was bedeutet diese Erkenntnis für die EU-Nachbarschaftspolitik?

Die EU ist gezwungen, ihre Politik flexibel zu gestalten und sich nicht auf einen One-size-fits-all-Ansatz zu beschränken. Um gute Nachbarschaft zu fördern, sollte sich die EU gegenüber seinen Nachbarn weiter engagieren und die Beziehungen vertiefen, zum Beispiel auf dem Gebiet des Handels oder beim Dialog über Menschenrechte. Dies gilt vor allem im Verhältnis zu unseren östlichen Nachbarn. Im Verhältnis zu unseren südlichen Nachbarn, die ja eine sehr interessante Phase durchmachen, sollte die EU alles daran setzen, um den Demokratisierungsprozess zu begleiten, den Wiederaufbau staatlicher Strukturen und der Rechtsstaatlichkeit zu unterstützen und den europäischen Binnenmarkt zugänglicher zu gestalten. Die EU muss versuchen, ihr Know-how nach außen zu tragen und die Nachbarschaftsregionen so zu stabilisieren.

Herzlichen Dank für das Gespräch.


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