"Die Politik ist gefordert"

Wie schafft man es, anständig zu essen? Das wollte die Schriftstellerin Karen Duve wissen: Zehn Monate lang ernährte sie sich zunächst nur von Bio-Produkten, anschließend vegetarisch, dann vegan und zuletzt zwei Monate frutarisch. Zugleich beschäftigte sie sich intensiv mit Massentierhaltung, Schlachtmethoden und Ernährungsphilosophien. Ihr Experiment hat sie in dem Buch »Anständig essen« dokumentiert. Mit Karen Duve sprachen Johanna Lutz und Bettina Munimus

Wie kamen Sie auf die Idee, Ihre Ernährung radikal umzustellen?

Den Anlass gab meine neue Mitbewohnerin, die immerzu mein Einkaufs- und Essverhalten kommentierte. Erst habe ich mich darüber geärgert, aber dann hat sie mich zum Nachdenken gebracht. Mir war eigentlich schon lange klar gewesen, wie grausam bei uns Tiere gehalten werden. Aber das hatte ich bis dahin immer verdrängt. Ich denke, das geht den meisten Menschen so. Fast jeder hat schon einmal Bilder von Massentierhaltungen im Fernsehen gesehen. Laut Umfragen möchten rund 90 Prozent der Bevölkerung nicht, dass Tiere gequält werden. Dennoch essen fast alle Fleisch von gequälten Tieren. Es besteht eine große Diskrepanz zwischen dem, wie wir uns ernähren, und unserem Wertesystem.

Wenn es einen Konsens gibt, warum werden die Gesetze dann nicht entsprechend geändert?

Die Leute mögen keine Lösungen, die persönlichen Verzicht bedeuten. Und das Fleisch soll bitte genauso billig sein wie vorher. Ein ähnliches Muster werden wir erleben, wenn wir künftig auf Atom-Strom verzichten: Auch dafür werden wir zunächst tiefer in die Taschen greifen müssen. Allerdings halte ich den Konsens gegen Quälerei in der Massentierhaltung für stark genug. Die Politik kann den Menschen also durchaus mehr zumuten. Echte Änderungen scheitern eher an der Landwirtschafts- und Industrielobby. Beispielsweise stellen nur acht Firmen den größten Teil unserer Lebensmittel her – mit entsprechender Marktmacht. Viele Politiker haben Angst davor, unliebsame Entscheidungen zu treffen. Sie gehen davon aus, an Zustimmung zu verlieren, wenn sie zur Einschränkung des Fleischkonsums aufrufen oder Fleisch teurer wird.

Wenn die Politik die Produktionsbedingungen nicht neu regelt, ist der Verbraucher gefragt.

Aber es kann nicht allein Aufgabe des Konsumenten sein, die Nahrungsmittelproduktion zu beeinflussen. Die staatliche Kontrolle muss stattfinden, bevor die Produkte im Supermarkt landen. Die Politiker haben den Auftrag, die Interessen der Bevölkerung durchzusetzen. Und in Deutschland liegt es im Interesse der Bevölkerung, dass keine Tiere gequält werden. Die Politik ist gefordert. Schließlich handelt es sich um eine der großen ethischen Fragen dieser Zeit: Wie gehen wir mit den Tieren in unserer Obhut um?

Sie haben sich dennoch für den Weg der Selbstverantwortung entschieden und leben fleischlos.

Solange die Politik nichts tut, kommen die Verbraucher leider nicht darum herum, selbst Verantwortung zu übernehmen. Für den Einzelnen ist das ziemlich aufwändig. Wer weiß schon, welche Form von Tierhaltung überhaupt artgerecht ist. Wie viel Platz benötigt ein Schwein? Welche Folgen haben die verschiedenen Haltungs- und Produktionsformen etwa für die Regenwälder, die Umweltverschmutzung und unser Klima? Und dann soll der Verbraucher im Supermarkt auch noch die verschiedenen Gütesiegel auf den Produktpackungen richtig zu deuten wissen. Das alles überfordert die Leute, deshalb ist die Politik gefragt. Man muss sich darauf verlassen können, dass bei uns nur Nahrungsmittel in den Supermarkt kommen, die nicht gesundheitsschädlich sind und die uns nicht zu Mittätern machen.

Ist „anständig essen“ nicht auch eine Frage des Geldbeutels?

Wer glaubt, Fleisch sei billig, der irrt. Wir bezahlen schon jetzt dafür Subventionen in Millionenhöhe. Und demnächst kommen auch noch die Kosten der globalen Erwärmung durch die Fleischproduktion hinzu – horrende Kosten, die wir alle werden bezahlen müssen. Leider merken die Verbraucher erst durch Skandale, dass die Herstellung zu solchen Dumpingpreisen ab einem bestimmten Punkt nur noch auf kriminellem Wege möglich ist.

Viele Vegetarier sehen Menschen und Tiere als gleichwertige Lebewesen an. Aber Tiere essen doch auch andere Tiere. Wie fließend ist da die Moral?

Wissenschaftlich gesehen – und wie will man es sonst sehen? – gehören Menschen nun einmal ins Tierreich. Was uns von anderen Tieren möglicherweise unterscheidet:  Menschen sind in der Lage, über ihre Handlungen zu reflektieren. Sie haben die Wahlmöglichkeit, etwas Anderes zu essen. Wir berufen uns gern auf unsere ungewöhnliche Intelligenz, wenn wir belegen wollen, dass Menschen mehr Rechte zustehen sollten als Tieren, aber man könnte darin auch genauso gut eine Verpflichtung sehen. Dennoch ist es tatsächlich schwierig, eine moralische Grenze festzumachen. Aber Tiere aus Massentierhaltung, dieses Supermarktfleisch, zu essen geht jedenfalls gar nicht – das ist die allerunterste Schamgrenze.

Welche Gründe gibt es neben der Moral, auf vegane oder vegetarische Ernährung umzusteigen?

Auch den puren Eigennutz. Beispiel Klimaerwärmung: Wir wissen, dass die Methangase und der hohe CO2-Ausstoß zu einem nicht unbeachtlichen Teil die globale Erwärmung verursachen. Das gesamte weltweite Verkehrsaufkommen – Autos, Flugzeug, Schiffe – macht einen geringeren Anteil der Kohlendioxid-Belastung aus als die Fleischproduktion. Deshalb sollten wir nicht nur öfter mal das Auto, sondern vor allem häufiger mal den Grillteller stehen lassen. Das gilt vor allem angesichts der wachsenden Weltbevölkerung: Wenn alle Fleisch verzehren nach westlichem Vorbild, wird unser Klimaproblem noch katastrophaler, als es eh schon ist.

Das kann man den Menschen in Entwicklungsländern nur schwer klar machen.

Richtig. Die Industrienationen, auf deren Kappe der jetzige Zustand des Planeten ja überwiegend geht und die die Nutznießer dieses Raubbaus waren, müssen auch die ersten sein, die jetzt wieder zurückrudern. Ich könnte mir vorstellen, dass irgendwann jeder Bürger ein eigenes Kohlendioxid-Konto bekommt und sich dann aussuchen kann, ob er nach Thailand in den Urlaub fliegt oder ein Jahr lang Fleisch isst oder sich einen bestimmten Betrag auszahlen lässt.

In den Nachkriegsjahren galt der Sonntagsbraten als ein Symbol für Wohlstand.

Das ist lange her. Heute essen die einkommensschwächeren Schichten deutlich mehr Fleisch als die besserverdienenden.

Sie haben verschiedene Ernährungsweisen ausprobiert. Welche fällt am schwersten?

Frutarisch zu leben, also nur Pflanzenteile zu essen, deren Verzehr die Pflanze selbst nicht schädigt. Etwas zu anspruchsvoll für mich, diese Idee. Schwierig war aber auch jedes Mal die Umstellung von einem Speiseplan zum nächsten, weil man dabei Gewohnheiten aufgeben muss. Mit Ausnahme der frutarischen kann man sich sonst bei jeder Ernährungsweise sehr schmackhaft ernähren.

Fleisch gänzlich aufzugeben heißt für viele aber wirklicher Verzicht.

Ich sage ja nicht, dass das Spaß macht. Aber wir kommen nicht darum herum, unseren Fleischkonsum zumindest drastisch einzuschränken. Wenn einer denkt, dass er nicht auf seinen Sonntagsbraten verzichten kann, ohne ohnmächtig zu werden, dann soll er ihn in Gottes Namen essen. Aber er sollte das nicht als Vorwand nehmen, um auch alle anderen Tage in der Woche Fleisch zu essen, und er sollte darauf achten, dass es wenigstens kein Fleisch aus Massentierhaltung ist.

Kann fleischlose oder vegane Ernährung auch ungesund sein?

Mir ging es körperlich viel besser als vor dem Experiment. Bei vegetarischer Ernährung fehlen einem keinerlei Proteine – das sagen heute nicht einmal mehr die konservativsten Ärzte. Wer vegan lebt, muss etwas achtsamer sein, gegebenenfalls seinen Eisen- und Vitamin B12-Haushalt mit Präparaten aufpäppeln. Und man fühlt sich natürlich auch psychisch besser, wenn das eigene Handeln mehr den eigenen Wertvorstellungen entspricht. Allerdings muss ich zugeben, dass ich bei einem schönen Fleischgericht auf dem Teller anderer jetzt nicht immer sofort denke, „Oh, das arme Tier!“, sondern manchmal eben auch bloß: „Das sieht aber besser aus als auf meinem Teller!“

Warum ziehen die meisten Menschen trotz aller Erkenntnisse keine Konsequenzen?

Wir leben in einer sehr hektischen Zeit, und den Einkauf von Nahrungsmitteln erledigen wir meistens nebenbei. Wir kaufen häufig ohne nachzudenken, nahezu unbewusst. Bewusstheit braucht Zeit. Mitgefühl braucht Zeit. Die sollten wir uns nehmen. Unsere Nahrung ist das, woraus sich unser Körper und die eigene Leistungsfähigkeit bilden. Deswegen verdient sie mehr Respekt. «

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