Jungbrunnen oder Katzenjammer?

Welche Art von Oppositionspolitik die SPD betreiben muss, um aus ihrer neuen Rolle heraus wieder in die Vorhand zu kommen

Opposition ist Mist“, befand einst Franz Müntefering. Für die SPD gilt diese Losung nicht mehr. Bereits wenige Minuten nach der ersten Prognose am 24. September um 18 Uhr verkündeten führende SPD-Politiker, der künftigen Bundesregierung werde ihre Partei nicht mehr angehören. Verbunden mit dem Gang in die Opposition ist die berechtigte Hoffnung, vom Regierungsalltag befreit werde es einfacher sein, das eigene Profil zu schärfen. Hinzu kommt: Jenseits der Großen Koalition können die Sozialdemokraten eine neue Kooperationspolitik mit der Linkspartei vorbereiten, während zugleich die AfD daran gehindert wird, eine formale Führungsrolle in der Opposition einzunehmen.

Doch die Revitalisierung auf den Oppositionsbänken ist kein Selbstläufer. Tatsächlich gibt es nur wenige Fälle, in denen der Oppositionsstatus zu sozialdemokratischer Erneuerung geführt hat. Das zeigen die Beispiele Bayern und Hessen, wo die SPD seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr regiert, ohne dass dort attraktive Landesparteien entstanden wären. Auch die 16 Jahre Opposition auf Bundesebene zwischen 1982 und 1998 führten nicht dazu, dass zum Zeitpunkt der Regierungsübernahme die Schubladen mit überzeugenden Programmen, Projekten und Strategien gefüllt waren. Kurzum: Um in den kommenden vier Jahren einen „Katzenjammer“ (Sigmar Gabriel) zu vermeiden, muss die SPD die Voraussetzungen für einen strategischen Prozess der Erneuerung schaffen. Dafür sind mindestens drei Schritte notwendig.

Erstens geht es darum, die Niederlage vom 24. September aufzuarbeiten – gründlicher und ernsthafter als in den Jahren 2005, 2009 und 2013. Impulsreferate von Demoskopen im Parteivorstand reichen dafür nicht aus. Vonnöten ist ein strategischer Prozess auf höchster Ebene, in dem die spezifischen Ursachen und Hintergründe der Wahlniederlage herausgearbeitet und Deutungsmuster entwickelt werden. Genau zu ergründen sind besonders die offenbar mangelhaften Vorbereitung auf den Wahlkampf im Willy-Brandt-Haus und die Kampagnenunfähigkeit des Parteiapparates; die fehlende Kompetenz, sich auf den Kandidaten einzustellen, um diesem einen authentischen und inhaltlich profilierten Wahlkampf zu ermöglichen; das Unvermögen der Partei, sich als programmatische und personelle Alternative zur Merkel-Union zu präsentieren; sowie die tieferen Gründe für die gesellschaftliche Rechtsbewegung und das Erstarken der AfD.

Zweitens sind auf der Basis dieser umfassenden Analyse harte Konsequenzen zu ziehen. In einem – zweifellos schmerzhaften – Prozess wird sich die SPD habituell, kulturell, programmatisch, organisationsstrukturell und personell verändern müssen. Dabei ist auch die Frage zu beantworten, wie ein allseits akzeptiertes strategisches Zentrum geschaffen werden kann, das im Alltag und erst recht in Krisenzeiten handlungsfähig ist. Zu den Kernaufgaben dieses Steuerungszentrums wird es gehören, die SPD inhaltlich konfliktfähiger gegenüber den Mitbewerbern zu machen als in der Vergangenheit. Denn besonders in den Jahren der Großen Koalition haben es die Sozialdemokraten nicht hinreichend vermocht, der breiten Öffentlichkeit eigene Positionen dadurch deutlich zu machen, dass sie Auseinandersetzungen punktuell eskalieren ließen. Politik bedeutet Konflikt, Widerspruch, Reibung. Das muss die SPD neu lernen und verinnerlichen.

Auch die Opposition bietet Chancen

Drittens und ebenso wichtig: Die SPD muss eine kluge und reflektierte Oppositionspolitik betreiben, die die Neujustierung des Sechs-Parteien-Systems berücksichtigt. Idee und Praxis der Opposition als Jungbrunnen der Demokratie können neu belebt werden. Dann wäre Opposition nicht „Mist“, sondern der Dünger für eine lebendige Demokratie und eine bessere Welt von Morgen. Dabei geht es auch darum, die Oppositionsrolle als Machtposition zu definieren, die über das Parlament in den Bundesrat und in das weite Feld der öffentlichen Kontroversen hinausreicht.

Kein Zweifel: Die Opposition bietet Chancen – besonders sofern Angela Merkel angeschlagen bleibt und sich in einem Jamaika-Wackelbündnis durch ihre letzte Wahlperiode quälen muss. Andererseits birgt der Oppositionskurs auch mehrere Risiken: Die übrigen Oppositionsparteien werden lauter, radikaler und profilierter auftreten. Immer wieder wird der SPD vorgehalten werden, Maßnahmen zu kritisieren, die sie in den Jahren der Regierungsverantwortung selbst mitgetragen hat. Vor allem aber wird die Jamaika-Koalition für sich beanspruchen, die breite Mitte der Gesellschaft zu vertreten, was den gefühlten Spielraum für konstruktiv-kritische Oppositionsarbeit einschränken könnte.

Es liegt an der SPD selbst, in dieser schwierigen Gemengelage eine plausible, attraktive und offensive Oppositionsstrategie zu entwickeln. Dabei sollte zunächst zu denken geben, dass die SPD bei der Wahl 2017 nur etwa zwei Drittel ihrer Wähler von 2013 halten konnte – ein vergleichsweise geringer Wert. Die ehemaligen SPD-Wähler haben sich in alle Himmelsrichtungen verabschiedetet, zu Union und FDP, zu den Grünen und zur Linkspartei, zu den Nichtwählern und zur AfD. Allein auf dieser Basis gibt es somit keine Evidenz für die weiteren Schritte. Und trotzdem: In welche Richtung könnte es gehen?

Das Zukunftslager der linken Mitte

Lange Zeit strukturierte die so genannte Lagertheorie den Parteienwettbewerb – für den Wähler, aber auch aus Sicht der Parteien. Jedoch befindet sich das deutsche Parteiensystem seit einigen Jahren in einem fluiden Prozess der Ausdifferenzierung und Polarisierung. Geschüttelt und gerüttelt werden dabei besonders die beiden Volksparteien. Ausdifferenzierung bezeichnet die Entwicklungen im linken und rechten Lager des Parteiensystems. Was im linken Lager mit der Etablierung der Grünen begann und sich mit der Linkspartei fortsetzte, vollzieht sich mit der AfD nun auch im rechten Lager. Ausdifferenzierung bedeutet zunächst immer auch Polarisierung, und zwar sowohl innerhalb wie zwischen den Lagern. Dieser Prozess hat weitreichende Auswirkungen auf die Koalitionsmöglichkeiten.

Das linke Lager aus SPD, Grünen und Linkspartei ist aufgrund des fehlenden Willens der Linkspartei, Koalitionen zu bilden, de facto pathologisiert. Lange Jahre war der Parteienwettbewerb zwischen links und rechts deshalb asymmetrisch: Da SPD und Grüne zusammen nicht stark genug waren, fehlte dem linken Spektrum eine eigene Machtperspektive. Mit dem Aufkommen der AfD hat die Pathologisierung nunmehr auch das rechte Lager erreicht.

Obwohl sich das Parteiensystem in den vergangenen Jahren nach rechts entwickelt hat, ist das rechte Lager aufgrund der nicht vorhandenen Koalitionsfähigkeit der AfD alleine nicht mehrheitsfähig. Somit müssen die Grünen aushelfen, eine Koalition des Mitte-rechts-Lagers zu bilden. Die neue Durchlässigkeit zwischen Union, FDP und Grünen ist das Ergebnis der strukturellen Schwäche der SPD und damit des linken Lagers insgesamt. Sollte diese Schwäche fortbestehen oder sich sogar vertiefen, dürfte der Parteienwettbewerb künftig eine veränderte Struktur und Dynamik erhalten.

Ein Lager ist als eine Art politische Tiefenstruktur zu verstehen. Gehen die Parteien eines Lagers im Hinblick auf die Wählerschaft arbeitsteilig vor und passt ihre Programmatik zueinander, kann es sich von einem „Lager an sich“ zu einem „Lager für sich“ entwickeln, also zu einer Regierungsbildung von Parteien eines Lagers. Weil in Deutschland aber rot-grüne oder schwarz-gelbe Regierungen immer unwahrscheinlicher geworden sind, meinen viele, dass die Orientierung auf Lager von einer Mitte-Orientierung abgelöst worden sei.

Während die Parteien noch immer in den alten Lagerkategorien dächten und handelten, so die Annahme, seien die Wählerinnen und Wähler längst weiter: Anstatt im klassischen Sinne „Partei zu ergreifen“, gehe es ihnen darum, den Status quo pragmatisch, unideologisch und behutsam an eine veränderte Umwelt anzupassen. Das Maß der Dinge sei die Mitte. Die Bürger hätten den eher rückwärtsgewandten Parteien die Mitte-Struktur durch ihr Wahlverhalten erst aufzwingen müssen – 2005 und 2013 mit der Großen Koalition, nun mit „Jamaika“. Diese Perspektive würde für die SPD bedeuten, dass sie längerfristig nicht mehr an die Macht kommen könnte. Deshalb muss sie ein veritables Interesse daran haben, ein anderes, neues Zukunftslager der linken Mitte zu definieren, das unter ihrer Federführung zusammenfinden kann.

Die Reaktivierung der Lagertheorie kann sehr unterschiedlich ausfallen. Manche empfehlen der SPD, nach dem Vorbild Jeremy Corbyns eine radikale linke Alternative anzubieten. Eine solche Strategie wäre zum Scheitern verurteilt. Sie berücksichtigt die tektonischen Plattenverschiebungen des Parteiensystems zu wenig. Das Stimmenpotenzial der SPD lässt sich – trotz starker Sensibilität einer Mehrheit der Wähler für das Gerechtigkeitsthema – mit einem solchen Kurswechsel nicht ausschöpfen. Das liegt vor allem daran, dass die klassisch sozialistischen Antworten, für die zum Beispiel Jeremy Corbyn steht, meistens weder funktionieren noch mehrheitsfähig sind. Gleichwohl ist eine Linksverschiebung in verteilungspolitischen und sozialstaatlichen Fragen durchaus denkbar. Dabei kann es aber nicht um einen Ähnlichkeitswettbewerb mit der Linkspartei gehen.

Die Grünen als neue Partei des Sozialen?

Stattdessen muss die Sozialdemokratie an einer zeitgemäßen Profilierung bei den Themen Sozialstaat, Zuwanderung und innere Sicherheit arbeiten. Gelingt ihr dies nicht, ist nicht auszuschließen, dass ihr das Thema soziale Gerechtigkeit von den Grünen „weggenommen“ wird. Wenn die Grünen ins Zentrum rücken und ihren Job gut machen, könnten die Sozialdemokraten beim Großthema Soziales an den Rand gedrängt werden. Damit würde die SPD künftig für eine grundlegende Strukturierung des Parteiensystems sogar relativ überflüssig.

Ähnliches droht bei den großen Fragen gesellschaftlicher Liberalität und Offenheit in Zeiten von Zuwanderung und Terrorgefahr: Wie lässt sich unter den Bedingungen wachsender gesellschaftlicher Heterogenität ein einheitlicher Rahmen für das gesellschaftliche Zusammenleben weiterentwickeln? Für die SPD ist diese Herausforderung größer als für alle übrigen Parteien. Denn die Sozialdemokratie versteht sich als Bündnis zwischen Schwachen und Starken, dem Kern und dem Rand der Gesellschaft. Sie muss damit auch verschiedene kulturelle Prägungen vereinen. Das untere und das mittlere Drittel der Bevölkerung unterscheiden sich nicht nur im Hinblick auf Einkommen und Vermögen – ein Aspekt, den Sozialdemokraten traditionell genau im Blick haben. Sie unterscheiden sich auch in der Alltagskultur und in ihrer Sicht auf die Vor- und Nachteile bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungen, besonders im Hinblick auf Migration, Globalisierung und die tiefgreifenden Veränderungen der Arbeitswelt. Reichen da Hinweise auf Grundgesetz und Verfassungspatriotismus? Oder bedarf es weitergehender Überlegungen, um die Sehnsüchte nach Anerkennung und Zugehörigkeit, Heimat und Identität, Sicherheit und Stabilität zu bedienen? Wenn die SPD auf diesem Gebiet authentische Antworten geben will, muss sie eine innerparteiliche Klärung herbeiführen, die quälend werden könnte. Tut sie dies aber nicht, wäre die Folge ein weiterer Bedeutungsverlust.

Was heute progressiv und mithin links ist

Aus diesen Gründen sollte die SPD in sensibler Weise neue Antworten auf alte Fragen und Risiken suchen und die neuen Risiken als Teil ihrer Gesellschafts- und Sozialstaatspolitik mit großem Ernst bearbeiten. Die SPD steht im Kern für das soziale Kompetenzfeld, und dieses sollte von ihr authentisch und überzeugend neu entwickelt werden. Von dieser Kernkompetenz wird es maßgeblich abhängen, ob ihr auch in anderen Bereichen etwas zugetraut wird.

In diesem Sinne geht es nicht darum, ein altlinkes Lager zu errichten, sondern neu zu definieren, was progressiv und mithin links ist. Darauf aufbauend kann ein neues linkes Lager geschaffen werden. Deshalb darf die SPD das Nachdenken über die Zukunft des Sozialstaates unter den Bedingungen von Digitalisierung, Globalisierung und demografischem Wandel weder den Grünen noch der Linkspartei überlassen.

Opposition setzt sich aus den Elementen Kritik, Kontrolle und Alternative zusammen. Dieser Dreiklang findet an verschiedenen Orten statt. Der Bundestag, die Partei, die Öffentlichkeit, die landespolitischen Felder und der Bundesrat sind die Arenen, in denen sich die Zukunftsfähigkeit progressiver Politik zu bewähren hat. Als Regierung im Wartestand darf die SPD nicht abwarten, sondern sie muss jetzt handeln – mit einer klugen Strategie unter Führung eines strategischen Zentrums. Beides zu entwickeln braucht Zeit. Darum muss diese Arbeit sofort beginnen.

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