Phönix aus der roten Asche

Die Grünen sind wieder da - und wie. Lange hatte die Partei an sich gezweifelt, erst das Hochwasser gab ihr die Gewissheit zurück, auf die richtigen Themen gesetzt zu haben. Nun muss die Ökopartei daran gehen, die SPD zu begrünen

Um es kurz zu machen: Mit 8,6 Prozent, 55 Sitzen und dem besten Bundestagsergebnis ihrer Geschichte stehen die Grünen glänzend da. Dabei wurde keine andere Partei in den vergangenen Jahren so oft totgesagt. Die Nachrufe sind Legion, die druckfertig in den Redaktionen bereit lagen. Und tatsächlich haben die Grünen eine fast unglaubliche Durststrecke hinter sich. Die neunziger Jahre waren für sie eine einzige lange Identitätskrise.


Vor zwölf Jahren, bei der Wahl im Jahr der deutschen Einheit, propagierte die Partei noch rotzfrech im alten APO-Jargon: "Alle reden von Deutschland, wir reden vom Wetter." Prompt flog sie aus dem Bundestag. Zwar berappelte sie sich in der folgenden Wahlperiode und wurde ab 1994 vom Schleifer und heimlichen Oppositionsführer Fischer auf Regierungskurs getrimmt. Dennoch schien sich 1998 die längst als "Generation vor der Rente" apostrophierte Parteiführung eher mit der letzten Chance in die Regierungsämter zu retten, als dass vom einstigen rot-grünen Projekt noch allzu viel übrig geblieben wäre.


Für die Grünen war allerdings auch der damalige Wahlsieg nur eine weitere Station in einer unendlichen Serie von Stimmverlusten. Vier Jahre später waren die urgrünen Themen der achtziger Jahre - Atomausstieg, Ökosteuer und Homoehe - abgearbeitet; die Partei wirkte ebenso. Längst erschallte in trauter Regelmäßigkeit der Ruf: Wozu brauchen wir noch die Grünen? Die Jugend strömte zu Attac, derweil einzige Funktion der bespöttelten Eingenerationenpartei die Rolle des Mehrheitsbeschaffers für die SPD und die Bereitstellung von Regierungslimousinen für füllige Fraktionsvorsitzende zu sein schien. Die Grünen, kurzum, waren ein Auslaufmodell.


Der Wahlausgang 2002 belehrt die vielen Besserwisser eines Besseren. Totgesagte leben länger. Die Grünen sind zurück wie Phönix aus der Asche, inhaltlich wie personell. Wenn die vergangenen vier Jahre eines gelehrt haben, dann das: Die Ökologen können sich auf ihr Thema verlassen. Ob BSE, Flut oder Maul- und Klauenseuche - die nächste Umweltkatastrophe kommt bestimmt. Nie waren die Grünen wichtiger als heute.

Nicht regierungsfähig? Wer? Die Grünen?

Auch personell stehen die Grünen glänzend da. Zur Erinnerung: Unter acht während der letzten vier Jahre geschassten Ministern befand sich nur eine Grüne - und die war mit Sicherheit nicht die Schlechteste der ministeriellen Würdenträger. Nicht regierungsfähig? Die Grünen? Wer wollte das nach diesen vier Jahren noch behaupten. Nach gewissen Anlaufschwierigkeiten haben sie letztlich ihre Verlässlichkeit unter Beweis gestellt. Jürgen Trittin, anfangs Watschenmann der Nation und ganz oben auf des Kanzlers Abschussliste, wurde am Ende zum trouble shooter, der von allen Kabinettsmitgliedern die meisten abgearbeiteten Koalitionsvereinbarungen vorweisen konnte. Doch mehr noch: Eine Partei, die es sich leisten kann, Leute so unterschiedlicher Couleur, aber gleicher Qualität, wie Andrea Fischer, Angelika Beer und Oswald Metzger, gar nicht mehr aufzustellen, kann nicht über das schlechteste Personaltableau verfügen. Die SPD würde sich so manchen Kandidaten vermutlich gerne davon abschneiden.


Angesichts des in der Retrospektive so zwingend erscheinenden grünen Erfolges bleibt eine Frage: Wie konnte eine ganze politische Klasse in ihrer Einschätzung derartig fehlgehen? Die Erklärung verweist auf den eigentlichen Schwachpunkt der Grünen: Wohl keine Partei hatte je so starke Zweifel an der eigenen Daseinsberechtigung. Was mit dem Wahldebakel von 1990 begann, mündete in das Menetekel von Magdeburg 1998 - fünf Mark der Liter, Fliegen nur alle fünf Jahre. Seither mochten die Grünen ihr ökologisches Kernthema selbst fast nur noch mit spitzen Fingern anfassen wollen.

"Jetzt regiert uns Joschka Schröder!"

Dieses Dilemma manifestiert sich auch in den Führungspersonen. Ob Joschka Fischer, Jürgen Trittin oder Renate Künast - alles zwar mediale Strategen, aber alles andere als Ökologen von Hause aus. Stets mussten die einstigen Linken im Amt "nachgrünen". Jedes Mal erlebte man die Ökologisierung des grünen Regierungspersonals. Besonders augenfällig war das im Fall der linken Großstadtgöre Künast, dem eigentlichen grünen Star der vergangenen vier Jahre.


Ohne Frage verfügt die Partei jetzt über genügend Profis, die sich auf das Regierungsgeschäft verstehen. Angesichts der programmatischen Ausgebranntheit keit der SPD wird sich aber erweisen müssen, ob die Grünen in der Lage sind, eine Antwort auf die Frage nach der Ausrichtung der kommenden vier Jahre zu geben. Schon wird diese enorme Herausforderung von den Medien an sie herangetragen. Nicht ohne Grund titelte der noch immer unübertroffene nationale Seismograf, die Bild-Zeitung, zwei Tage nach der Wahl: "Jetzt regiert uns Joschka Schröder! Wie grün wird Deutschland?"


Während der vergangenen vier Jahre konnte von einer derartigen grünen Dominanz bei allen punktuellen Erfolgen letztlich nicht die Rede sein. Vielmehr erlebten wir, gerade gegen Ende der Legislatur, die Sozialdemokratisierung der Grünen. Man konnte den Eindruck haben, die Partei, an der Spitze Joschka Fischer, entwickele den Ehrgeiz, zur besseren Sozialdemokratie zu mutieren. Auch das war freilich primär Ausdruck jener ungeheuren Verunsicherung, die die Führung permanent neue Themen ausprobieren ließ: Von der Bildungs- über die Familien- bis zur Frauenpolitik als Fischers Chefsache.


Die Ironie des Wahlausgangs: Dieser Zweifel an der Notwendigkeit der Grünen ist offensichtlich bei Politikern und professionellen Beobachtern wesentlich stärker als beim Wähler beheimatet. Der Souverän hat alle Prognosen auf den Kopf gestellt. Welches Medium hätte ein derartiges Scheitern der FDP vorhergesagt, wer diese Rolle der Grünen als Kanzlermacher? Niemand hatte die Grünen in diesem Maße auf der Rechnung, obwohl mit Flut, Irak-Krieg und UNO versus USA drei urgrüne Themen - Ökologie, Frieden, Demokratie - ganz oben auf der politischen Agenda standen. Dennoch erwarteten die meisten Beobachter primär Kanzlerzugewinne qua Autoritätsbonus.

Der neue Ernst spricht für die Grünen

Auch die Reduktion des Wahlerfolgs auf die Fischer-Zweitstimmenkampagne im Willy-Brandt-Stil wird deshalb den wahren Ursachen kaum gerecht. Natürlich hat Joschka Fischer überragenden Anteil am Erfolg der Grünen. Aber auch die "Marke grün" konnte in den Zeiten der Krise wieder punkten, besonders bei den Jungwählern, die man allenthalben längst bei der FDP wähnte. All jene irrten, die geglaubt hatten, dass die Flut allein die Wahl-Mühlen des Kanzlers betreiben würde. Spätestens hier bekamen die Grünen wieder jenes Oberwasser, für das die BSE-Krise bereits zeitweilig gesorgt hatte. Dem Wähler und der schwarzen Pädagogik der Natur - wer nicht hören will, muss fühlen - sei′s gedankt: Die Grünen haben ihren grünen Kompass zurück. Allen, die an der Daseinsberechtigung der Partei gezweifelt hatten, hat spätestens das Hochwasser klar gemacht: Auf die nächste Ökokatastrophe ist Verlass. Nach dem Jahrzehnt der Desorientierung sind die einstigen grünen soft issues zu knallharten Themen geworden. Für unsere zukünftige Energieversorgung könnten die nächsten Kriege geführt werden. Ein erheblicher Teil gerade der vermeintlich entpolitisierten Generation Golf hat die Notwendigkeit gravierender Veränderungen offensichtlich begriffen. Der Spaß hat ein Ende, der Ernst spricht für die Grünen. Der Wähler könnte klüger sein, als seine Beobachter glauben.


Also alles bestens mit den Grünen? Nicht ganz. Denn die 8,6 Prozent symbolisieren nicht nur einen Erfolg, sondern auch ein gravierendes Problem. Wenn die grünen Themen die Fragen der Zukunft sind und Joschka Fischer der beliebteste Politiker ist, bleibt erklärungsbedürftig, warum die Partei noch immer nicht annähernd die ihrer Bedeutung gebührenden Stimmanteile einfährt. Und hier liegt das zweite Problem der Grünen: In jüngster Zeit fehlte weniger das so oft bemühte "strategische Zentrum" (Joachim Raschke) als vielmehr die inhaltliche Konzentration. Der immer wieder bemühte grüne "Reformmotor" (Fritz Kuhn) einer sozial-ökologischen Umgestaltung der Industriegesellschaft schien zum puren Anhängsel einer visions losen SPD geworden.

Was fehlt, ist ein Projekt mit Ausstrahlung

Die eigentlichen Probleme der Grünen liegen im konzeptionellen Bereich und sind den propagierten Lösungen längst enteilt. Bioreservate und Dosenpfand unterlaufen die eigentlichen Herausforderungen. Viele Punkte blieben bloßes Stückwerk. Was fehlt, ist ihre Bündelung zu einem Projekt mit Ausstrahlungswirkung. Mit bloßem Regierungspragmatismus werden die gewaltigen Modernisierungserfordernisse nicht überzeugend transportiert werden können. Und da von der SPD im derzeitigen Zustand kaum Visionäres zu erwarten sein dürfte, stehen die Grünen in einer ungeheuren Bringschuld. Was fehlt, ist die Zusammenfassung der Zukunftsaufgaben unter einem neuen rot-grünen Leitbild.


Eine Bewegung wie Attac zehrt heute davon, dass die alten Bedürfnisse nach Orientierung in der immer größer werdenden Unübersichtlichkeit eher zugenommen haben. Neben dem Regierungsalltag müssten die Grünen den Versuch unternehmen, ihre alte Stärke, langfristige Diskussionen anzustoßen, wieder zu aktivieren. Was jetzt Not tut, ist nicht die fortgesetzte Sozialdemokratisierung der Grünen, sondern die Begrünung der Sozialdemokratie. Die Vorreiter grünen Denkens in der Sozialdemokratie werden es danken. Dabei kann der zuletzt zwanghafte Zug der Grünen in die Mitte mehr schaden als nützen, zumal die Partei nach dem Ausscheiden der PDS und der Post-Lafontaineschen Rest-Linken in der SPD, Andrea Nahles und Detlev von Larcher, auf der linken Seite des Parteienspektrums fast alternativlos ist - sieht man von Solitären wie Michael Müller und Hermann Scheer einmal ab.


Hier liegt eine große Chance und Aufgabe für die Grünen: nämlich die Verbindung zur außerparlamentarischen Opposition wieder herzustellen und deren Ideen in das Parteienspektrum einzuführen - ohne die mühsam errungene Aufgabenteilung zwischen Bewegung und Partei aufzuheben. Fatal wäre es, wenn die selbstzerstörerische Unentschiedenheit der achtziger Jahre wieder entstünde. Ungemein schnell könnte die Partei bei einem radikalen Rückfall in die alte Streitunkultur den mühsam gewonnenen Vertrauensvorschuss verspielen; zu sehr ist die Erinnerung an die Zeiten innerparteilicher Zerwürfnisse im kollektiven Gedächtnis präsent. Wenn es den Grünen allerdings wie in den Achtzigern gelänge, als intellektuelle Provokation und Avantgarde für das gesamte Parteienspektrum zu fungieren, ohne in den einstigen Fundamentalismus zurückzufallen, würden sie ihrer Aufgabe gerecht. Einen Startvorteil hat die Fischer-Partei: Nach diesen vier Jahren permanenten Krisenmanagements kann niemand so schnell sagen: "Die Grünen können das nicht." Die Wahl 1998 war die Abwahl Helmut Kohls. Die Wiederwahl 2002 hat bewiesen: Rot-Grün ist mehr als bloße Episode. Ob es zur Epoche reicht, wird sich unter den ungleich schwereren Bedingungen der kommenden Jahre herausstellen. Um die Zukunft der Grünen muss man sich dabei wohl die geringeren Sorgen machen.

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