Kein Aufbruch ohne Vision für Europa

Die Handlungsfähigkeit Europas ist die Kardinalfrage der nächsten Jahre. Die SPD wird zu beweisen haben, dass sie in der Lage ist, attraktive Ideen für eine bessere europäische Zukunft zu entwerfen. Gelingt ihr dies nicht, wird die Hoffnung auf eine Mehrheit diesseits der CDU unerfüllt bleiben

Nein, leicht hat es die SPD-Führung ihrer Basis in den vergangenen Wochen nicht gemacht. Dabei bedeutet der schwarz-rote Koalitionsvertrag zunächst einmal ein gehöriges Maß an „Vergangenheitsbewältigung“. Mit der Einführung des Mindestlohns zum 1. Januar 2017 korrigiert die Sozialdemokratie den wohl größten Fehler ihrer Agenda-Reformen, nämlich die gewaltige Spaltung des deutschen Arbeitsmarktes in Normal- und Geringverdiener. Das gilt auch für die von ihr durchgesetzte Einschränkung der Leih- und Zeitarbeit sowie für die Verbesserungen im Rentenbereich.

Die Europa-Frage entscheidet über das SPD-Profil

Dank dieser Form der tätigen Reue hat die SPD-Spitze berechtigten Anlass zu der Hoffnung, endlich den Hartz-IV-Fluch hinter sich zu lassen und die vielleicht größte Erblast der eigenen Vergangenheit zu überwinden: das Schisma innerhalb und außerhalb der SPD in Agenda-Befürworter und Agenda-Gegner. Die fatale Schröder-Ära könnte damit endlich zu einem Teil der SPD-Geschichte werden – die Betonung liegt auf Geschichte –, der nicht mehr jede Debatte innerhalb der Gesellschaft, und speziell innerhalb der Linken, überlagert.

Auf der Strecke geblieben sind bei dieser Form primärer Vergangenheitsbewältigung allerdings die großen Zukunftsfragen. Ein ideeller Überschuss ist im Koalitionsvertrag nicht zustande gekommen, ganz zu schweigen vom anfangs beschworenen Politikwechsel. Das betrifft in erster Linie das zentrale Thema Europa. Hier herrscht die ganz große Unentschiedenheit – zwischen Solidität und Solidarität, Konkurrenz und Wachstums-impulsen. Dabei muss sich in erster Linie an der Europa-Frage entscheiden, ob die SPD in den nächsten vier Jahren zu eigener Profilierung in der Lage sein wird.

Tatsächlich ist die Frage nach der Handlungsfähigkeit Europas die Kardinalfrage der nächsten Jahre. Das Ende des Westens als transatlantischer Wertegemeinschaft – von Bushs und Obamas war on terror bis zur totalen Überwachung der NSA – verweist uns Europäer noch intensiver auf uns selbst. Die Krise des Westens kann und muss daher zu einer Bewährungsprobe der Europäischen Union werden. Wie Barack Obama zur Unzeit mit dem Friedensnobelpreis geehrt, muss die EU jetzt beweisen, ob sie wirklich politikfähig ist. Sie muss sich von den USA entschieden emanzipieren (vermutlich auch von Großbritannien) und ihre Probleme verstärkt aus eigener Kraft lösen – in dieser Hinsicht ist die Nachkriegszeit heute tatsächlich vorbei. Dies bedeutet eine immense Herausforderung, aber auch Chance für Europa, zu einer echten, eigenständigen Identität zu gelangen. Dafür muss die EU in den nächsten Jahren endlich den bisher versäumten Schritt von der wirtschaftlichen zur politischen Einheit vollbringen.

Doch offenbar setzt die Kanzlerin in ihrer wohl letzten Legislaturperiode ganz auf ein „Weiter so“ – im Geiste ihrer national-egoistischen Spar- und Konsolidierungspolitik. Die SPD-Spitze verweist dagegen stolz darauf, dass dank ihres Einsatzes das soziale Europa im Koalitionsvertrag gleichberechtigt neben dem Binnenmarkt Europa stehe. Was diese Zielvereinbarung konkret bedeutet, ist allerdings nicht einmal ansatzweise ausgemacht. Was der Leitantrag des Leipziger Parteitags verspricht – eine „klare Idee und Vision von einem solidarischen und starken Europa“ –, steht bisher nur auf dem SPD-Papier.

Klar ist dagegen: Das Merkelsche Spar- und Austeritätsmodell hat sich als völlig untauglich erwiesen. Ja mehr noch: Dank Merkels Behandlung der Euro-Krise droht das einstige EU-Projekt der Entfeindung immer mehr zu einem Projekt neuer nationaler Verfeindungen zu werden. Die SPD wird daher in der „befristeten Koalition der nüchternen Vernunft“ (Sigmar Gabriel) zu beweisen haben, ob sie in der Lage ist, ein anderes, solidarisches Europa zu entwerfen – notfalls auch im Widerspruch zur Kanzlerin.

Eine europäische Alternative zum Populismus

An der Europa-Frage wird sich jedoch noch ein Zweites entscheiden, nämlich die strategische Lage im Jahr 2017 – sprich: welche Regierungsoptionen nach der Großen Koalition zur Verfügung stehen werden. Denn die große Unbekannte aller zukünftigen Machtoptionen ist die rechte Seite des Parteienspektrums, also FDP und AfD, die knapp zehn Prozent der Wähler repräsentieren und den Einzug in den Bundestag nur hauchdünn verpasst haben. Derzeit ist völlig unklar, wie und wohin sich das rechts-bürgerliche Potenzial in den nächsten vier Jahren entwickeln wird. Die „Alternative für Deutschland“ dürfte allerdings schon in Kürze ihren ersten Parlamentseinzug feiern, nämlich bei den Europa-Wahlen im kommenden Mai. Angesichts der Drei-Prozent-Hürde wird die AfD das rechte Lager in einem Europäischen Parlament verstärken, das zu großen Teilen aus Europa-Gegnern zu bestehen droht.

Die Zukunft der AfD auf Bundesebene wird dagegen entscheidend davon abhängen, ob es der Großen Koalition in den nächsten vier Jahren gelingt, die Eurokrise tatsächlich zu bewältigen. Damit aber ist bei der nächsten Wahl das Comeback einer „bürgerlichen Koalition“ – ob aus Union-AfD oder Schwarz-Gelb – keineswegs ausgeschlossen. Dieser populistischen Gefahr eine echte europäische Alternative entgegenzusetzen, darin liegt Aufgabe wie Chance der SPD mit Blick auf 2017. Zu Recht heißt es im Leipziger Leitantrag: „Die SPD wird in den kommenden Jahren zweierlei zu leisten haben: Sie muss sich in der Tagespolitik als gestaltende politische Kraft bewähren und darüber hinaus ihren Anspruch als die linke Volkspartei in Deutschland programmatisch wie organisatorisch erneuern.“ Hier die Mitregentin in der Großen

Koalition, dort die ambitionierte linke Volkspartei: Nur wenn der SPD beides zugleich gelingt, dürfte sie tatsächlich als die „politische Kraft wahrgenommen werden, die für Erneuerung in unserem Land steht“.

Koalition ohne Menschheitsfragen?

Es war und bleibe Anspruch der SPD, sagte Sigmar Gabriel in seiner Leipziger Rede, die großen Menschheitsfragen nicht aus den Augen zu verlieren. Im Koalitionsvertrag ist davon leider zu wenig – und zu unkonkret – die Rede. Stattdessen wurde der Anspruch in den Leitantrag ausgelagert (mit dem optimistischen Titel: „Perspektiven. Zukunft. SPD!“). Dort heißt es: „Statt kurzsichtige Wirtschaftsinteressen zu verfolgen, werden wir globale und ökologische Herausforderungen ernst nehmen.“ Doch während soeben auf dem 19. UN-Klimagipfel in Warschau eine Lösung der immensen ökologischen Herausforderungen erneut routiniert vertagt wurde, einigten sich die Berliner Koalitionäre darauf, die Energiewende keinesfalls zu beschleunigen, sondern zu verlangsamen. Die entscheidende Zukunftsfrage, die Umstellung von fossiler auf erneuerbare Energie, wurde aufgeschoben – nicht zuletzt dank der sozialdemokratischen Fixierung auf die Rettung der Kohlekraft.

Damit aber wird die SPD ihrer internationalistischen Verantwortung und Tradition gerade nicht gerecht. Denn faktisch sind, wie die Umweltorganisation Germanwatch soeben erneut feststellte, besonders arme Länder von Klimakatastrophen betroffen – von den kommenden Generationen ganz zu schweigen.

Sigmar Gabriel hat auf dem Leipziger Parteitag zum wiederholten Mal die Forderung erhoben, wer Visionen habe, müsse wieder den Weg zur SPD finden können. Tatsächlich wird es der SPD nur mit Hilfe einer neuen gesellschaftlichen Vision gelingen, was ihr Willy Brandt vor dreißig Jahren ins Stammbuch schrieb: eine neue „Mehrheit links der Union“ zu schaffen. Schon angesichts des 100. Geburtstags des SPD-Ehrenvorsitzenden am 18. Dezember 2013 gilt es, an diese Forderung zu erinnern.

Treibt die SPD die Grünen in die Arme der Union?

Doch um Rot-Rot-Grün eines Tages wirklich zu wagen, braucht es nicht nur eine rein rechnerische, sondern auch eine gesellschaftliche Mehrheit. Was die Parteien links der Union daher bis 2017 benötigen, ist vor allem eines – eine neue, gemeinsame Idee für ein anderes, solidarisches, aber auch politisch geeintes Europa.

Keine Frage: Der Ausgang der vorigen schwarz-roten Koalition weckt keine allzu großen Hoffnungen für ein erfolgreiches linkes Projekt. Doch es gibt keine zwingende Logik sozialdemokratischen Scheiterns in Großen Koalitionen. Denn 2005 bis 2009 ist keineswegs die einzige Referenz. Exemplarisch für linken Aufbruch war vielmehr die erste Große Koalition zwischen 1966 und 1969. An ihrem Ende stand mit Willy Brandt der erste Bundeskanzler der SPD – und mit ihm der Anspruch, mehr Demokratie zu wagen, der eine ganz Generation prägen sollte. Gewiss, Sigmar Gabriel ist kein Willy Brandt. Und dennoch steht er heute vor der gleichen historischen Aufgabe, nämlich ein neues Bündnis links der Union zu schmieden.

Denn eines steht fest: Je weniger kooperationsbereit sich SPD und Linkspartei in den nächsten vier Jahren verhalten, umso mehr werden die längst regierungswilligen Grünen in die weit geöffneten Arme der Union getrieben. In Hessen kann man heute schon besichtigen, wie es Tarek Al-Wazir mit Joschka Fischer hält: „Regieren geht über studieren.“ Keine Frage, dass Katrin Göring-Eckhardt und Cem Özdemir ihm in vier Jahren im Bund allzu gerne nacheifern würden – sofern sie nicht durch eine kluge und attraktive Politik der SPD daran gehindert werden.

zurück zur Ausgabe