Ausgezehrt im Niemandsland

Der Aufstieg der AfD und die Ungewissheit über die künftige Koalition versetzen die Republik in eine Zeit des Übergangs. Gerade jetzt wäre eine gestaltungs- und regierungsfähige Sozialdemokratie vonnöten. Doch die SPD ist von der Rolle

Für die deutsche Sozialdemokratie bedeutet der 24. September 2017 das historisch schlechteste Ergebnis in ihrer großen Geschichte und damit einen weiteren Tiefpunkt, der aber beileibe nicht der letzte gewesen sein muss. Das zeigt bereits der Blick auf die europäischen Schwesterparteien: ob in Frankreich, den Niederlanden oder in Österreich, von Griechenland ganz zu schweigen, wo man bereits den Begriff der Pasokisierung geprägt hat – fast überall befindet sich die Sozialdemokratie im Niedergang. Nur in Großbritannien scheint die Zukunft der Labour Party derzeit relativ gesichert, was vor allem dem Mehrheitswahlrecht geschuldet ist, das chancenreiche linke Alternativen faktisch ausschließt. Anderenfalls wäre es in der Ära von Tony Blair und Gordon Brown zweifellos zu einer Abspaltung gekommen, vergleichbar der deutschen Linkspartei.

Gewiss, jedes Land hat seine Besonderheiten, und so ist denn auch die Krise der SPD von ganz eigener Art, nämlich eine gleich dreifache – personell, inhaltlich und politisch-strategisch. Mit der vierten Niederlage gegen Angela Merkel ist erstens das sofort kanzler(innen)taugliche Personal regelrecht aufgebraucht. Personell befindet sich die Partei in einer Übergangszeit, was am stärksten der gescheiterte Parteivorsitzende selbst verkörpert, der ob seiner krachenden Niederlage für eine weitere Spitzenkandidatur nicht mehr in Betracht kommt. Das verweist auf ein zentrales Problem: Gesetzt den Fall, die Koalitionsverhandlungen für „Jamaika“ scheitern und es gäbe Neuwahlen, wer käme dann als nächster SPD-Kanzlerkandidat in Betracht? Andrea Nahles, Olaf Scholz, Stephan Weil oder gar doch noch Sigmar Gabriel, der als Bundesaußenminister erstmals über taugliche Sympathiewerte verfügt? Ganz offensichtlich würde die SPD auf dem völlig falschen Fuß erwischt.

Auf dem Spiel steht die Existenz der Partei

Hier zeigt sich das Dilemma der Partei: Sie hat nur die Wahl zwischen Pest und Cholera. Neuwahlen könnten verheerend enden. Aber gleichzeitig würde eine Wiederaufnahme der Großen Koalition die Existenz der Partei aufs Spiel setzen, denn eine weitere Koalition unter Angela Merkel droht die Sozialdemokraten endgültig zu kannibalisieren. Deshalb würde es der SPD-Spitze dieses Mal auch noch weit schwerer fallen, die Parteibasis zu einer neuerlichen Auflage zu bewegen. Auch deshalb war die Absage an eine Fortsetzung der Großen Koalition und der Gang in die Opposition durchaus konsequent.

Völlig ausgebrannt nach 15 Jahren Regierungsbeteiligung seit 1998 bedarf die SPD dringend der Regeneration. Ihr kann es nicht genügen, lediglich die letzte verbliebene Funktionspartei der Bundesrepublik zu sein – für die letzte verbliebene kleine Koalition, zu der die vermeintliche „GroKo“ mit ihren 54 Prozent längst verkommen ist, während die klassischen kleinen Zweier-Koalitionen längst rechnerisch unmöglich geworden sind.

Die »Mehrheit jenseits der Union« ist Geschichte

Das aber verweist auf die zweite, noch weit grundlegendere Krise, nämlich die inhaltliche: Um wirklich wieder erfolgreich und eine echte Machtalternative zur Union zu sein, muss die SPD wieder eine echte politische Alternative darstellen. Daran ist Martin Schulz trotz verheißungsvoller Anfänge in diesem Wahlkampf fundamental gescheitert. Nur mit einer politischen Neubestimmung, als Rückbesinnung auf die Vor-Agenda-SPD, wird die Sozialdemokratie wieder einen glaubhaften inhaltlichen Anspruch auf die Kanzlerschaft erheben können. Dazu aber benötigt die ganze Partei eine Generalüberholung in der Opposition.

Fest steht aber auch: Nach bald zwei Jahrzehnten an der Regierung wird sich die SPD in ihre neue Rolle erst hineinfinden müssen – zumal gegenüber einer Linkspartei, die es gewohnt ist, eine schlagkräftige Opposition darzustellen. Das verweist auf das dritte und vielleicht größte Problem: das politisch-strategische. Dies ist aber nicht nur ein Problem der SPD, sondern der gesamten deutschen Linken. Mit dem 24. September hat sich die von Willy Brandt vor 35 Jahren beschworene „Mehrheit jenseits der Union“ bis auf weiteres erledigt. Mit dem klaren Einzug von AfD und FDP in den Bundestag ist die gesamte Republik massiv nach rechts gerutscht; die rechnerische Chance für rot-rot-grüne Bündnisse ist damit auf absehbare Zeit vertan.

Nun rächt sich, dass SPD, Grüne und vor allem die Linkspartei während der gesamten Merkel-Ära nicht willens waren, sich auf einen gemeinsamen Regierungskurs zu verständigen oder wenigstens einzulassen. Die vergangenen bald 20 Jahre, seit dem Abgang Oskar Lafontaines und der Spaltung in SPD und Linkspartei, waren für die deutsche Linke verschenkte Jahre. Von den 41 Prozent für Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine im Jahr 1998 sind nur noch 30 geblieben, nämlich 9 für Sahra Wagenknecht gegen knapp 21 für Martin Schulz, Tendenz weiter fallend.

Wie aber kommt die SPD aus dieser fatalen Lage wieder heraus? Wie kann sie wieder eine Volkspartei mit Anspruch auf das Kanzleramt werden? Dafür wird das Bemühen der SPD allein nicht reichen; dafür bedarf es der gesamten Linken – übrigens auch deshalb, weil die SPD über gar keinen nennenswerten linken Flügel mehr verfügt, jedenfalls nicht in zentralen Positionen. Abgesehen von der ursprünglich linken, inzwischen aber längst eher zentristisch agierenden Fraktionsvorsitzenden machen die Seeheimer und Netzwerker die relevanten Posten unter sich aus. Ohne eine stärker linke Orientierung in den Reihen der SPD wird aber auch die Verständigung mit der Linkspartei nicht gelingen.

SPD und Linkspartei müssten die gemeinsame Zeit in der Opposition dafür nutzen, endlich ihr pathologisches Verhältnis zueinander aufzuarbeiten. In den vergangenen 20 Jahren hat sich die linke Tragödie, der Bruderzwist der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als Farce wiederholt, ausgetragen zwischen Schröder-SPD und Lafontaine-Linkspartei (mit dem verheerenden Slogan „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“).

Zwanzig vertane Jahre sind genug

Die gesamte Linke muss endlich die Konsequenzen aus den vertanen Jahren ziehen und von der Konfrontation zur Kooperation übergehen. Aus einem höchst destruktiven Verhältnis muss ein konstruktives werden. Entweder die politische Linke begreift in der Opposition, dass die Spaltung eine Lose-lose-Situation ist und bewegt sich endlich aufeinander zu, getreu der alten Erfolgsmaxime von CDU und CSU: „Getrennt marschieren, vereint schlagen.“ Oder aber die Spaltung der Linken vertieft sich weiter, mit fatalen Konsequenzen: Die SPD wird weiter in der linken Mitte zerrieben von einer Linkspartei, die sich immer stärker auf den Posten der Systemopposition zurückzieht – zum Schaden beider und des ganzen Landes. Weitere 20 Jahre ohne eigene politische Gestaltungsoption kann sich die Linke nicht leisten, dafür sind die anstehenden Aufgaben viel zu gewaltig.

Denn offensichtlich befindet sich nicht nur die SPD, sondern die ganze Republik in einer historischen Übergangszeit. Mit den (doppelt!)-schwarz-gelb-grünen Koalitionsverhandlungen befinden wir uns im koalitionären Niemandsland. Die Krise der deutschen Demokratie, die im Aufstieg der AfD wie in der höchst unsicheren Jamaika-Option als der ersten Vier-Parteien-Koalition zum Ausdruck kommt, verlangt dringend nach einer gestaltungs- und regierungsfähigen SPD.

Gleiches gilt für die Krise der Europäischen Union. Um die schädliche deutsche Hegemonie in Europa endlich zu beenden, besteht gegenwärtig die Chance, im Duo mit Emmanuel Macron die deutsch-französische Achse neu zu beleben. Auch dafür bedarf es dringend einer handlungsfähigen Regierung. Die SPD stünde zweifellos an der Seite eines (hoffentlich) wieder erstarkenden Frankreichs. Ob für eine Jamaika-Koalition das Gleiche gilt, bleibt abzuwarten.

Fest steht aber auch: Sollten am Ende doch nur Neuwahlen übrigbleiben, wäre dies gewiss keine gute Lösung der verfahrenen Lage. Denn spätestens dann käme es für die SPD zum Schwur – personell, inhaltlich und strategisch. Und dann wären die historisch beispiellosen 20,5 Prozent des 24. Septembers eines gewiss nicht: ein rotes Stoppzeichen für die Fahrt nach unten.

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