"Amerika ist viel demokratischer"

Dietmar Herz ist mit seinem Buch "Die Amerikaner im Krieg" einem größeren Publikum bekannt geworden. Darin berichtet der Politikwissenschaftler und Direktor der Erfurt School of Public Policy von seinen Erfahrungen als ";embedded scientist" bei den US-Truppen im Irak. Herz studierte an der Harvard University, schrieb seine Dissertation über "Das kurze amerikanische Jahrhundert" und war Gastprofessor an der Vanderbilt University in Nashville. Welche Lehren wir aus dem amerikanischen Wahlkampf von 2008 ziehen können, erläuterte er der "Berliner Republik"

BERLINER REPUBLIK: Herr Herz, Sie haben den amerikanischen Wahlkampf 2009 an Ort und Stelle beobachtet. Was hat Sie am meisten beeindruckt?

DIETMAR HERZ: Ich war während der Endphase des Wahlkampfs in Kalifornien, Massachusetts und kurz auch in New Hampshire. Am meisten hat mich beeindruckt, dass Obama die Jugend begeistert hat wie kein Präsident seit Kennedy. Die Amerikaner haben mit dieser Wahl die politische Virilität ihrer Demokratie unter Beweis gestellt, acht Jahre einer verfehlten Politik hinter sich gelassen und mit der Wahl des ersten afroamerikanischen Präsidenten Geschichte geschrieben. Ein prägendes Erlebnis.

In Deutschland hat der Wahlkampf im Superwahljahr 2009 längst begonnen. Als Referenzpunkt für die geplanten Kampagnen nennen Vertreter aller Parteien Barack Obama. Erinnert das nicht an die sechziger Jahre, als Willy Brandt bei John F. Kennedy abkupferte?

HERZ: Willy Brandts Mitarbeiter Klaus Schütz, später selbst Regierender Bürgermeister von Berlin, hat den amerikanischen Wahlkampf 1960 sehr genau beobachtet. In den Bundestagswahlkämpfen 1961 und 1965 hat Brandt dann Elemente amerikanischer Wahlkampfführung übernommen. Das Leitmotiv des Generationswechsels zum Beispiel. Oder die Gründung eines Beratungsteams aus Wissenschaftlern, Schriftstellern, Journalisten und  Meinungsforschern, das er zusammenstellte. Auch das Canvassing hat er sich abgeguckt, das direkte Gespräch mit dem Wähler: Brandt fuhr im "Deutschlandzug" quer durch die Republik und sprach mit vielen Leuten. 1961 hat diese "Amerikanisierung" des sozialdemokratischen Wahlkampfes funktioniert. Vier Jahre später funktionierte es schon nicht mehr.

Was veränderte sich?

HERZ:
Im Jahr 1961 waren die Vereinigten Staaten noch das unumstrittene demokratische Vorbild. Dann wurde John F. Kennedy ermordet, später Martin Luther King, Malcolm X und Robert Kennedy. Dazu kam die Auseinandersetzung um den Vietnamkrieg, die schwierige Emanzipation der Afroamerikaner, noch später Nixon und Watergate. So ging in den Augen großer Teile der deutschen Bevölkerung der Vorbildcharakter Amerikas verloren.

Was können die deutschen Parteien von Obama lernen?

HERZ:
Eigentlich nicht viel. Vielleicht einiges in Fragen der Technik: Denn natürlich hat der Einsatz des Internet Maßstäbe gesetzt. Vorbildlich ist auch, wie die Amerikaner Wahlkämpfe unter ein bestimmtes Leitmotiv stellen, nicht zuletzt um in der eigenen Anhängerschaft Kohärenz zu erzeugen. Das Motto "Change" hat gegriffen, weil das Land nach acht Jahren George W. Bush wirklich einen Wandel und Wechsel wollte. Amerikaner spielen sehr gern mit diesem Wechselmotiv. Thomas Jefferson machte das schon in seinem Wahlkampf im Jahr 1800. Er forderte eine neue "Revolution" und eine Rückkehr zu den Ideen von 1776.  Obama versuchte Ähnliches: Er will die politische Entwicklung der republikanisch dominierten Jahrzehnte seit Ronald Reagan rückgängig machen. Der Staat löse keine Probleme, sondern sei selbst das Problem, hatte Reagan gesagt. Auch Bill Clinton erklärte, die Zeiten von big government seien vorüber. Obama propagiert nun das radikale Gegenteil. Er spricht von der "Verantwortung" des Staates. Eine Rückkehr zu den Ideen F. D. Roosevelts und L. B. Johnsons. Ein in diesen Zeiten überzeugendes Programm.

Dann ließen sich vielleicht auch in Deutschland mit Obamas Motto Wahlen gewinnen.

HERZ: Nein. Das Motto "Change" würde in Deutschland überhaupt nicht greifen. Zum einen bilden derzeit  beide großen Parteien die Regierung. Ein vollkommener Kurswechsel einer Partei wäre unglaubwürdig. Zum anderen ist unser System viel zu konsensual angelegt. Alle Parteien regieren in irgendeiner Form, und wenn auch nur in den Landesregierungen oder in großen Kommunen. Das zwingt zu Kompromissen und macht einen grundlegenden "Change" schwer erklärbar.

Viele meinen, Deutschland täte eine charismatische Führungspersönlichkeit wie Obama gut. Andererseits ist da auch immer die Angst, manipuliert zu werden.

HERZ: Wir Deutschen haben ein sehr gespaltenes Verhältnis zu Charisma und charismatischer Führung in der Politik. Das liegt nicht nur an der deutschen Geschichte. Wichtig ist auch, dass unser politisches System charismatische Führung eigentlich nicht zulässt. Bei uns durchlaufen Politiker eine parteipolitische Sozialisation, die relativ früh beginnt. Wenn in Deutschland jemand Kanzler wird, dann wird er das nicht  "aus dem Stand" wie Obama, der zuvor nur kurze Zeit Senator war - und also nur kurz ein nationales Amt innehatte -, sondern erst wenn der Kandidat bereits Ministerpräsident, Bundesminister, Parteichef war und schon Jahrzehnte lang Politik machte. Charismatiker kommen häufig von außen. Kaum ein amerikanischer Wähler kannte Obama vor dem Wahlkampf. Aber was wir an Obama noch mehr bewundern als sein Charisma, ist sein Stil: sein Auftreten, seine Coolness, seine Überlegenheit bei gleichzeitiger Selbstzurücknahme, der Umgang mit seiner Frau, die Ästhetik der Erscheinung. Das war schon bei Kennedy so. Der letzte deutsche Politiker, der "Stil" in diesem amerikanischen Sinne hatte, war der junge Willy Brandt - damals an Kennedy orientiert.

Befördert das politische System Amerikas charismatische Politiker geradezu? 

HERZ: In gewisser Weise ja, weil es keine Parteien und Parteiprogramme im europäischen Sinne kennt. Ein amerikanischer Kandidat tritt als Person auf und entwickelt allmählich für jedes politische Feld eigene Positionen, die nicht vorbestimmt sind durch Parteitage, Parteiprogramme, klare ideologische Grenzen, sondern ganz auf die Person zugeschnitten werden. Hillary Clintons Programm hätte anders ausgesehen als das von Obama - obwohl sie der gleichen Partei angehören.

Was Obama kennzeichnet, ist auch sein ständiges Bemühen, widerstrebende Positionen zusammenbringen. Ist nach acht Jahren Bush′scher Konfrontation die Konsenssuche nicht schon für sich genommen eine inhaltliche Position?

HERZ: Durchaus. Erstaunlich ist, dass Obama den Amerikanern wirklich eine sehr grundsätzliche Alternative angeboten hat. Das zeigte sich bereits in der letzten Phase des Wahlkampfes. Die eigentliche Alternative hieß ja nicht McCain versus Obama, sondern Sarah Palin versus Obama. Die Fortsetzung der Politik von George W. Bush auf sozialem, gesellschaftlichem und rechtlichem Gebiet war das, wofür Sarah Palin stand. Dafür stehen auch die Leute, die nach der verheerenden Niederlage im November letzten Jahres die republikanische Partei beherrschen: Dick Cheney, Rush Limbaugh oder Newt Gingrich. Auf der anderen Seite Obamas - vorsichtig formulierte - Ankündigung: Wir müssen uns von der Politik seit Ronald Reagan verabschieden. Das war die wirkliche Alternative. McCain stand sehr verloren dazwischen.

Zbiginew Brezsinski sagte, Obama sei ein "konzeptioneller Revolutionär". Das stimmt. Seine Vorschläge stürzen die amerikanische Politik der letzten Jahrzehnte in zwei wichtigen Feldern vollständig um: Das Eine ist der Sozialstaat. Obama kehrt zu den Kernideen des New Deal zurück und entwickelt daraus eine ganze Reihe von Neuerungen. Das Zweite ist seine Außenpolitik: Hier wendet er sich vom bisherigen manichäischen Denken in Kategorien wie Freund-Feind oder Sieg-Niederlage ab. Konflikte, so argumentiert er, sind prinzipiell lösbar oder zumindest beherrschbar, Sieg und Niederlage sind keine sinnvollen Kategorien der internationalen Politik. Das sind zwei sehr radikale konzeptionelle Neuerungen.

Die deutschen Parteien versuchen, Obamas Internetstrategie zu kopieren. Kann das gelingen?

HERZ: Anders als in den USA ist das Internet in Deutschland für die meisten Menschen kein zentrales Medium. Das beginnt sich zwar zu ändern. Aber die Parteien haben noch keine funktionierende Strategie, damit umzugehen. Das Internet wird die Bundestagswahl daher nicht entscheiden. Im Übrigen: Facebook, Twitter und dergleichen werden in Amerika weniger als "klassische" Wahlkampfinstrumente zur Überzeugung Unentschlossener verwendet, sondern vor allem zur Mobilisierung der eigenen Sympathisanten. Denn in Amerika ist Mobilisierung extrem wichtig: Die Kandidaten müssen Leute gewinnen, die bereit sind, für sie vor Ort an den Graswurzeln der Gesellschaft zu werben. Zugleich müssen sie potenzielle Wähler dazu bewegen, sich überhaupt registrieren zu lassen. Für beides spielt das Internet eine große Rolle. Bei uns sind alle Wähler registriert. Und die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen ist durchschnittlich höher als bei Präsidentschaftswahlen in den USA. 

Wir Europäer haben gegenüber den Amerikanern die Nase ja immer ziemlich hoch getragen, weil bei uns die Wahlbeteiligung so viel höher lag. Aber die Beteiligung bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen war gar nicht so niedrig. Könnte man nicht jetzt geradezu umgekehrt sagen: Demokratiepolitisch unbefriedigend ist das Aushandeln von Listen auf Parteitagen, wo sich die ewig gleichen Leute in höchst überschaubarer Zahl begegnen?

HERZ: Es ist ein krasses Vorurteil, dass sich Amerikaner nicht am politischen Prozess beteiligen. Amerikaner wählen andauernd: Sie wählen das School Board, den Staatsanwalt ihres Bezirks, den Sheriff, den Gouverneur, die Abgeordneten des Staates und der Union, den Präsidenten. Die Wahlbeteiligung in diesen permanenten Wahlprozessen ist - zusammengenommen - relativ hoch. Amerika ist, dieses Elements der direkten, auf Wahlen basierenden Demokratie wegen, eine sehr viel "demokratischer" verfasste Gesellschaft als Deutschland. Die amerikanische Geschichte lässt sich daher als ein Demokratisierungsprozess verstehen. Sie begann als aristokratisch-elitäre  Republik, unter Andrew Jackson erlebte sie die erste große Demokratisierungswelle. Später folgten immer neue Inklusionsprozesse. Immer mehr Menschen  durften wählen - Frauen, Ureinwohner, Afroamerikaner - und wurden in den politischen Prozess einbezogen, bis zum Schluss auch die Parteien in diesem Sinne "demokratisiert" wurden. Heute ist es undenkbar, dass amerikanische Parteien Kandidaten in verrauchten Hinterzimmern, in geheimen Absprachen aufstellen, wie es früher der Fall war. Jeder, der ein Wahlamt anstrebt, muss sich in einem offenen Prozess seinen prospektiven Wählern stellen. Möglichst viele Menschen sollen auf diese Prozesse Einfluss nehmen können.

Heißt das, Deutschland ist weniger demokratisch als die USA?

HERZ: Jedenfalls ist in Deutschland die Aufstellung von Bundestagsabgeordneten nur bedingt demokratisch, weil ich als Wähler im Regelfall keinen Einfluss darauf habe, wer als Kandidat aufgestellt wird. Ich muss denjenigen wählen, der mir vorgesetzt wird und kann meist nur zwischen Parteien unterscheiden. Es gibt Versuche, dieses Verfahren zu verbessern: Im Kommunalwahlrecht kennen wir das Kumulieren und Panaschieren. Aber auf die Aufstellung kann ich als nicht politisch aktives Parteimitglied, aber doch Wähler, keinen Einfluss nehmen. Wir sind in diesem Prozess noch lange nicht so weit wie die Amerikaner. Andererseits: In Deutschland wähle ich nicht in erster Linie eine Person, sondern eine Partei und das Programm, für das sie steht.  Dagegen ist es in den USA sekundär, ob der Kandidat für den Posten des Sheriffs Republikaner oder Demokrat ist. Auch beim Präsidenten spielt die Parteizugehörigkeit eine geringere Rolle als in europäischen politischen Systemen. Viel wichtiger sind seine Überzeugungen " und vor allem seine Person.

Sollte man diesen Demokratisierungsprozess in Deutschland vorantreiben?

HERZ: Auf jeden Fall. Wenn die Volksparteien eine Zukunft haben wollen, müssen sie sich öffnen. Es ist bei den beiden großen Parteien derzeit ohnehin schwierig, noch von Volksparteien zu sprechen. Das betrifft Wählerstimmen, Parteimitgliedschaft und geteilte Grundüberzeugungen. Sie sind zwar in ihrer Selbstwahrnehmung und thematischen Ausrichtung nach wie vor Volksparteien, also keine reinen Klientelparteien. Aber aus der Sicht der Wähler beginnen sie, diesen Charakter zu verlieren. Eine Öffnungsstrategie würde diesen Prozess zumindest verlangsamen. Kurz: Die deutschen Parteien müssen sich demokratisieren und nicht mehr die Parteimitgliedschaft als entscheidendes Kriterium für ein Amt oder eine Kandidatur betrachten. Natürlich sollen sie keine Kandidaten aufstellen, die völlig andere weltanschauliche Grundsätze haben, aber mehr Flexibilität würde ihre Attraktivität erhöhen. Wir beklagen uns doch immer, dass viele gute Leute nicht in die Politik gehen, sondern andere Lebenswege wählen. Das liegt teilweise daran, dass es in Deutschland Jahrzehnte dauert, bevor jemand ein Amt bekommt. 

Auch das amerikanische System hat sich ja niemand am Reißbrett ausgedacht, sondern es hat sich entwickelt. Und die Demokratisierungsprozesse in den USA sind gerade eine Folge des Niedergangs der Parteikulturen der "rauchgeschwängerten Hinterzimmer". Bei den Anhängern der deutschen Volksparteien herrscht aber häufig die Meinung vor, dass die Parteien durch solche Formen der Öffnung kaputt gehen werden.

HERZ: Das System zweier dominierender Volksparteien hat nur funktioniert, als die Volksparteien ein Umfeld aus politischen Vorfeldorganisationen hatten, die ihnen zuarbeiteten: Die Gewerkschaften bei der SPD, die Kirchen und alle möglichen Verbände bei der CDU. Diese gesellschaftlichen Gruppierungen haben in den letzten Jahrzehnten massiv an politischem Einfluss verloren. Deshalb ist Öffnung die einzig wirksame Gegenstrategie.

Zurück zum amerikanischen Wahlkampf. Obama hat die schmutzigen Vorwürfe gegen ihn - er sei Muslim, er habe die falschen Freunde oder sei gar ein Terrorist - nie offensiv zurückgewiesen, sondern abtropfen lassen. Und er hat selbst nur ganz wenig "negative campaigning" betrieben. War das ein Fehler oder ein geschickter Schachzug?

HERZ: Obamas Kampagne hat negative campaigning benutzt, aber über Bande gespielt: Die Obama freundlich gesinnten Medien nahmen meist nicht McCain, sondern Sarah Palin unter Beschuss. Generell gilt: Negative Kampagnen funktionieren nicht immer, aber oft. Die Republikaner haben sie seit Ronald Reagan mit großem Erfolg eingesetzt. Es war ein Fehler der Demokraten, sich stets als die nice guys zu verhalten, die solche bösen Dinge nicht tun. So haben sie letztlich (auch) die politische Hegemonie verloren. Man muss nur an die Angriffe gegen die demokratischen Kandidaten Mondale, Dukakis und Kerry denken. Im vorigen Jahr funktionierten die Attacken der Republikaner erstmals nicht, weil Barack Obama in den Medien - anders als vor acht Jahren Al Gore - durchweg positiv wahrgenommen wurde und zunehmend von diesen Medien unterstützt wurde. Sie faszinierte das "Historische" an seiner Kampagne. Und dann kam zu guter Letzt die Finanz- und Wirtschaftskrise. Obama hatte es schlicht nicht nötig, auf die Negativkampagne der Republikaner zu reagieren. In einer solchen Situation war die übliche Strategie der Republikaner kontraproduktiv. Gegen Al Gore und John Kerry hatte sie noch gut funktioniert: Gore wurde von der Presse systematisch " republikanischen Vorgaben folgend " als linkischer Mensch ohne Charisma dargestellt. Negativkampagnen sind eben dann am effektivsten, wenn sie bereits bestehende Meinungen verstärken. Wir müssen auch eines bedenken: In Europa gibt es die Vorstellung, Obama dominiere die politische Szenerie der USA vollkommen, habe also eine Art Hegemonie im Gramsci′schen Sinne. Das stimmt nicht. Der Wahlsieg war nicht so überwältigend, wie er hätte sein können. Was der konservative Radiomoderator Rush Limbaugh, eine der einflussreichsten Figuren in der republikanischen Partei, fortwährend gegen Obama vorbringt oder was täglich im Sender Fox zu sehen und hören ist, ist eine Negativkampagne im Quadrat. Limbaugh sagt sogar, er hoffe, dass Obama scheitert. Das ist nach amerikanischen Maßstäben eine ungeheuer radikale, weil unpatriotische Formulierung. Also, negative campaigning ist jedenfalls nicht aus der Welt. Wir werden eher mehr davon sehen.

Die SPD hat es im Europawahlkampf mit einer vorsichtigen Form versucht - "Finanzhaie würden FDP wählen" und dergleichen. Erfolgreich war diese Kampagne nicht. Was ist da schief gelaufen?

HERZ: Dass es nicht funktioniert hat, liegt weder an der Idee des negative campaigning noch an den Wahlplakaten. Ich glaube, die Perzeption vieler Wähler - das Verständnis der Wirtschaftskrise und Annahmen über die Kompetenzen der Parteien - in Deutschland war ausschlaggebend. Konkret: In Deutschland spielen Verteilungskämpfe eine immer größere Rolle. Die SPD hat ein Argument gebraucht, das ich prinzipiell für richtig halte, das aber in der politischen Kommunikation nicht funktioniert hat: Nach den Arbeitsplätzen bei Opel müssten auch die bei Arcandor gerettet werden, denn schließlich gelte - neben sozialen Erwägungen - der Gleichbehandlungsgrundsatz. Dagegen hat die Union ordnungspolitisch argumentiert, man müsse den Strukturwandel zulassen. Wenn Firmen über Jahre Fehlentscheidungen getroffen hätten, könne der Staat das nicht korrigieren. Sehr viele Wähler haben aber diese Debatte zwischen den Parteien gar nicht wahrgenommen, sondern eher vermutet, mit ihren Steuergeldern und zu ihren Lasten sollten Einrichtungen gerettet werden, mit denen sie selbst nichts zu tun haben. Das zeigen auch Umfrageergebnisse.

Aber selbst in Rüsselsheim gewann die SPD keine Stimmen hinzu ...

HERZ: ... weil auch dort sehr viele Leute befürchten, dass sich solche Fälle künftig häufen werden. Das ist das gleiche Argument. Hinzu kommt noch, dass es der SPD nicht gelungen ist, die eigene Wählerschaft zu mobilisieren, was bei Europawahlkämpfen " die eine eigene Gesetzmäßigkeit haben - immer schwierig ist. Die Kampagne der SPD hatte kein klares Thema. Wahlplakate mit zwei Kandidaten, von denen einer Europaparlamentarier ist und der andere Bundespolitiker, dann "bebildert" man von vornherein eine Ambivalenz. Um was soll es gehen?

Aber die CDU hat auch nicht gerade gut abgeschnitten.

HERZ: Das stimmt, aber sie hat sich geschickter angestellt und eine Niederlage in einen relativen Erfolg uminterpretiert. Erfolg hatten die, die klare, radikalere Positionen vertraten und/oder die in der Wahrnehmung der Wähler als kompetent galten. Zum Beispiel: Die FDP verdankt ihren momentanen Aufstieg nicht wirklich ihren Lösungskonzepten für die gegenwärtige Krise, sondern einer Kompetenzzuschreibung. Es geht also nicht um tatsächliche wirtschaftspolitische Kompetenz. Man assoziiert mit der FDP wirtschaftliche Kompetenz und die Erfahrung mit einer Partei der Exekutive. Dabei gibt es bei der FDP gar keinen profilierten wirtschaftspolitischen Sachverstand, und die Partei regiert im Bund nun schon seit 1998 nicht mehr. Zudem wird die FDP für Missstände nicht verantwortlich gemacht, und zwar gerade weil sie nicht an der Regierung ist. Die Liberalen sind sozusagen die free riders der gegenwärtigen politischen Situation. Das wird zwar auf Dauer nicht anhalten, kann aber für eine Weile ganz gut funktionieren. Das Spiegelbild zur FDP- oder wenn Sie wollen der Milchbruder - ist die Linkspartei. Als antikapitalistische Partei müsste sie eigentlich angesichts des aktuellen antikapitalistischen Diskurses reüssieren. Aber Sahra Wagenknecht kann noch so viele volkswirtschaftlich angehauchte Bücher schreiben - die Wähler werden sie nicht lesen. Sie schreiben der Linkspartei weder Wirtschafts- noch Exekutivkompetenz zu. Und deswegen stagniert die Partei bei Umfragen und in Wahlen.

Jürgen Habermas hat jüngst in einem Interview bemerkt, anders als in Deutschland gebe es in Amerika eine Bereitschaft, sich für normative Ziele zu engagieren, die mit den eigenen unmittelbaren Interessen nichts zu tun haben. Hat er Recht?

HERZ: Ja, die amerikanische Politik ist stark prinzipien- und werteorientiert, auf der Ebene des Bundes, aber auch in den Staaten und Bezirken. Und auch die  Politik der Regierung Bush war wertegeleitet - auch wenn wir in Europa der Meinung sind, dass es eine falsche Politik war. Es ging um Demokratisierung, um einen bestimmten Freiheitsbegriff, um eine weltanschaulich-religiöse Fundierung von Politik. Obamas Politik ist ebenfalls wertegeleitet, auch wenn er die überkommenen Werte der amerikanischen Republik anders interpretiert. Er bezieht diese Werte - zum Beispiel - wieder auf die amerikanische Außenpolitik. Guantanamo oder Abu Ghuraib sind mit amerikanischen Traditionen und Werten nicht in Einklang zu bringen. Hier korrigiert er die amerikanische Politik - ohne allerdings den Führungsanspruch aufzugeben.

Aber wenn Habermas und Sie in diesem Punkt Recht haben, dann ist in Deutschland in den vergangenen Jahren um bestimmte Werte oder Wertbegriffe offenbar viel falscher Hokuspokus betrieben worden. Vor allem die Kategorie der Gerechtigkeit war ja spätestens seit den Hartz-Reformen ständig umkämpft. Alle haben sich auf die Gerechtigkeit berufen. Nun sagen Sie offenbar: Das ist als Wertepolitik verkleidete Interessenpolitik. Ist das in den USA anders und echter?

HERZ: Wenn Amerikaner - meist bezogen auf Außenpolitik - vom Gegensatz zu einer wertegeleiteten Politik sprechen, dann benutzen sie ein deutsches Wort: "Realpolitik". Und wenn sie an Realpolitik denken, dann denken viele an Henry Kissinger, der aus ihrer Sicht eine typisch europäisch-teutonische Variante von Politik verkörpert. Natürlich ist amerikanische Politik trotzdem realpolitisch. Nur in ihrer Begründung ist sie das meistens nicht. Das hat eine lange Tradition. Wenn man sich anschaut, wie Jefferson seine Politik begründet hat und was er tatsächlich getan hat, das sind zwei ganz verschiedene Dinge.

Ist diese Art der Wertebezogenheit besser oder schlechter?

HERZ: Man kann nicht alle Politik aus einem allgemeinen Grundsatz ableiten. In Amerika muss Politik wertebezogener sein, weil der Staat auf einer anderen Begründung basiert als die europäischen Staaten. In Europa sind die Staaten mehr oder weniger organisch entstanden: Sie entwickelten sich aus sprachlichen Gemeinschaften, aus Ethnien, aus einer Machtpolitik von Herrschaftshäusern über Jahrhunderte. Diese faktische Entwicklung wurde dann ideologisch überhöht. Die Begründung und Legitimität dieser Staaten werden dann nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt. Die amerikanische Republik dagegen ist eine Kopfgeburt. Sie hatte keinen ethnischen und keinen sprachlichen Grund. Sie konnte ihre Fundierung nur in der politischen Philosophie finden. In den Worten des gerade verstorbenen Ralf Dahrendorf: Sie war die "verwirklichte Aufklärung". Nicht zuletzt deshalb kann man auch heute noch relativ leicht Amerikaner werden, während es in Europa schwer ist, eine - ethnisch oder sprachlich begründete - Staatsangehörigkeit zu bekommen. Amerika muss sich auf Prinzipien der politischen Philosophie oder der Aufklärung berufen. Hinzu kommt eine ganz andere Rolle der Religion. Anders als in Europa sind Staat und Religion in Amerika strikt getrennt, aber zugleich ist die Bevölkerung viel offener für religiöse Fragen. Eine Säkularisierung des Alltags hat in großen Teilen der amerikanischen Gesellschaft nicht stattgefunden. Auch daraus leitet sich ein Wertebezug der Politik ab, den wir in Europa in dieser Form nicht kennen.

Herr Herz, wir danken Ihnen für das Gespräch.

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