Die Geldunion selbst ist das Problem

Wer den Euro retten will, muss die Eurozone auf den Kern ihrer stabilitätsfähigen Mitglieder verkleinern - sonst wird die Währungskrise die EU sprengen

Die Eurokrise spaltet Europa: In Griechenland, Irland, Portugal und Spanien (den GIPS-Staaten) protestieren die Massen gegen die Spardiktate der Deutschen und der Troika aus EU, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds. Hingegen sieht man die Schuld in Berlin, Frankfurt und Brüssel allein bei den GIPS-Ländern, die über ihre Verhältnisse gelebt und gegen alle Regeln des Stabilitätspaktes verstoßen hätten. Und man glaubt, dass die gesamte europäische Integration scheitert, wenn der Euro kippt (und dass dieser kippt, wenn auch nur ein GIPS-Staat insolvent wird) – also müssten die Sünder um jeden Preis gerettet werden. Freilich sollen sie, um die Kredithilfen zu erhalten, unter der Kuratel der Troika drakonische Sparauflagen erfüllen.

Diese vor allem in Berlin verbreitete Deutung der Situation ist wenig zutreffend. Gewiss hat in Griechenland eine leichtfertige Finanzpolitik zu der gegenwärtigen Krise beigetragen. Aber in Irland und Spanien haben die Regierungen nach der Einführung des Euro die Staatsverschuldung weit unter die Maastricht-Grenze (und weit unter das deutsche Niveau) gesenkt. Mehr noch: Im Gegensatz zu Deutschland hatten sie bis zum Beginn der internationalen Finanzkrise im Jahre 2008 ihre Haushalte ausgeglichen oder sogar Überschüsse erzielt. In beiden Ländern war die Staatsverschuldung eine Folge der Finanzkrise – weil Banken vom Staat gerettet und Arbeitsplätze gesichert werden mussten (ebenso wie hierzulande). Dass aber die Staatsverschuldung dort viel stärker eskalierte als bei uns, und dass die Finanzmärkte darauf mit prohibitiven Risikoprämien reagierten, liegt an Fehlentwicklungen vor der Krise, für die nicht die Finanzpolitiker der GIPS-Länder verantwortlich waren, sondern in erster Linie die Europäische Währungsunion selbst und die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank.

Die Währungsunion war auf französischen Druck hin zustande gekommen, aber Deutschland hatte dafür gesorgt, dass die Europäische Zentralbank und deren Geldpolitik dem Modell nachgebildet wurden, das die Bundesbank bei uns in den siebziger Jahren durchgesetzt hatte. Dabei sicherte die unabhängige Zentralbank nicht nur den Geldwert, sondern ermöglichte auch inflationsfreies Wirtschaftswachstum, sofern sich nur die Finanzpolitik und die Lohnpolitik der Sozialpartner in dem von der Geldpolitik vorgegeben Rahmen hielten. Dieses (im Prinzip monetaristische) Modell hatte in der Bundesrepublik zumeist recht gut funktioniert, weil die Bundesbank ihre Geld- und Zinspolitik an den jeweils akuten Inflationsgefahren und Wachstumspotenzialen der eigenen Wirtschaft orientierte, weil der Kontakt zwischen Bank und Regierung eng war und weil die ökonomisch sachverständigen deutschen Industriegewerkschaften in der Lage waren, die jährlichen Vorgaben der Geldpolitik bei ihrer Einschätzung des lohnpolitischen Spielraums zu berücksichtigen.

Die Unterschiede waren zu groß

Diese Funktionsvoraussetzungen konnten bei der Übertragung des Modells selbstverständlich nicht reproduziert werden. Die Währungsunion startete am 1. Januar 1999 zunächst mit elf Mitgliedern – darunter Irland, Portugal und Spanien, während Griechenland erst im Jahr 2001 aufgenommen wurde. Obwohl alle Mitglieder in den neunziger Jahren heroische Anstrengungen unternommen hatten, um die Maastricht-Kriterien für den Beitritt zu erfüllen, waren die wirtschaftlichen, politischen und institutionellen Unterschiede innerhalb der Euro-Gruppe so groß, dass die Eurozone nach dem Urteil insbesondere amerikanischer Ökonomen nicht als „optimal currency area“ zu qualifizieren war, in der die makroökonomische Entwicklung durch eine zentralisierte, einheitliche Geldpolitik erfolgreich gesteuert werden könne. Dagegen erwarteten die Befürworter der Währungsunion, die Währungsunion selbst und der leichtere Handels- und Kapitalverkehr im einheitlichen Währungsraum werde die Konvergenz fördern und die noch vorhandenen Unterschiede rasch einebnen.

Überall sanken die Zinsen

Zunächst schienen sie ja auch Recht zu behalten: Sobald die Finanzmärkte nicht mehr mit der Gefahr von Abwertungen rechnen mussten, sanken die Inflationsraten wie die staatlichen Defizite, und die Zinsen auf die Staatsschuld fielen überall auf das niedrige deutsche Niveau. Anders als Deutschland profitierten also Länder, die zuvor hohe Risikozuschläge bezahlen mussten, nun von stark verbilligten Krediten und zusätzlichen Wachstumsimpulsen, die wiederum die Einhaltung der Defizit-Regeln des Stabilitätspaktes erleichterten. Anders als zuvor befürchtet, betrafen die Risiken der Währungsunion zunächst nicht die Finanzpolitik der Mitgliedsstaaten, sondern vielmehr die Geldpolitik, die man allein der unabhängigen Europäischen Zentralbank überlassen hatte.

Für die Senkung der Inflationsraten, um das Maastricht-Kriterium zu erreichen, hatten die Beitrittsländer noch ihre nationalen Zentralbanken mit ihrer restriktiven Geldpolitik einsetzen können. Im Ergebnis erreichten sie damit auch annähernd (aber eben nicht ganz) das niedrige deutsche Niveau. Mit dem Eintritt in die Währungsunion aber verloren sie jeden Einfluss auf die monetären Instrumente. Und die seither zuständige EZB orientiert ihre Geldmengen- und Zinspolitik an der Eurozone im Ganzen und nicht an den Problemen einzelner Euroländer. Damit konnte sie zwar die durchschnittliche Inflationsrate im Euroraum erfolgreich begrenzen. Aber für Länder, deren Inflations- oder Wachstumsraten über oder unter dem Durchschnitt der Eurozone liegen, war und ist die EZB nicht in der Lage, die Funktion zu übernehmen, die die Geldpolitik der Bundesbank für die deutsche Wirtschaft erfüllt hatte.

Hierzulande hatte die Bundesbank ja die Führungsrolle bei der makroökonomischen Steuerung beansprucht; ihre am jeweiligen Zustand der deutschen Wirtschaft orientierte Geldpolitik sollte stetiges, inflationsfreies Wachstum gewährleisten, sofern nur die Finanzpolitik und die Lohnpolitik den von der Bank definierten monetären Rahmen respektierten. Die am Euro-Durchschnitt orientierte Politik der EZB hingegen ist für manche Länder zu restriktiv und für andere zu lax. Für beide Gruppen wirken ihre monetären Impulse als Fehlsteuerung, die die Wirtschaft entweder in die Überkonjunktur oder in die Rezession treibt.

Deutschlands Flucht in den Export

Das erste Opfer dieser monetären Fehlsteuerung war Deutschland, das der Währungsunion im Konjunkturabschwung und mit der niedrigsten Inflationsrate beigetreten war. In dieser Situation war der nominale Zinssatz  der EZB zu hoch, während er für die GIPS-Länder mit ihren deutlich höheren Inflationsraten zu niedrig war. Deshalb waren die für wirtschaftliche Entscheidungen maßgeblichen (inflationsbereinigten) Realzinsen in Deutschland besonders hoch, während sie in den GIPS-Ländern zeitweise sogar unter den Nullpunkt fielen. Die ohnehin schwache Konsum- und Investitionsnachfrage wurde also in Deutschland durch überhöhte Kreditzinsen zusätzlich gedämpft, während extrem niedrige Realzinsen in den GIPS-Ländern die Nachfrage anheizten. Deshalb geriet Deutschland zwischen 2000 und 2006 in eine langwierige Rezession mit steil ansteigender Arbeitslosigkeit, während zumindest in Irland, Spanien und Griechenland das kreditfinanzierte starke Wirtschaftswachstum die Arbeitslosigkeit abnehmen ließ.

In der ersten Hälfte des Jahrzehnts war Deutschland also der „kranke Mann Europas“. Ohne die Währungsunion hätte die Geldpolitik gegensteuern, eine expansive Finanzpolitik die Beschäftigung stabilisieren können. Weil diese auf Binnennachfrage zielenden Optionen ausgeschlossen waren (Deutschland verletzte den Stabilitätspakt ja schon durch die rezessionsbedingten Mindereinnahmen und Mehrausgaben), blieb nur die angebotsorientierte Hartz-IV-Politik und die Flucht in den Export. Diese Flucht wurde durch eine
extrem vorsichtige Lohnpolitik der Industriegewerkschaften ermöglicht: Die Reallöhne sanken. In den GIPS-Ländern dagegen trieb die starke Binnenkonjunktur die Löhne und die Lohnstückkosten in die Höhe (Abbildung 1) – und den Unterschieden in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit entsprach die zunehmende Diskrepanz der Leistungsbilanzen (Abbildung 2).

Ohne die Währungsunion wären steigende Leistungsbilanzdefizite durch fallende Wechselkurse und höhere Risikozinsen korrigiert worden. In der Eurozone aber gab es für Anleger kein Wechselkursrisiko. Und weil die Einnahmen aus den deutschen Exportüberschüssen nicht im Inland investiert oder konsumiert wurden, finanzierten die deutschen Kapitalexporte eben die wachsende Kreditnachfrage aus den GIPS-Ländern.
Diesem Kreislauf setzte erst die internationale Finanzkrise ein Ende. Viele Staaten mussten sich verschulden, um ihre Banken zu retten und Arbeitsplätze zu sichern. Die von Krediten abhängige Wirtschaft der GIPS-Länder aber wurde durch die weltweite Kreditklemme (und in Irland und Spanien durch eine platzende Immobilienblase) in eine viel tiefere Krise gestürzt, welche die Staatsschuld auch in den bisher besonders soliden Ländern eskalieren ließ. Fortan bezweifelten auch die Rating-Agenturen und die Finanzmärkte die Zahlungsfähigkeit der GIPS-Staaten –mit der Folge, dass neue Kredite nur noch mit exorbitanten Risikoaufschlägen zu erhalten waren. Allein um dieses Problem geht es bisher bei den europäischen Rettungsaktionen für Griechenland, Irland und Portugal.

Aber mit der Ermöglichung bezahlbarer Kredite wird allenfalls Zeit gewonnen. Und auch mit der noch kaum andiskutierten „Restrukturierung“ der Staatsschulden wäre es nicht getan. Die Größe des zu bewältigenden Problems wird erst deutlich, wenn man auch die Diskrepanz der realen effektiven Wechselkurse in Betracht zieht (Abbildung 3). Diese müsste korrigiert werden, sollen die GIPS-Staaten ihre Krisen überwinden. Im Prinzip gibt es dafür nur zwei Lösungen: die nominale oder die reale Abwertung. Die nominale Abwertung, bisher kategorisch ausgeschlossen, erforderte den zumindest vorübergehenden Austritt eines Landes aus der Währungsunion. Die reale Abwertung würde eine drastische Verminderung der Lohnstückkosten bedeuten, und damit eine Absenkung der (nominalen!) Löhne, die weit über das hinausgeht, was die deutschen Gewerkschaften zwischen 2000 und 2005 erreichten. Es ist nicht zu sehen, wie demokratisch verantwortliche Regierungen ein solches Programm durchsetzen könnten. Die Diskrepanz der realen effektiven Wechselkurse ließe sich allenfalls dann vermindern, wenn auch Deutschland zu einer „realen Aufwertung“ (und das hieße höhere Staatsdefizite, höhere Löhne und höhere Inflationsraten) bereit wäre. Dagegen dienen die von der Troika aus EU, EZB und Internationalem Währungsfonds oktroyierten Spar- und Privatisierungsauflagen eher dem Interesse der Gläubiger, die auf die Bedienung ihrer Kredite hoffen, als der Erneuerung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit.

Die Fiktion der Einheitlichkeit

Bei all dem erweist sich die einheitliche Geldpolitik der EZB erneut als Teil des Problems. Für die tiefe Krise der GIPS-Länder sind ja selbst die gegenwärtig niedrigen Zinsen der EZB zu hoch, und die Realzinsen haben dort ein extremes Niveau erreicht. Trotzdem sollen nun – in Antizipation steigender deutscher Inflationsraten – die Zinsen steigen, auch wenn dies eine wirtschaftliche Erholung in den Krisenländern vollends verhindern würde. Denn wie ihr inzwischen zurückgetretenes Direktoriumsmitglied Jürgen Stark am 20. Juni in einem Vortrag erklärte, sieht die EZB ihre Aufgabe allein „darin, die Preisstabilität für den Euroraum zu gewährleisten. Die EZB darf und wird davon nicht abweichen, weil beispielsweise das reale Wachstum oder die Inflationsrate in einigen Mitgliedsländern des Euroraumes erheblich niedriger sind als in anderen Mitgliedsstaaten.“

Die einheitliche Geldpolitik in der nicht einheitlichen Eurozone, die den Anstieg der makroökonomischen Ungleichgewichte verursacht hat, steht also auch heute der Krisenbewältigung innerhalb der Währungsunion im Wege. Daraus folgt: Wer den Euro retten will, der müsste die Eurozone auf den Kern der dauerhaft stabilitätsfähigen Mitglieder verkleinern – und den übrigen EU-Ländern die Rückkehr zu dem früheren und flexibleren Europäischen Währungssystem ermöglichen. Andernfalls könnten die politischen Konflikte zwischen den Mitgliedsstaaten derart eskalieren, dass die Eurokrise tatsächlich zum Sprengsatz für die Europäische Union wird. «

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