Das falsche Thema zur falschen Zeit

zum Schwerpunkt "Die Schutz-Illusion: Warum die Gefahr des Protektionismus wächst", Berliner Republik 3/2009

Die durchgehende Tendenz der Beiträge zum Schwerpunkt "Die Schutz-Illusion" in Heft 3/2009 hat mich irritiert. Aus meiner Sicht fehlte die historische, die politisch-ökonomische und die verteilungspolitische Perspektive, die ich in den folgenden vier Thesen knapp skizzieren möchte.

1. Sozial regulierter Kapitalismus und "embedded liberalism": Der regulierte Kapitalismus der Nachkriegsjahrzehnte - das christdemokratische Modell der kontinentalen "sozialen Marktwirtschaft" wie das sozialdemokratische Modell der skandinavischen Wohlfahrtsstaaten - entstand auf den Trümmern des unregulierten kapitalistischen Weltmarktes, den die erste Weltwirtschaftskrise zerschlagen hatte. Die neuen (und von Land zu Land unterschiedlich gestalteten) Ordnungen konnten sich jedoch nur herausbilden, weil die ökonomische Theorie nach der Krise der dreißiger Jahre den Glauben an die Selbstregulierungsfähigkeit der Märkte verloren hatte, und weil die politische Praxis von der Existenz effektiver nationaler Wirtschaftsgrenzen ausgehen konnte, die weite nationale Gestaltungsspielräume eröffneten.

Unter diesen Umständen erforderte auch die langsam voranschreitende Integration der europäischen Nationalwirtschaften und die noch langsamere Re-Integration der Weltwirtschaft jeweils politische Entscheidungen der nationalen Regierungen, die dabei neben allfälligen wirtschaftlichen Vorteilen und Risiken auch die Rückwirkungen auf die unterschiedlichen nationalen Systeme der sozialen Integration berücksichtigen mussten. Zugleich sollte im internationalen Regime des "embedded liberalism" (also einer sozial eingebetteten liberalen Weltwirtschaftsordnung) eine wirksame internationale Koordination eklatanten Protektionismus und gemeinschaftsschädliches Trittbrettfahren unter den Mitgliedsstaaten der EU verhindern.

2. Die Krise des global deregulierten Kapitalismus: Dieses Regime zerfiel, weil die internationale Koordination während der Ölpreiskrisen der siebziger Jahre versagte. Und weil viele Länder die Krisenfolgen schlecht bewältigten, schwand auch das Vertrauen in die Wirksamkeit nationaler politischer Regulierung. In der ökonomischen Theorie folgte daraus die Renaissance der liberalen Orthodoxie, die staatliche Politik (mit Ausnahme der Geldpolitik einer unabhängigen Zentralbank) nur als Störfaktor einer funktionierenden Marktwirtschaft sah.

Welcher Protektionismus geboten ist

In der nationalen, europäischen und globalen Praxis entsprach all dem das Programm einer umfassenden Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung der Institutionen des sozial regulierten nationalen Kapitalismus. Das Ergebnis war ein global deregulierter Kapitalismus, der einerseits die Verflechtung und wechselseitige Abhängigkeit der Nationalwirtschaften auf ein bisher unvorstellbares Niveau steigerte, und der andererseits die Finanzmärkte von ihrer dienenden Funktion für die Realwirtschaft befreite. Die zweite Weltwirtschaftskrise ist deshalb ebenso wie die erste die " im Prinzip immer wahrscheinliche " Folge eines global agierenden und national deregulierten Kapitalismus.

3. Kontrollierter Rückbau der Verflechtung? Vor der "Schutz-Illusion" braucht man heute nicht zu warnen. Anders als in der ersten Weltwirtschaftskrise wäre die Autarkie-Politik Hitlers oder der amerikanische, britische und schwedische Protektionismus der dreißiger Jahre heute keine Option der Krisenbewältigung. Wenn in Deutschland nur hier produzierte Güter verkauft werden dürften, wären die Warenhäuser leer - und ohne den deutschen Maschinen- und Anlagenbau käme die Industrialisierung im Rest der Welt nicht mehr voran. Das Ergebnis dieser extremen Spezialisierung und Verflechtung sind jedoch extreme Ungleichgewichte auf den Gütermärkten der Welt, deren Folgen nun krisenverschärfend wirksam werden. Aber diese Ungleichgewichte waren nicht die Ursache der gegenwärtigen Malaise.

Die Ursache liegt in der globalen Verflechtung unkontrollierter Kapitalmärkte, die die regional begrenzten Probleme der amerikanischen Immobilienfinanzierung innerhalb kürzester Zeit zur weltweiten Krise der Finanzwirtschaft mit katastrophalen Rückwirkungen auf die Realwirtschaft eskalieren ließ. Dass deshalb mehr Regulierung und mehr Koordination auf globalem und europäischem Niveau nötig sei, ist heute zum Allgemeinplatz geworden. Aber die Unterschiede der jeweils vertretenen Regulierungsphilosophie sind so deutlich, dass man an der Effektivität der Koordination zweifeln muss.

Vor allem aber ist jede Form der international koordinierten Regulierung der Kapitalmärkte auf die Effektivität der nationalen Implementation angewiesen. Diese kann jedoch immer durch die ungehinderte globale Mobilität des Kapitals unterlaufen werden. Wer also die Krisentendenz des deregulierten Finanzkapitalismus wirksam bekämpfen will, der darf nationale Maßnahmen zu seiner Re-Regulierung (und zu seiner Besteuerung) nicht länger durch rechtliche (vor allem europarechtliche) Garantien der uneingeschränkten Kapitalmobilität behindern. Wenn darin eine Tendenz zum Protektionismus zu sehen wäre, dann müsste man in der Tat für mehr Protektionismus eintreten.

Warum der Export zum Problem wird

Aber auch auf den Gütermärkten kann das inzwischen erreichte Maß der Verflechtung, Spezialisierung und wechselseitigen Abhängigkeit nicht aufrecht erhalten werden: Die Amerikaner werden ihre Rolle als schuldenfinanzierter Generalimporteur der Weltwirtschaft nicht wieder einnehmen können. Und wenn das Öl wieder knapp wird, dann werden die Transportkosten so stark steigen, dass die am Sylter Strand verkauften Nordseekrabben nicht länger zum Puhlen nach Marokko gekarrt werden können. Die Kostenvorteile der Schwellenländer werden also wieder abnehmen, aber ebenso wie in China wird auch bei uns die extreme Spezialisierung auf die Exportindustrie zu einem Strukturproblem werden. Es kann nur überwunden werden, wenn die Produktion von Gütern und Dienstleistungen für die heimische Nachfrage erheblich ausgeweitet wird. Bei diesem notwendigen Strukturwandel wird der Staat eine unverzichtbare fördernde und beschleunigende Rolle übernehmen müssen.

Beispiellose Umverteilung nach oben

Dies ist kein Argument für Handelsschranken. Gerade in Deutschland wäre der Versuch, notleidende Exportbranchen zu schützen, ein Fass ohne Boden. Aber auch der rasche Auf- und Ausbau einer binnenmarktorientierten Warenproduktion und lokaler Dienstleistungen im Bildungswesen, im Gesundheitswesen oder in der Pflege kann auf eine Behinderung der vom Europarecht garantierten "wirtschaftlichen Grundfreiheiten" oder auf die Diskriminierung ausländischer Anbieter hinauslaufen. Ebenso wie bei der Kapitalverkehrsfreiheit geht es auch hier um die notwendige Abwägung zwischen den von der ökonomischen Theorie behaupteten Vorteilen einer perfektionierten Liberalisierung und der fortbestehenden politischen Verantwortung demokratischer Regierungen für das Wohl ihrer Bürger. Das einseitige Plädoyer für Freihandel und gegen Protektionismus wird dem nicht gerecht.

4. Die soziale Asymmetrie der Krisenbewältigung. Aus makroökonomischer Sicht haben die Staaten bisher auf die zweite Weltwirtschaftskrise besser reagiert als auf die erste. Statt durch eine restriktive Geld- und Finanzpolitik die Deflation zu beschleunigen, haben die Zentralbanken die Zinsen gesenkt und die Regierungen automatische Stabilisatoren wirken lassen, Konjunkturprogramme beschlossen, "systemrelevante" Banken mit Eigenkapital und Bürgschaften versorgt und sogar versucht, Großunternehmen vor dem Scheitern zu bewahren. Ob das alles ausreicht, lässt sich noch nicht absehen.

Völlig klar ist aber, dass diese Maßnahmen zu einer historisch beispiellosen Umverteilung von unten nach oben führen werden: Bei dramatisch sinkenden Steuereinnahmen können die Rettungsprogramme nur durch eine rapide ansteigende Staatsverschuldung finanziert werden. Unter den gegebenen Randbedingungen bedeutet dies, dass die Kapitalbesitzer und Banken, deren "Gier" den Crash der spekulativen Finanzmärkte ausgelöst hat, nun relativ sichere Staatsanleihen geboten bekommen. Mehr noch: Da angesichts der garantierten Kapitalverkehrsfreiheit die Möglichkeiten einer Besteuerung von Kapitalerträgen immer stärker eingeschränkt wurden, müssen die vom Staat zu bezahlenden Renditen der Kapitalbesitzer fast vollständig durch die Lohnsteuer der Arbeitnehmer und durch die Mehrwertsteuer der Verbraucher finanziert werden. Und wegen dieser Zusatzbelastung durch den Schuldendienst wird dann das Geld fehlen für den Ausbau des Bildungswesens, des Gesundheitswesens und der Pflegedienste, der allein die Probleme des unvermeidlichen ökonomischen und demografischen Strukturwandels mildern könnte.

Manchmal hilft nur noch das "Gelddrucken"

Diese für eine sozialdemokratische Politik katastrophalen Folgen erscheinen schon jetzt unvermeidlich. Anders wäre es nur, wenn ein politisches Tabu verletzt würde, das für die Mitglieder der Währungsunion auch europarechtlich abgesichert ist. Es verbietet Notenbankkredite zur Finanzierung von Staatsausgaben. Unter normalen Bedingungen wäre diese Form des "Gelddruckens" in der Tat schädlich: Die Inflation müsste steigen, wenn der Staat Geld ausgeben könnte, das nicht an anderer Stelle dem Wirtschaftskreislauf entzogen wird. Aber wenn in der Systemkrise die Nachfrage schlagartig zusammenbricht, während die Produktionskapazitäten noch vorhanden und wettbewerbsfähig sind, dann könnte ein von der Zentralbank finanziertes deficit spending die Wirtschaft stabilisieren, ohne die Inflation anzutreiben - und ohne die Steuerzahler zu belasten. In den Vereinigten Staaten und in Großbritannien besteht das politische Tabu ebenfalls, aber es ist wenigstens nicht rechtlich abgesichert. Deshalb nutzen die Federal Reserve und die Bank of England in der gegenwärtigen Krise auch die Möglichkeit, Notenbankkredite an den Staat zu vergeben. Es wäre Aufgabe der deutschen Politik, die das rechtliche Verbot im Maastricht-Vertrag durchgesetzt hat, sich nun für seine Lockerung einzusetzen.

Netzwerker, werdet wesentlich!

Für die zweite mögliche Maßnahme gegen die drohende Verteilungskatastrophe der eskalierenden Staatsverschuldung muss man die deutsche Politik dagegen nicht erst motivieren. Die europäische Unterbindung des Steuerwettbewerbs bei den Kapitalertragssteuern steht schon seit Jahrzehnten auf der deutschen Wunschliste. Aber die Krise böte vielleicht die Chance, dass ein neuer Vorstoß in Brüssel nicht ebenso pauschal abgeschmettert würde wie die bisherigen. Wenn dies Erfolg hätte, dann könnten auch die Kapitalbesitzer in höherem Maße zur Finanzierung des kommenden Schuldendienstes herangezogen werden.

Kurz: Es sollte auch für die sozialdemokratischen "Netzwerker" heute wichtigere und zugleich schwierigere Themen geben als die Warnung vor den eher wenig wahrscheinlichen Risiken eines "neuen Protektionismus". 

zurück zur Ausgabe