Solidarität statt Nibelungentreue

Eine "Europäische Wirtschaftsregierung" gilt heute vielen als letzter Ausweg aus der Euro-Krise. Doch je mehr diese in die nationale Politik eingriffe, desto heftigeren politischen Widerstand würde sie in den einzelnen Mitgliedsländern provozieren - und der Integration Europas zuwiderlaufen

Die Rettungsaktion zur Bewältigung der Euro-Krise verletzt die Verträge von Maastricht und Lissabon, und ihre ökonomische Wirksamkeit ist zweifelhaft. Schlägt sie fehl, werden die Euro-Länder exorbitante finanzielle und unkalkulierbare politische Kosten bewältigen müssen. Obendrein erschien die deutsche Regierung bei den Verhandlungen als ebenso unsolidarische wie konzeptlose Bremserin. Sie trieb die Kosten der Rettungsaktion in die Höhe und desavouierte den eigenen Anspruch auf eine Führungsrolle in Europa. Aber: So berechtigt diese Kritik auch sein mag, sie trifft noch nicht den Kern des Problems.

1. Im Kern erweist die gegenwärtige Krise die Währungsunion als einen Fall ökonomischer Überintegration. Sie hat die ersten beiden der vier Instrumente einer wirksamen makroökonomischen Steuerung – Wechselkurs, Geldpolitik, Finanzpolitik und Lohnbildung – von den Mitgliedsstaaten auf die Europäische Zentralbank (EZB) übertragen. Deren Entscheidungen aber müssen einheitlich getroffen werden, sie können sich nicht auf die Wirtschaft eines einzelnen Landes beziehen. Dies hätte nur dann gut gehen können, wenn die Eurozone eine optimal currency area mit europaweit annähernd gleichen Wachstums- und Inflationsraten gewesen wäre. Die gegenwärtige Krise hat ihre Ursache darin, dass die notwendige Vorbedingung einer erfolgreichen Währungsunion vor zehn Jahren nicht erfüllt war und seitdem – eben wegen der Währungsunion – immer stärker verfehlt wurde.

2.  Die einheitliche Währungs- und Geldpolitik der EZB muss sich an der durchschnittlichen wirtschaftlichen Entwicklung in der Eurozone orientieren. In Ländern, die vom Durchschnitt abweichen, kann die einheitliche Politik diese Abweichungen jedoch nicht korrigieren, sondern muss sie noch verstärken. Wo das Wachstum schwach und die Inflationsraten niedrig sind, da sind die Zinsen der EZB (und erst recht die Realzinsen) zu hoch. Die ohnehin zu schwache Binnennachfrage wird also noch weiter geschwächt. Bei überdurchschnittlichen Wachstums- und Inflationsraten sind die Euro-Zinsen dagegen zu niedrig. Sie heizen die Binnennachfrage und die Lohnforderungen zusätzlich an, während der – für diese Länder – zu hohe Euro-Wechselkurs ihre Wettbewerbsfähigkeit auf den Exportmärkten zunehmend beschränkt.

3.  Das erste Opfer einer Euro-induzierten Fehlentwicklung war Deutschland, wo der zu hohe Realzins die Rezession in der ersten Hälfte des Jahrzehnts vertieft und verlängert hat, während das Wachstum in allen anderen Euro-Ländern davon profitierte, dass die Euro-Zinsen zunächst auf das niedere deutsche Niveau fielen. Aus dieser Falle hätte uns die staatliche Finanzpolitik, die wegen der hohen Arbeitslosigkeit ohnehin die Maastricht-Kriterien verletzte, nur befreien können, wenn sie das deficit spending dramatisch ausgeweitet hätte, um die Binnennachfrage zu stärken und die Inflationsrate wenigstens auf den europäischen Durchschnitt zu erhöhen. Eine solche Strategie wollte und konnte die rot-grüne Regierung nicht wählen. Stattdessen hat uns die IG Metall aus der Rezession herausgepaukt. Sie sorgte dafür, dass der Anstieg der Lohnstückkosten weit unter der Entwicklung in anderen Euro-Ländern blieb. Davon profitierten die deutschen Exporte, während die Binnennachfrage stagnierte.

4.  Weil wir unsere Rezession mittels Lohnverzicht (der einer realen Abwertung gleichkam) überwanden, verschärften wir die komplementären Probleme in Ländern wie Irland, Portugal, Spanien, Italien oder eben Griechenland. Dort hatten die zu niedrigen Euro-Zinsen einen Anstieg der privaten Verschuldung und damit eine Binnenkonjunktur begünstigt, die den schleichenden Verlust der internationalen Wettbewerbsfähigkeit zunächst überdeckte. Überdies gab es dort auch keine Gewerkschaften, die wie die IG Metall fähig gewesen wären, Arbeitsplatzverluste im Exportsektor durch Lohndisziplin zu verhindern. Nachdem jedoch die globale Bankenkrise die kreditfinanzierte Binnenkonjunktur beendet hatte, musste der Anstieg der Arbeitslosigkeit einen ebensolchen Anstieg der Staatsverschuldung nach sich ziehen.

5.  Es kann deshalb nicht verwundern, dass nun die Rating-Agenturen und die internationalen Kapitalmärkte auf die Kombination stetig wachsender Leistungsbilanzdefizite und kurzfristig eskalierender Staatsschulden negativ reagieren. Daran kann und wird auch die jetzt beschlossene Garantie der Euro-Staaten in Höhe von 750 Milliarden Euro nichts ändern. Sie mag die kurzfristige Spekulationsdynamik stoppen, aber wenn die Strukturprobleme der Defizitländer nicht beseitigt werden, bleibt der Druck bestehen und kann jederzeit neue Spekulationswellen gegen einzelne Länder auslösen. Und solange der Strukturfehler der Währungsunion nicht korrigiert wird, können sich solche Attacken immer auch gegen den Euro selbst richten.

6.  Wer unter solchen Bedingungen den Euro nach dem Prinzip „koste es, was es wolle“ verteidigt, der bewahrt eine Struktur, die einige Mitglieder ins Defizit treibt, und die es anderen (vor allem Deutschland) leicht macht, übermäßige Exportüberschüsse zu erwirtschaften. Allerdings geht es in der gegenwärtigen Diskussion in der Tat nicht nur um die Bürgschaften, sondern auch um neue Strukturen: Zur Absicherung des Krisenprogramms, das die Regeln des Lissabonner Vertrages zur Makulatur machte, fordern nicht nur die französische Regierung, sondern auch die europäische Linke die Etablierung einer „Wirtschaftsregierung“, die die gemeinsame Währungs- und Geldpolitik durch die wirksame Koordination der nationalen Finanz- und Steuerpolitik ergänzen soll. Und selbst die deutsche Politik, die solche Initiativen bisher immer blockierte, fordert nun eine europaweite „Schuldenbremse“, die strikte Überwachung der Haushaltspolitik in den Mitgliedsstaaten und harte Sanktionen bei allen Verstößen.

7.  Sofern solche Forderungen nicht lediglich der innenpolitischen Kosmetik dienen, wäre ihre Durchsetzung freilich fatal. Ökonomisch müssten drakonisch sanktionierte Sparauflagen bei der sozialen Sicherung, der Bildung und der öffentlichen Infrastruktur die Wirtschaft der Defizitländer vollends in eine tiefe Deflationskrise treiben. Die sozialen und politischen Konsequenzen einer so katastrophalen Sanierungspolitik mag man sich lieber nicht vorstellen. Man sollte auch nicht hoffen, dass rigorose Kontrollen und Sanktionen die rasche Bekehrung nachgiebiger Politiker und leichtlebiger Völker zu den Tugenden der „schwäbischen Hausfrau“ bewirken könnten. An gravierenden Unterschieden der Gesellschaftsformationen, der Wirtschaftsstrukturen, der Arbeitsbeziehungen und der politischen Kulturen kann auch eine europäische Wirtschaftsregierung nichts ändern.

8.  Offenbar geht es den guten Europäern aber auch gar nicht um wirksame Hilfen für Griechenland, sondern um die politische Integration Europas. Das hat Tradition. Seit den Römischen Verträgen will die pro-europäische Politik mit der Verschärfung der wirtschaftlichen Integration eine Entwicklung forcieren, an deren Ende der demokratische europäische Bundesstaat stehen soll. Deshalb hat man den Mitgliedsstaaten von der Zollunion über die Freihandelszone und das Binnenmarktprogramm bis zur Währungsunion immer mehr jener Eingriffs- und Steuerungsinstrumente aus der Hand geschlagen, mit denen demokratische Politik nach der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre die Zivilisierung des „räuberischen Kapitalismus“ erreichen wollte und zunächst auch erreicht hat. Das Ergebnis war jedoch nicht die erhoffte politische Integration Europas, sondern die erneute Freisetzung der destruktiven Dynamik eines entfesselten Kapitalismus und eine wachsende Kluft zwischen den Gewinnern und den Verlierern der ökonomischen Integration in den Mitgliedsstaaten.

9. Auch die Institutionalisierung einer europäischen Wirtschaftsregierung könnte die politische Integration der Völker Europas nicht herbeizwingen. Im Gegenteil: Sie müsste zur Verteidigung des Euro tief in die noch verbliebenen Handlungsspielräume und in die Sozialstrukturen der einzelnen Länder eingreifen. Diese Eingriffe könnten beim gegenwärtigen Stand der europäischen Institutionen nur technokratisch oktroyiert werden, aber es gäbe niemand, der dafür vor den betroffenen Wählern die politische Verantwortung übernehmen könnte. Das wahrscheinliche Ergebnis wäre nicht die Stärkung der europäischen politischen Identität und der demokratischen Legitimität, sondern politische Frustration und anti-europäische Radikalisierung in den betroffenen Mitgliedsstaaten.

10. Die ökonomischen Folgeprobleme der jetzigen Währungsunion könnten also auch durch eine europäische Wirtschaftsregierung nicht wirksam korrigiert werden. Und je stärker diese in die nationale Politik eingreifen würde, desto mehr müsste sie Reaktionen provozieren, die einer demokratisch-politischen Integration Europas zuwiderlaufen. Daraus folgt, dass der Versuch, politische Integration durch verschärfte ökonomische Integration zu erzwingen, nicht wiederholt werden darf. Stattdessen müsste es nun um institutionelle Reformen in die Gegenrichtung gehen. Die ökonomische Integration müsste so weit zurückgenommen werden, dass die Probleme der einzelnen Länder nicht länger durch falsche Steuerungsimpulse der EZB verschärft werden. Zugleich müssten die Reformen bei allfälligen Wirtschaftskrisen die Reaktionsmöglichkeiten der nationalen Politik wieder stärken.

11. Ist die Richtung der nötigen Reformen einmal akzeptiert, sollten Fachleute in der Lage sein, praktikable Optionen zu entwickeln. Beispielsweise könnte man die gegenwärtige Währungsunion auf eine optimal currency zone verkleinern, der nur Länder mit ähnlichen Strukturen und gleichgerichteter Dynamik angehören. Die übrigen Euro-Länder könnten dann zu einer eigenen Währung zurückkehren, die über den schon existierenden und flexibleren „Wechselkursmechanismus II“ an den Euro gebunden bleibt. Denkbar wäre aber auch eine Weiterentwicklung des von Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing im Jahr 1979 eingeführten und bis 1998 praktizierten Europäischen Währungssystems (EWS). Es hatte alle beteiligten Währungen über Wechselkurse mit begrenzten Schwankungsbreiten an den ECU gebunden, ließ aber notfalls auch die konsentierte Abwertung zu. Würde der Euro weiterhin als Parallelwährung in allen Mitgliedsstaaten zugelassen, und würde nicht wie zuvor die Deutsche Bundesbank, sondern die EZB die europäische Geldpolitik bestimmen, würden vermutlich viele der Einwände entfallen, die in den neunziger Jahren den Übergang vom EWS zur Währungsunion bestimmt hatten.

12. Als die Regierung Merkel noch zögerte, den riesigen Euro-Rettungsschirm aufzuspannen, warf man ihr mangelnde europäische Solidarität vor. Mit größerem Recht könnte man nun behaupten, dass sie mit dem Euro die Wettbewerbsvorteile der deutschen Industrie auf Kosten der Arbeitsplätze in den Defizitländern verteidigt habe. Politisch geht es jedoch darum, wofür europäische Solidarität gefordert und geleistet werden soll – für die fiskalisch hochriskante Verteidigung der ökonomisch falschen und demokratisch nicht legitimierbaren Währungsunion, oder für deren Umbau hin zu einer für alle Mitglieder verträglichen neuen Struktur. Auch dieser Umbau würde solidarische Hilfen zur Anpassung der Wirtschaft in den Defizitländern an die neuen Bedingungen des internationalen Wettbewerbs erfordern. Aber statt der Nibelungentreue für die falsche Sache, die am Ende in die Katastrophe führt, wäre dies Solidarität im Sinne einer gemeinsamen Zukunft im europäischen Haus. «

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