Polemik mit unsinnigen Argumenten

Zu Thomas Hanke, Soziale Politik statt Rückkehr zum Nationalen, Berliner Republik 3+4/2012 - sowie eine Nachbemerkung dazu, wie Sozialdemokraten und Grüne heute ehrlicherweise zum Thema Eurokrise argumentieren müssten

Thomas Hanke will Debattenpunkte sammeln, indem er unsinnige Behauptungen widerlegt, die niemand vertreten hat. Dafür drei Beispiele. Erstens: Selbstverständlich hat der Euro „die Finanzkrise nicht ausgelöst“. Der Auslöser ist selten auch der Verursacher. Auslöser war in der Tat die Lehman-Krise. Aber die unterschiedliche Verwundbarkeit der Euroländer ist Fehlentwicklungen vor Beginn der Lehman-Krise geschuldet, die durch die Währungsunion verursacht wurden. Das habe ich an anderer Stelle belegt.1 Ihretwegen waren die deutschen Überschüsse der Leistungsbilanz zwischen 1999 und 2008 auf mehr als 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) angestiegen. Dagegen mussten die Defizite von Irland, Spanien, Portugal und Griechenland durch Kapitalimporte in der Größenordnung von 10 bis 15 Prozent des BIP finanziert werden. Dass Länder, deren Wirtschaft in extremer Weise von ausländischen Krediten abhängig geworden war, durch die weltweite Kreditverknappung nach Beginn der Lehman-Krise in eine besonders tiefe Wirtschaftskrise getrieben wurden, die dann den besonders steilen Anstieg der Staatsverschuldung auslöste, haben offenbar weder die Politiker in Berlin noch die deutsche Wirtschaftspresse verstanden.

Stattdessen fantasieren die deutschen Politiker (aber nicht Frank-Walter Steinmeier im gleichen Heft der Berliner Republik) von verantwortungsloser Staatsverschuldung in den heutigen Krisenländern, obwohl doch die Staatsschuld in Irland und Spanien vor der Lehman-Krise weit unter der deutschen gelegen hatte. Thomas Hanke dagegen sieht die Schuld bei Versäumnissen in der Berufsausbildung und der Lohnpolitik. Und das, obwohl jetzt die gutausgebildeten Ingenieure aus Griechenland, Spanien und Portugal zu Tausenden Jobs in Deutschland suchen, und obwohl keine Gewerkschaft und keine Regierung in der durch viel zu billiges Eurogeld überhitzten spanischen Konjunktur eine maßvolle Lohnpolitik hätte durchsetzen können.

Zweitens: Ja, die Zahlungsbilanz wird in der Tat noch als Statistik geführt. Aber als Warnlampe, die die nationale Politik zum Handeln zwingt, ist sie verschwunden, seit in der Währungsunion der Zwang entfiel, entstehende Defizite entweder durch Gold und harte Devisen auszugleichen oder eine Abwertung des nominalen Wechselkurses hinzunehmen.

Drittens: Selbstverständlich hat auch niemand behauptet, Änderungen der nominalen Wechselkurse könnten reale Preis- und Lohnanpassungen vermeiden. Aber den politisch-ökonomischen Unterschied zwischen beiden Formen der Anpassung sollten doch auch Wirtschaftsjournalisten erkennen können. Zwischen 1999 und 2008 war der reale Wechselkurs (und waren damit die relativen Preise der Exporte) für Irland um 25 Prozent und für Spanien um 15 Prozent gestiegen, während die deutschen Exporte durch eine reale Unterbewertung von fast 20 Prozent begünstigt wurden. Hätten die benachteiligten Länder abwerten können, wären die Exportpreise gesunken und die Importpreise gestiegen. Die Produktion im Inland wäre also wettbewerbsfähiger und Investitionen im Exportsektor wären profitabler geworden. Zugleich wäre aber das Leben im Inland für alle (das heißt für die Reichen wie für die Armen) teurer geworden, soweit sie auf importierte Waren und Dienstleistungen angewiesen sind. Und wenn die Gewerkschaften dafür einen Lohnausgleich durchgesetzt hätten, dann hätte es in der Tat auch zu einer Abwertungsspirale kommen können, welche die erhofften Wachstumseffekte vereitelt. Aber darüber hätte ja eine demokratisch legitimierte Regierung mit verantwortungsvollen Gewerkschaften reden können.

Bei der realen Abwertung hingegen müssen, um die gleiche Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen, die Lohnstückkosten im Exportsektor drastisch gesenkt werden. Und da bei fehlender Wettbewerbsfähigkeit privates Kapital für produktivitätssteigernde Investitionen nicht zur Verfügung steht, kann die notwendige Anpassung nur mittels einer drastischen Senkung der nominalen Löhne erreicht werden. Betroffen sind dadurch also nur die Einkommen der Arbeitnehmer, während nicht nur die Unternehmensgewinne, sondern vermutlich alle Kapitaleinkommen zur Förderung der „Investitionsneigung“ maximal entlastet werden müssen. Die soziale Ungleichheit muss also steil ansteigen.

Es erscheint ausgeschlossen, dass freie Gewerkschaften einer derart drastischen Senkung der Nominallöhne zustimmen könnten. Ebenso hat sich schon in den siebziger Jahren gezeigt, dass auch gesetzliche Lohnstopps im privaten Sektor der Wirtschaft ohne Wirkung bleiben, selbst wenn sie politisch durchgesetzt werden könnten. Das einzige, was der Staat einsetzen kann, sind indirekt wirkende Maßnahmen zur Lohnsenkung „durch den Markt“ – soll heißen: durch Verschärfung des Lohndrucks der Massenarbeitslosigkeit.

Eben diese Form der „realen Anpassung“ wird durch die gegenwärtigen „Reformen“ in den Defizitstaaten vorgenommen – entweder (wie in Montis Italien) zur Vermeidung einer Berliner „Fremdherrschaft“ oder zur Erfüllung der in den „Memoranda of Understanding“ mit der „Troika“ formulierten Oktrois. Dabei geht es eben nicht nur um Einsparungen im Staatshaushalt, deren negative Rückwirkung auf Wirtschaftsentwicklung, Staatseinnahmen, Staatsausgaben und Defizite man gewiss vorhergesehen hat. Sondern es ging und geht vor allem um die Senkung der Nominallöhne im privaten Sektor durch Verschärfung der Lohnkonkurrenz zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen. Dem dienen die Senkung der Mindestlöhne, des Arbeitslosengeldes und der Sozialleistungen für Arbeitslose bei gleichzeitiger Lockerung der Tarifbindung, des Kündigungsschutzes und anderer Regeln des Arbeitsrechts. Mit anderen Worten: Was den Krisenländern verordnet wird und was ohne Rücksicht auf die demokratische Willensbildung im Land durchgesetzt werden muss, ist die Rezeptur von Hartz IV – allerdings unter den Bedingungen einer tiefen Wirtschaftskrise, die mit der deutschen Rezession von 2001 bis 2005 (die ebenfalls durch den Euro verursacht worden war), überhaupt nicht vergleichbar ist.

Eine Nachbemerkung: Viel beunruhigender als die mangelnde Sensibilität eines Wirtschaftsjournalisten für die sozialen und demokratischen Verheerungen, die der Euro und seine Verteidigung in den Krisenländern anrichten, finde ich die Ratlosigkeit rot-grüner Politiker, die die Ursachen der Krise und ihre Folgen verstanden haben, aber trotzdem überzeugt sind, dass der Weg zurück zum flexibleren und demokratisch legitimen Europäischen Währungssystem versperrt sei. Ihnen sage ich: Wer am Euro festhalten will, muss zuallererst die Staatskreditkrise der Defizitländer beenden – entweder durch eine Bankenlizenz des Rettungsschirms ESM oder gleich auf dem Wege der monetären Staatsfinanzierung über die Europäische Zentralbank.

Wenn dann die europäische Politik nicht mehr vom unmittelbaren Druck der Finanzmärkte getrieben wird, kann sie sich endlich den ökonomischen und sozialen Krisen in den Defizitländern zuwenden. Aber wer dort die soziale Verelendung bei 20 Prozent Arbeitslosigkeit und bei mehr als 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit (und deren politische Folgen) nicht hinnehmen will, müsste doch akzeptieren, dass in der Währungsunion an der realen Anpassung und damit an der Nominallohn-Senkung kein Weg vorbei führt. Es genügt also nicht, einen europäischen „Wachstumspakt“ mit Subventionen für Energie-Effizienz, Infrastruktur, Berufsbildung und private Investitionen zu fordern. Solange die Wettbewerbsfähigkeit nicht wiederhergestellt wird, würden solche Programme das selbsttragende Wirtschaftswachstum in Griechenland, Spanien oder Portugal so wenig in Gang bringen, wie ähnliche Programme das in Ostdeutschland oder im italienischen Mezzogiorno erreichten. Bis dahin bleibt uns nichts anderes übrig, als wenigstens die Sozialsysteme der Krisenländer zu stützen – zur Stabilisierung der Sozialeinkommen und des Bildungswesens, für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und zur Unterstützung von Lohnsenkungen durch ergänzende Sozialleistungen. Das ist die Transferunion, die wir nicht verweigern können, ohne unsere politische und moralische Identität aufzugeben. Und sie wird teuer.

Nun sagen alle: Damit können wir keine Wahl gewinnen! Aber das gilt ja nur dann, wenn auch Sozialdemokraten und Grüne die falschen Schuldzuweisungen an die jetzigen Krisenländer akzeptieren und sogar selbst kolportieren. Der einzige Diskurs, den wir ehrlich und erfolgreich vertreten könnten, ginge etwa so:

„Die Währungsunion war der verfehlte Versuch, die wirtschaftliche Integration weit über die Grenzen der heute möglichen sozialen und politischen Integration Europas hinaus voranzutreiben. Auch wir haben uns damals von falschen ökonomischen Theorien und unserer Europa-Begeisterung täuschen lassen. Die weltweite Finanzkrise von 2008 hat gezeigt, dass die Währungsunion nicht funktionieren konnte. Wir müssten deshalb mit der ökonomischen Integration eigentlich einen Schritt zurückgehen. Die Risiken der Umkehr erscheinen uns jedoch so groß, dass wir sie nicht verantworten wollen. Und die Versuche zur Euro-Rettung haben gezeigt, dass auch die Flucht nach vorne zum demokratischen Bundesstaat vorerst keine Chance hätte. Also bleibt es dabei: Die jetzigen Defizitländer sind durch den Euro und die Euro-Rettung in eine tiefe wirtschaftliche und soziale Krise getrieben worden, die wir gemeinsam verursacht haben und in der wir sie nicht allein lassen können. Zumindest bis bessere Lösungen gefunden sind, müssen wir den Opfern helfen, indem wir durch Transfers wenigstens die Sozialsysteme in den betroffenen Staaten stützen.“

So könnte man argumentieren. Aber dann sagen alle: „Und was ist mit Bild, BamS und Glotze?“

1 Fritz W. Scharpf, Monetary Union Fiscal Crisis and the Preemption of Democracy, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 9 (2011), 2, S. 163–198.


zurück zur Ausgabe