Zukunft beschimpfen? Keine gute Idee

zu Rolf Stöckel, Hohepriester und nützliche Idioten, Berliner Republik 5/2011

In der vergangenen Ausgabe der Berliner Republik verspottete Rolf Stöckel die Piratenpartei als „Hohepriester und nützliche Idioten“. Aber Borniertheit wird dem Phänomen der Piraten nicht gerecht, sondern stärkt sie zusätzlich. Besser wäre es, wir würden uns mit den Ursachen ihres Erfolges auseinandersetzen. Sonst wiederholen wir nur die Fehler der achtziger Jahre, als sich die neue politische Kraft der Grünen etablieren konnte.

In seiner Tirade behauptet Rolf Stöckel, die Piraten würden diejenigen mobben, die sich für Netzsperren einsetzen. Diese Aussage wirkt etwas aus der Zeit gefallen, erschien sein Artikel doch just in dem Monat, als nach mehr als dreijähriger Debatte endlich alle Fraktionen im Bundestag das leidige Internetsperrgesetz aufhoben. Und zwar nicht wegen „Piraten-Mobbing“, sondern aus gutem Grund: Netzsperren sind wenig effektiv, ungenau und außerdem technisch leicht zu umgehen. Sie können keinen wesentlichen Beitrag zur Bekämpfung von Pädokriminellen und anderen Straftätern im Internet leisten. Zudem sind Internetsperren der Einstieg in eine Infrastruktur, die bei Internetaktivisten berechtigte Bedenken hervorruft und verfassungsrechtlich problematisch ist.

Nein, im Kampf gegen Kriminelle im Internet sind „Stoppschilder“ wirkungslose Symbolpolitik. Deshalb war die Aufhebung des Internetsperrgesetzes ein wichtiger Schritt, um eines der Missverständnisse aus der Welt zu schaffen, das zwischen Netzaktivsten und Politikern bestand. Internetkriminalität können wir nur dann wirksam bekämpfen, wenn wir illegale Inhalte auf Basis des geltenden Rechts konsequent löschen, die Polizeibehörden technisch und personell besser ausstatten, Schwerpunktstaatsanwaltschaften einrichten sowie zwischen den Bundesländern und auf internationaler Ebene enger zusammenarbeiten.

Zwar haben Themen wie Internetsperren ein hohes Mobilisierungspotenzial bei Netzaktivsten, aber das erklärt noch nicht, warum die Piraten derartig populär geworden sind. Ein Blick in einen Klassiker der Wahlforschung hilft weiter: Gemäß dem schon vor 60 Jahren entwickelten Ann-Arbor-Modell wird das Wahlverhalten langfristig davon beeinflusst, wie sehr sich der Betreffende mit einer Partei identifiziert. Kurzfristig kommen Themen und Kandidaten als entscheidende Größen hinzu. Es geht also um PPP: Parteiidentifikation, Programm und Personen.

Der starke Mitgliederzuwachs der Piratenpartei spricht dafür, dass viele Anhänger sich dort dauerhaft engagieren möchten. Dennoch haben die meisten Sympathisanten noch eine relativ schwache Bindung an die junge Partei. Von einer breiten Identifikation mit den Piraten kann nach nur einem Wahlerfolg zumindest nicht gesprochen werden. Andererseits sind Personal und Programm der Piraten vergleichsweise attraktiv. Themen wie die Ablehnung von Überwachungsstaat und Vorratsdatenspeicherung, der kostenfreie Zugang zu öffentlichen Gütern und der freie Zugang zu Bildung und Unterhaltung sprechen vor allem auch junge Wähler an, die über wenig Geld verfügen und für die das Internet Teil des Alltags ist.

Vermittelt werden diese Inhalte von weitgehend unbekannten und unerfahrenen Kandidaten, die aufgrund ihres jugendlichen und unkonventionellen Auftretens als Repräsentanten einer neuen Lebenswelt daherkommen: Latzhose in BSR-Orange und Pali-Tuch statt Anzug und Krawatte, Dienstfahrräder statt Dienstwagen, eine 24-jährige Studentin als politische Geschäftsführerin statt Politikprofis an der Parteispitze – das sind wirkungsvolle Signale. Laut einer Analyse des Politikberaters Erik Flügge für den Think Tank „Kunstgriff“ ergibt sich daraus „eine Gesamtästhetik, die jungen Menschen in hohem Maße unterstützenswert erscheint“.

Die Piraten sehen sich als Gegenentwurf zu den etablierten Parteien, gleichsam als moderne und modernisierende politische Bewegung außerhalb des herkömmlichen Parteienspektrums. Sie verkörpern das Lebensgefühl der digital generation, die viele Mechanismen der Offline-Welt nicht akzeptiert. Zu ihren Kernforderungen gehören mehr Transparenz und Beteiligungsmöglichkeiten. Folglich verläuft auch die innerparteiliche Willensbildung basisdemokratisch: Jedes Mitglied kann Anträge zur programmatischen Ausrichtung einbringen. Das Delegiertenprinzip lehnen die Piraten ab. Wer als Mitglied zum Parteitag erscheint, darf über alle Belange der Partei mit abstimmen. Dabei sind die Piraten mehr als ein simples Basisdemokratie-Revival der Grünen, sondern sie versuchen mit ihrer technologisierten Demokratie in Form von „liquid feedback“ und „delegated voting“, einen Weg zwischen Basisdemokratie, direkter Demokratie und repräsentativer Demokratie zu etablieren. Es ist nicht zu hoch gegriffen, die Partei als „Demokratie-Labor“ zu bezeichnen. Die etablierten Akteure sollten die neuen Formen der Partizipation aufmerksam beobachten und überlegen, was sie davon lernen können.

Die Entscheidungsprozesse der Piraten sind unkoordiniert und wenig berechenbar, können aber auch besonders flexibel sein und hohe Schlagkraft entwickeln. Freilich ist offen, ob es den Piraten gelingt, Positionen zu komplexen und sich rasch wandelnden Themen wie der europäischen Schuldenkrise zu formulieren. Die Zweifel an der Politikfähigkeit der Piraten werden wachsen, wenn die Partei in zentralen Politikfeldern nicht wenigstens Minimalpositionen entwickelt. Der Spitzenkandidat der Berliner Piratenpartei Andreas Baum antwortete im Abgeordnetenhaus-Wahlkampf, als es um Fragen der Wirtschaftspolitik ging: „Da müssen wir uns noch einlesen.“ Die Piraten sollten sich schleunigst „Klarmachen zum Einlesen“, denn bei der Bundestagswahl 2013 wird Konzeptlosigkeit nicht mehr nur Schmunzeln, sondern auch großes Kopfschütteln auslösen.

Trotz der lückenhaften Inhalte und Strukturen einer unfertigen „Mitmach-Partei“ haben die Piraten ein positives Image, nicht zuletzt aufgrund ihrer spaß- und aktionsbetonten Arbeitsweise. Die neue Konkurrenz fordert die etablierten Parteien heraus, sich zu erneuern. Die SPD hat mit der jüngsten Parteireform, die Strukturen verschlankt und Basismitgliedern mehr Gestaltungsraum gibt, einen Schritt nach vorne getan. Es ist auch richtig, dass die Bundestagsfraktion der SPD auf kooperative Diskurs-Instrumente wie „Adhocracy“ setzt (www.zukunftsdialog.spdfraktion.de). Darauf können wir aufbauen.

Übrigens ist Rolf Stöckels Aussage nicht richtig, die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus 2011 seien die Initialzündung der Piratenpartei gewesen. Die Wurzeln der Piraten liegen in internationalen sozialen Bewegungen, die sich mit dem Internet, dem Urheberrecht oder der Informationsfreiheit beschäftigen. So stammt die schwedische Piratenpartei aus dem Umfeld der Internet-Tauschbörse „Pirate Bay“. Als deren Betreiber im Jahr 2009 wegen Verletzung des Urheberrechts verurteilt wurden, traten binnen weniger Tage 3.000 Schweden in die Partei ein. Bei der folgenden Europawahl zog sie mit 7,1 Prozent der schwedischen Stimmen ins Europäische Parlament ein. Heute gibt es Piratenparteien in mehr als 40 Ländern.

Der Erfolg zeichnete sich auch in Deutschland schon früher ab. Im Jahr 2006 mit nur 52 Mitgliedern gegründet, gewann die deutsche Piratenpartei allein im Wahljahr 2009 rund 12.000 Mitglieder hinzu. Heute hat sie 23.000 Aktive in ihren Reihen. Der beachtliche Anklang bei Erstwählern schafft die Grundlage für eine langfristige Perspektive: Schon bei der Bundestagswahl 2009 machten 13 Prozent der männlichen Erstwähler ihr Kreuz bei den Piraten. Bei der Abgeordnetenhauswahl in Berlin 2011 waren es sogar 21 Prozent. Das muss gerade der SPD zu denken geben, die bei Jungwählern jahrzehntelang unangefochten war. Hatten in den siebziger Jahren noch 55 Prozent der Unter-25-Jährigen „Willy“ gewählt und im Jahr 2005 immerhin noch 37 Prozent ihr Kreuz bei der SPD gemacht, ist der Stimmanteil der Jungen 2009 auf 18 Prozent eingebrochen.

Wer von den Piraten lernen will, muss zunächst die grundlegenden Veränderungen im Zuge der Digitalisierung verstehen – den Wandel von Arbeitswelt, Sozialstaat, Wirtschaftsprozessen, ja von Demokratie und Gesellschaft insgesamt. Das Internet ist ein Instrument dieser globalen, sich dynamisierenden Welt, in der sich junge Menschen zurechtfinden müssen. Die etablierten Parteien sollten die Angst vor dem Wandel verlieren. Am Anfang muss das Verständnis für das Lebensgefühl einer jungen Generation stehen.

Christian Stöcker schrieb im Spiegel: „Die jahrtausendealte Herablassung gegenüber der Jugend von heute ist in unseren Tagen eine Herablassung gegenüber der Jugend, die dieses mächtige, bedrohliche, unordentliche, unkontrollierbare Etwas so selbstverständlich nutzt. Mit als Arroganz getarnter Ignoranz drohen Deutschlands große Parteien die Gruppe zu verprellen, die allein dieses Land im 21. Jahrhundert voranbringen wird.“ Eine solche Arroganz würde dazu beitragen, dass die Piratenpartei sich dauerhaft als eine neue politische Kraft im linken Spektrum etabliert. Aber wenn wir ihren Ideen aufgeschlossen und offensiv gegenübertreten und offen sind für das von ihnen transportierte Lebensgefühl, dann stehen die Chancen gut, dass die Piraten als ein vorübergehendes Phänomen in die Geschichte eingehen, welches die Parteilandschaft belebt hat wie eine frische Brise.

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