Wir waren schon einmal weiter

Die SPD schwankt zwischen Orientierungslosigkeit und Hysterie, weil sie zum ideenpolitischen Aufbruch, den sie in den neunziger Jahren wagte, nach dem Ende der Ära Schröder wieder auf Distanz ging

Im Herbst 2007 beschloss die SPD ein neues Grundsatzprogramm. Auch wenn der neuen Führungsspitze unter Franz Müntefering eine Affinität zum Kurs der Agenda 2010 unterstellt wird, den die organisierte Parteilinke unter Kurt Beck stellenweise verwässern konnte, hat die Debatte um die Prinzipien der deutschen Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert damit wohl zunächst ein Ende gefunden. Doch da es der Partei im Vorfeld der Wahlkämpfe des Jahres 2009 schwer fällt, im Klammergriff von Union und Linkspartei ein eigenes Profil zu etablieren, liegt der Verdacht nahe, dass die wirklich drängenden Fragen in Hamburg ausgespart wurden. Was als Befreiungsschlag im Sinne eines neuen „Godesberg“ gedacht war, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als wenig zukunftsfähige Luftnummer. Immerhin: Wer vom Hamburger Programm enttäuscht ist, dem kann entgegengehalten werden, dass Schlimmeres verhindert wurde. Doch was nützt das, wenn die Sozialdemokratie weiterhin eine schlüssige programmatische Antwort auf die umwälzenden ökonomischen, sozialen und technischen Transformationsprozesse der vergangenen Jahre schuldig bleibt? Echte Aufbruchstimmung kann so jedenfalls kaum aufkommen.

Halten wir fest: Die Veränderungen, mit denen wir es zu tun haben, sind so umfassend, dass es für die Sozialdemokratie und ihre programmatische Neuausrichtung zunächst einmal darauf ankommt, überhaupt die richtigen Fragen zu stellen – und zwar ohne Angst vor den möglichen Antworten, auf die man dabei stoßen könnte. Ein solcher Versuch wurde im Laufe der neunziger Jahre in Großbritannien gewagt. Auf der Grundlage soziologischer Einsichten und einer umfassenden historiografischen Nachzeichnung der Sozialdemokratie war es nicht zuletzt das Werk Anthony Giddens’, das jenseits der marketingstrategischen Komponenten von New Labour neue Impulse in den sozialdemokratischen Diskurs brachte. In England noch am stärksten mit grundlegenden Programminhalten verknüpft, blieb der Dritte Weg demgegenüber in seiner deutschen Ausprägung hohl und schaffte es nie, als sinnstiftende Idee in der SPD Fuß zu fassen.

Jenseits der Klassengesellschaft

Obwohl er von seinen Vordenkern mit vielen guten Vorsätzen gepflastert war, empfinden viele orthodoxe Sozialdemokraten den Dritten Weg als vorsätzliche Abkehr vom Pfad der sozialdemokratischen Tugend. Unter den Regierungen Tony Blair und Gerhard Schröder trat nach anfänglicher Euphorie über die lange ersehnten Wahlsiege erst Ernüchterung ein, dann Enttäuschung. Zu stark schien sich die sozialdemokratische Praxis den neoliberalen Trends anzupassen. So wurde der Dritte Weg immer mehr als programmatisch wenig befestigter Trampelpfad wahrgenommen, bei dem man nicht so recht wusste, wohin er führen könnte. Also schritt man ihn nicht mehr weiter, sondern blieb ängstlich auf halber Strecke stehen – und bewegte sich schließlich wieder zurück auf sicher erscheinendes sozialdemokratisches Terrain mit seinen in Jahrzehnten gut ausgeleuchteten Strecken. Vergessen wird, dass der Dritte Weg mitnichten der Versuch war, angebotsorientierte Wirtschaftspolitik sozialdemokratisch zu legitimieren. Vielmehr wagten dessen Vordenker eine Skizze der Sozialdemokratie jenseits der Klassengesellschaft und griffen damit Fragen auf, die nach wie vor weit offen sind.

Da politische Parteien nicht mehr das bloße Ergebnis sozialer Frontstellungen sind (etwa die Sozialdemokratie als Konsequenz des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit) und sich immer weniger auf traditionelle Wählermilieus stützen können, müssen sie fluide Mehrheiten gewinnen. Das aber stellt ihre programmatischen Grundlagen dort in Frage, wo diese auf längst nicht mehr existierende Wählerschichten zugeschnitten sind. Hinzu kommt, dass der soziale Wandel einhergeht mit einer Expansion schichtenübergreifender Zugänge zu Bildung, mit der Folge, dass politische Überzeugungen heute das Ergebnis individueller Reflexion sind und weniger das Resultat einer bestimmten Klassenzugehörigkeit. Mit anderen Worten: Arbeitersöhne und -töchter können Anwälte, Lehrer, Wissenschaftler werden und erben nicht einfach die politische Überzeugung ihrer Eltern, die noch proletarisch sozialisiert worden waren.

Erfindungsreichtum statt Sozialismus

Der Dritte Weg hat als bisher einzige Denkrichtung der Sozialdemokratie diesen Entwicklungen Rechnung getragen. Er setzt genau dort an, wo die klassische Sozialdemokratie in ihrer Fixierung auf die Strukturen der „alten“ Klassengesellschaft versagen musste. Mehr noch: Indem er den sozialen Wandel nicht als Gefahr, sondern als Chance begreift, stellt er die sozialdemokratische Gesellschaftstheorie vom Kopf auf die Füße. Und dies völlig zu Recht, denn ein großer Teil des gesellschaftlichen Wandels, besonders die Emanzipation der Frau, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und die Bildungsexpansion sind – zumindest in Deutschland – auch auf die Leistungen sozialdemokratischer Regierungspolitik in den sechziger und siebziger Jahren zurückzuführen. In der Konsequenz hat dies zum „Verlust“ der alten Klassengesellschaft geführt – und damit zur Erosion politischer Gewissheiten. Die erste programmatische Leistung des „Dritten Weges“ liegt aber gerade darin, diese Entwicklungen nicht zu bedauern, sondern sie als den Fortschritt anzuerkennen, zu dem die Sozialdemokratie Wesentliches beigetragen hat.

Aus dieser Erkenntnis ergibt sich die nächste zwingende Folgerung: Die Idee des demokratischen Sozialismus muss von jeglichem eschatologischen Vorbehalt entkleidet werden. An seine Stelle wird „Erfindungsreichtum“ gesetzt, der den veränderten und sich weiter wandelnden Bedingungen besser und flexibler Rechnung trägt, denn die Komplexität inter- und supranationaler politischer und ökonomischer Verflechtungen unterminiert den Glauben an „Patentrezepte“ vollständig. Das bedeutet: Hält die Sozialdemokratie an ihrer Mittelfixiertheit fest, macht sie sich letztlich handlungsunfähig. Paradoxerweise würde genau dies aber zu einem Bruch mit der Geschichte der Arbeiterbewegung führen, denn sowohl in Deutschland als auch in Großbritannien war deren Handeln stets sehr viel pragmatischer orientiert, als es ihre Programmatik vorgab. Es ist jener Dualismus zwischen Utopie und Praxis, der die Sozialdemokratie über Jahrzehnte hinweg charakterisiert. Auch während der Programmdebatte in der SPD, die mit dem Hamburger Programm eine vorläufige Wegmarke hervorgebracht hat, wurden nicht zuletzt an der Parteibasis Stimmen laut, die erfolgreich die Festschreibung des „utopischen Moments“ einforderten.

Die Unglaubwürdigkeit der alten Utopie

Im Wettbewerb um Wählerstimmen helfen Utopien jedoch nicht weiter. Wann immer die SPD das Gegenteil dessen zu versprechen scheint, was die Partei in Regierungsverantwortung verwirklichen kann, wird aus dem alten Dualismus sogar ein unauflöslicher Widerspruch. Die Utopie ist dann nicht mehr nur Folklore, sondern aus der Sicht der Wähler ein untrügliches Indiz für Unglaubwürdigkeit und programmatischen Anachronismus.

Die inhaltliche Positionierung einer Partei vollzieht sich nicht nur durch Grundsatzprogramme. Tagespolitik, Symbolpolitik und Aussagen prominenter Parteimitglieder prägen das öffentliche Gesamtbild der Partei. In der Öffentlichkeit muss so der Eindruck entstehen, dass die vage Kernprogrammatik der SPD in ihrer Abkehr von sich selbst besteht, genauer: von dem, was sie in der Vergangenheit als Regierungspartei Positives geleistet hat. Dass sie sich durch die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I halbherzig von ihrer eigenen, durch Parteitagsbeschlüsse legitimierten Reformpolitik distanziert hat, ist dabei nur eine Seite der Medaille. Schwerer wiegt, dass es die SPD nicht schafft, einen tragfähigen, positiven Entwurf für die kommenden Jahre vorzulegen. Genau dies wäre die Aufgabe eines modernen Grundsatzprogramms gewesen. Nun aber ist eben jene Abkehr von sich selbst der prägende programmatische Zug der Partei. Man kann es auch Selbstverleugnung nennen.

Auf Distanz zur eigenen Politik

Im Inneren brodelt es weiter gewaltig. Die SPD schwankt zwischen programmatischer Orientierungslosigkeit und unterdrückter Hysterie. Produktives kann daraus nicht erwachsen. Statt mutig nach vorne zu gehen, lautet die Parole: Kommando zurück! Und während des nur wenig inspirierten und noch weniger inspirierenden Rückzugs gilt: Augen zu und durch – auf Durchblick kommt es eh nicht weiter an. Indem sich die SPD de facto von ihren eigenen Arbeitsmarktreformen distanziert, beerdigt sie auch die wichtigen programmatischen Einsichten, die dieser Politik zugrunde lagen. Im Gegensatz zur Labour Party hat die deutsche Sozialdemokratie zwar keine umfassende programmatische Reform erlebt. Die Agenda 2010 war nicht der logische Schluss ihres Programms, sondern der Taschenspielertrick ihres Bundeskanzlers, der die Partei damit in Schockstarre versetzte. Doch auch wenn diese Prinzipien nie verbindlich dokumentiert wurden, so war die Agenda-Politik ebenso wie die Programmkorrektur Tony Blairs Ausdruck einer politischen Geisteshaltung, die sich von den ideologischen Grundüberzeugungen der „alten Linken“ distanziert hatte. Wir waren also schon einmal weiter.
Daher zur Erinnerung und Neubesinnung: Die Grundideen des Dritten Weges beziehen sich im Wesentlichen auf drei Themenfelder, nämlich auf soziale Gerechtigkeit, auf moderne Staatlichkeit und auf die gesellschaftliche Legitimation von Politik. Das sei an drei Beispielen skizziert.

Ausbruch aus der Nullsummenlogik

Erstens: Oft wird übersehen, dass der Dritte Weg keineswegs eine theoretische Einbettung der Sozialdemokratie in den neoliberalen Zeitgeist vornimmt. Er besteht nicht nur auf den Primat der Politik, sondern formuliert auch deutlich die Notwendigkeit der Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums – jedoch zweckgebunden und immun gegen sozialpopulistische Versuchungen. Der Rekurs auf einfache Rezepte und Dichotomien, etwa gegen „Heuschrecken“, kann da kaum überzeugen. Die wahltaktische Absicht wird schnell durchschaut, der Wähler reagiert verstimmt und wählt im Zweifel etwas Anderes. Wenn Anthony Giddens von „Chancengleichheit“ spricht, welche „ökonomische Umverteilung“ voraussetze, so findet dies seine Begründung nicht in einem moralischen Gegenüber von Arm und Reich, sondern in einem gesamtgesellschaftlichen Gestaltungsanspruch, der weder die Einen noch die Anderen aus dieser Gesellschaft ausschließen will. Giddens will ausbrechen aus der konfrontativen Logik des Nullsummenspiels, in dem erst der Verlust der Einen zum Gewinn der Anderen führt. Stattdessen setzt er auf einen integrativen Ansatz, der sämtliche produktiven Kräfte einer Gesellschaft zum Wohle des Ganzen stärken will. Gleichwohl darf dies natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass etwa das Problem der Armut nicht gebannt ist. Bloß sollten wir uns davor hüten, es mit althergebrachten, recht banalen und nicht mehr zeitgemäßen Umverteilungskonzepten lösen zu wollen.

Obwohl es durchaus kompliziert ist, das Moment der Gerechtigkeit nach diesem ethischen und abstrakten Konzept in die Praxis umzusetzen, kann die Rückkehr zur Simplizität des Robin-Hood-Sozialismus niemals zielführend sein. Gerechtigkeit als Gleichheit der Lebenschancen wird nicht dadurch erreicht, dass man den Armen gibt, was man den Reichen nimmt – diese Einsicht hat sich gesellschaftlich inzwischen auch auf breiter Front durchgesetzt. Wenn die SPD nicht Symbolpolitik zu ihrem Kernprogramm machen will, muss sie einen Gerechtigkeitsbegriff formulieren, der sich von dem impliziten Rekurs auf die Klassengesellschaft verabschiedet. Ein solches modernes Konzept richtet sich mitnichten gegen die sozial Schwachen dieser Gesellschaft, sondern soll ihnen im Gegenteil wieder mehr Chancen verleihen, ihren sozialen Status – auch und gerade aus eigener Kraft – zu verbessern.

Gerechtigkeit innerhalb der Wirklichkeit

Entscheidend ist aber nicht nur, wie die Sozialdemokratie Gerechtigkeit philosophisch definiert, denn das betreiben auch andere politische Parteien mit mehr oder weniger großem Erfolg. Ebenso wichtig ist, wie sie die Idee der Chancengleichheit in ihren praktischen Konzepten erkennbar macht. Die SPD muss die Idee der gerechten Gesellschaft aus dem Elfenbeinturm befreien und gewissermaßen „unter die Leute bringen“. Dies wird nur gelingen, wenn sie Gerechtigkeit nicht als abstrakten Gegenentwurf, sondern als Gestaltungsmaxime innerhalb der gesellschaftlichen Realitäten erkennt und entwickelt (und durch das richtige Personal transportiert). Eine Politik, die verantwortungsethisch gerecht sein will, muss ihre Begründung immer mit dem Machbaren verbinden. Gerechte Politik muss zudem versuchen, gleichermaßen legitime Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern simultan zu stärken. Optimierung des Interessenausgleichs Aller zum Wohle des Ganzen statt stupide Maximierung der Interessen Einzelner – das muss die Parole sein, selbst wenn es sich bei den Einzelnen um die (immer weniger werdenden) Stammwähler der alten Tante SPD handeln sollte.

In der „reflektierten“ Gesellschaft kommt es am Ende nicht auf die Vision an, sondern auf die konkrete Verwirklichung von Politiken. Und diese Verwirklichung durch eine Partei, die Regierungsverantwortung trägt oder anstrebt, muss im Sinne der Beibehaltung oder Erlangung einer politischen „Mehrheitsfähigkeit“ von möglichst vielen Wählern als gerecht wahrgenommen werden. Nur den alten Gewerkschaftsfunktionären gefallen zu wollen, wäre für die SPD der schnellste Weg ins gesellschaftspolitische Abseits. Diese Grundvoraussetzung moderner (nicht nur sozialdemokratischer) Politik ist seit dem Ende der Regierung Schröder in der SPD leider auf dem Rückmarsch.

Zweitens: Die SPD ist nach wie vor Anhängerin eines Etatismus, der mit den Realitäten der postnationalen Demokratie kaum mehr in Einklang zu bringen ist. Dass Regieren sich zunehmend in supranationalen Räumen unter Einschluss informeller Netzwerke (und teilweise unter Ausschluss der Parlamente) vollzieht, erkennt die Partei an, belegt es aber mit einem massiven normativen Vorbehalt, ganz so, als ob diese Prozesse rückgängig gemacht werden könnten. Selbst in seiner Kurzfassung liest sich das Hamburger Programm, obwohl im Gegensatz zu seinem Vorgänger weit fortschrittlicher, im Kern wie ein Beschwerdebrief an die Globalisierung. Sie ist nach sozialdemokratischer Lesart anscheinend ein „Außen“, das den Staat in seiner Handlungsfähigkeit beschneidet. Der Hinweis, dass eine solche, den Nationalstaat transzendierende inter- und supranationale Problembearbeitung auch Chancen birgt, findet Erwähnung, wirkt aber allzu dezent und aufgesetzt. Gefahren werden hingegen überbetont – mit der Folge, dass der Nationalstaat in dieser Konstellation gleichzeitig der glücklose Hüter sozialer Gewissheiten und der vergebliche Verteidiger seiner selbst ist.

Mit dieser Abwehrhaltung bleibt kein Platz für Kreativität. Dass der Staat keineswegs obsolet ist, jedoch „erfinderisch“ gedacht werden muss, bleibt unerkannt. Die SPD argumentiert aus der Defensive heraus. Dass Sozialstaatlichkeit und Arbeitnehmerrechte nicht gegen äußere Prozesse verteidigt, sondern in supranationalen Institutionen weiterentwickelt werden müssen, wird nur angeschnitten, indem man sich en passant dem „sozialen Europa“ widmet. Und wo Europa als „Antwort auf die Globalisierung“ apostrophiert wird, verbirgt sich offenbar die Sehnsucht nach dem Nationalstaat alter Prägung, dessen Rolle nun – notgedrungen – „Europa“ übernehmen solle. Im Einzelnen sind die inhaltlichen Schwerpunkte nicht falsch, aber in ihrer Schwammigkeit läuft die Sozialdemokratie Gefahr, jenem Populismus das Wort zu reden, der die Möglichkeit eines „europäischen Sozialstaats“ als Nachtwache der nationalen Sicherungssysteme suggeriert. Ein modernes, europäisches Staatsverständnis müsste sich jedoch genau davon emanzipieren.

Die implizite Betonung des Primats des Nationalstaats ist ein Kardinalfehler, der entweder auf Naivität oder wahltaktische Überlegungen zurückzuführen ist. Dabei sind es genau jene überstaatlichen Ebenen, in denen Sozial- und Wirtschaftspolitik mehr und mehr stattfindet. Staatliches Handeln vollzieht sich in Vernetzungsprozessen, im Austausch mit externen, auch privaten Organisationen und im Kompromiss mit anderen staatlichen Akteuren, etwa im europäischen Ministerrat. Nicht die Existenz dieser Prozesse ist das Problem, sondern das Gefühl des größten Teils nicht nur der deutschen EU-Bürger, an den Entscheidungsprozessen „da oben“ nicht beteiligt zu sein.

Der Staat ist mitten unter uns

Daher muss der Anspruch politischer Gestaltung mit einer neuen Idee der Staatlichkeit beginnen. Im zweiten Schritt steht dann aber nicht die Reduktion des Staatsbegriffs an, sondern dessen Ausweitung in den Bereich deliberativer Deutungsmuster. Das heißt: Der Begriff der Demokratie wird nicht nur an seinen Institutionen, sondern vor allem an der Qualität der Prozesse festgemacht. Der Dritte Weg nennt dieses Prinzip unter anderem Namen und verabschiedet sich von der Interpretation des Staates als Fürsorger. Er versteht ihn als aktiven Partner mit transparenten Institutionen, die flexibles Gestalten und breite Bürgerbeteiligung ermöglichen. Wenn es stimmt, dass sich staatliches Handeln zunehmend auf die europäische Ebene verschiebt, dann muss die normative Ableitung der modernen Sozialdemokratie in der Idee von Partizipation und Partnerschaftlichkeit zwischen Bürgern und Institutionen bestehen. Dieses Verständnis sieht den Staat nicht „da oben“, sondern „mitten unter uns“.

Fördern und Fordern – aber auf Augenhöhe

Sicher sind all dies zunächst abstrakte Überlegungen, aber allein die Anerkennung des Status quo einer zunehmenden Europäisierung und eine damit einhergehende Veränderung von Staatlichkeit würde die sozialdemokratische Staatsidee auf die Höhe der Zeit heben. Hier würde der SPD übrigens auch eine Rückbesinnung auf das Bekenntnis zur „Internationalen“ einen ungewohnt modernen Anstrich verleihen und ihr zusätzlich einen immensen Vorsprung gegenüber ihrem politischen Gegner verschaffen, der im Grunde noch viel stärker im zunehmend anachronistisch anmutenden nationalstaatlichen Denken gefangen ist als die Sozialdemokraten. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an die Debatte um ein modernes Zuwanderungsrecht in Deutschland.

Konkreter könnte überdies ein Ansatz sein, der sich von der paternalistischen, nicht zuletzt auch patriarchalischen Struktur des deutschen Wohlfahrtsstaats verabschiedet und die Idee eines partnerschaftlichen Sozialstaats entwickelt. Eine solche Verwaltung würde dem Bürger nicht als Forderer, sondern als Dienstleister gegenübertreten. Den Bürger würde er nicht als Bittsteller, sondern als Kunden begreifen, für den es das bestmögliche Ergebnis zu erzielen gilt. Die Umstrukturierung der Sozialsysteme hat hier erste richtige Schritte getan, aber nicht konsequent zu Ende geführt. Denn nach wie vor setzen Jobbörsen und Argen auf Druck zur Eigenleistung, ohne diese durch adäquate Angebote und Vermittlungsstrategien zu unterstützen. Auch hier lohnt der viel beschworene Blick nach Skandinavien, im Besonderen nach Dänemark. Dort wird effektives Fördern und striktes Fordern von einer Beziehung auf Augenhöhe zwischen Bürger und Vermittler eingerahmt, die überdies Teil eines einfacher und transparenter strukturierten Sozialsystems ist.

Drittens: Die Geschichte der Arbeiterbewegung hat die SPD in die Mitte der Gesellschaft geführt. Weniger blumig: Die Sozialdemokratie ist verbürgerlicht. Aber auch diese Entwicklung hat keine neuen, eindeutigen Mehrheiten eröffnet; der Großteil der Wähler wechselt „seine“ Partei mehrmals im Leben. In einer Gesellschaft, die Ulrich Beck als „reflexiv“ bezeichnet, gibt es keine politischen Gewissheiten. Die „Mitte“ ist ebenso eine Konstruktion wie das „abgehängte Prekariat“. Beide existieren als soziale Milieus, aber sie generieren nur wenig politisches Bewusstsein. Wenn überhaupt, ist dieses politische Bewusstsein stark individualisiert; es ist nicht primär sozioökonomisch geprägt, sondern von einem kulturellen Selbstverständnis her. Diese Form des Fortschritts ist zum großen Teil nicht nur die Frucht des ökonomischen Wandels, sondern auch der Bildungspolitik der sechziger und siebziger Jahre. Genau deshalb muss die Sozialdemokratie diese Ergebnisse nicht nur verantworten, sondern sie geradezu fördern.

Die große Organisationsreform blieb aus

In der Konsequenz muss die SPD das ohnehin nicht mehr aktuelle Verständnis der Volkspartei aufgeben zugunsten des Anspruchs, Bürgerpartei zu sein. Thomas Meyer hat vor einigen Jahren das Konzept der „Aktiv-Mitgliederpartei“ skizziert, und in der Tat hat es die SPD gewagt, das eine oder andere Netzwerk zu flechten. Aber der große Sprung, die Reform der Parteiorganisation, die Entwicklung einer neuen Idee der Mitgliedschaft und neuer Formen der Legitimation ist nicht gelungen. Elemente, die den Fokus nicht auf Institutionen, sondern auf möglichst offene Willensbildungsprozesse legen, haben in der Funktionärsdemokratie höchstens kosmetische Funktion (was ihrem Prinzip bereits widerspricht); die Entscheidungen über das Programm der Partei unterliegen formell dem Delegiertenkorpus und werden in der Praxis von strategischen Zentren aus gesteuert. Dieses Vorgehen gewährt Effizienz, signalisiert aber zugleich Intransparenz und mangelnde Beteiligungsmöglichkeiten.

Wann endet die Flucht vor der Realität?

Eine moderne Bürgerpartei darf sich nicht nur in Form von Events und Diskussionsrunden öffnen, sondern muss auch Entscheidungsprozesse in „harten“ Personal- und Sachfragen für eine breitere Beteiligung öffnen. Hoch interessant war in diesem Zusammenhang Franz Münteferings Überlegung, Wahlkreiskandidaten nach einer Art „Vorwahlkampf“ von der Parteibasis nominieren zu lassen. Bei allen offensichtlichen Problemen, die ein solches Verfahren mit sich bringen würde, könnte dies gerade für diejenigen attraktiv sein, die punktuell an politischen Entscheidungsprozessen teilnehmen wollen, aber das bisherige Prinzip, das de facto eine längerfristige Bindung voraussetzt, als abschreckend empfinden. Mit anderen Worten: In der postdemokratischen Gesellschaft kann es für eine Partei sinnvoll sein, punktuell den Charakter einer Bürgerinitiative zu entwickeln. So kann sie über den Weg der Partizipation eine stärkere Legitimation ihrer Entscheidungen herstellen.

Dass die Grundlagen des Dritten Weges, die eben keine konsistente Ideologie, sondern ein Katalog von Fragen und Tendenzen sind, zugunsten vager Programmsätze mehr oder minder bewusst fallen gelassen wurden, ist eine Flucht vor der Realität. Über die gesellschaftlichen Veränderungen der Zeit kann sich eine Partei jedoch nicht hinweg setzen – sie muss sie gestalten wollen. Über kurz oder lang wird die deutsche Sozialdemokratie ihren Programmprozess daher neu aufleben lassen müssen. Zurück in die Zukunft: Das kann angesichts der labilen Situation der Partei recht bald sein. Man mag es ihr wünschen.

zurück zur Ausgabe