Der Neid der Habenichtse auf die Besitzlosen

Versöhnen statt spalten - das war einmal. Der Vorstoß der SPD-Bürgermeister aus dem Ruhrgebiet ist ein Musterbeispiel für Wahlkampfpopulismus - unabhängig von seinem sachlichen Inhalt. Wo Sozialdemokraten mutwillig hilfebedürftige Gruppen gegeneinander ausspielen, entfernen sie sich von ihren eigenen Werten

Dass Wahlkampf nicht mit dem Florett, sondern mit dem Morgenstern ausgefochten wird, ist eine Binsenweisheit. Die „Grundmelodie“ von Kampagnen, jene Themen, die Parteien in ihre Werbe- und Medienkommunikation einspeisen, sind häufig durch verteilungspolitische Positionen kodiert: „Haushaltssanierung“ wird gegen „Investitionen“ in Stellung gebracht, Gerechtigkeitsvorstellungen werden gegeneinander ausgespielt. Dabei gibt es immer durch Verteilung Benachteiligte; wollten die Parteien nicht unterschiedliche Wählergruppen für sich gewinnen, gäbe es keine unterschiedlichen Kampagnen. Die Grenze zum Populismus, also der Mobilisierung einer Wir-Gruppe gegen vermeintlich bevorteilte Außenseiter, ist da fließend.

Das jüngste Vorpreschen der sozialdemokratischen Bürgermeister der Ruhrgebietsstädte, den Solidarpakt II noch vor 2019 abschaffen zu wollen, muss man als Wahlkampfmanöver verbuchen. Nicht nur, weil die Forderung in zeitlicher Nähe zum Urnengang vorgebracht wurde, sondern auch, weil die Initiatoren dieser Forderung sogar explizit angaben, den Landtagswahlkampf dafür nutzen zu wollen, ihre Forderung prominent zu platzieren.

Relevanz und Abgrenzung

Nehmen wir einen Augenblick die landläufige Sichtweise ein, es gebe objektive Kriterien, die gute von schlechten Wahlkampfmanövern unterscheiden. Dann müsste ein Thema, um erfolgreich zu sein, erstens eine gewisse Relevanz in der wahlberechtigten Bevölkerung besitzen. Zweitens müsste die Position der eigenen Partei inhaltlich so angelegt sein, dass die Abgrenzung von den Mitbewerbern und eine öffentlich wirksame Polarisierung ermöglicht wird. Und drittens müsste diese Position so kommuniziert werden, dass sie ein mediales Echo hervorruft.

Soweit das Referat dessen, was man üblicherweise unter Wahlkampfstrategie versteht. Dass Auswahl und Aufbereitung von Themen in der Praxis weniger durch quasiökonomische Faktoren, sondern durch Parteitraditionen, individuelle und organisationale Wertvorstellungen und parteiinterne Machtstrukturen bedingt sind, lassen wir an dieser Stelle außen vor. Legt man diese Kriterien an, so war das Manöver der Ruhr-Sozialdemokraten zumindest nicht dumm: Es dürfte unter den Adressaten, also den SPD-affinen Bewohnern nordrhein-westfälischer Kommunen, mehrheitsfähig sein – auch deshalb, weil es zumindest im Hinterkopf der Bevölkerung nach wie vor zwei Gruppen diesseits und jenseits der Linie gibt, an der einst die Mauer verlief.

Inhaltlich ist die Position der SPD-Bürgermeister weder neu noch überraschend. Bereits unter der Regierung Jürgen Rüttgers hatten die nordrhein-westfälischen Sozialdemokraten die finanziellen Lasten beklagt, die den Kommunen durch den Solidarpakt entstünden. Noch Ende Februar hatte der stellvertretende NRW-Vorsitzende Jochen Ott per Pressemitteilung für eine „eine offene Diskussion über einen sinnvollen Solidaritätsbeitrag“ geworben und eine Umstrukturierung des Paktes vorgeschlagen, um finanzschwache Kommunen in Ost- wie in Westdeutschland gleichermaßen in den Blick zu nehmen.

Die um den 20. März herum lancierte Forderung nach der schnellstmöglichen völligen Abschaffung des Paktes stellt aber eine neue Qualität dar. Nicht nur ist die Position radikaler geworden – von der „Umstrukturierung“ zur „Abschaffung“ –, sondern auch die Sprache ist rabiater. Es ist kein Zufall, dass sich SPD-Generalsekretär Michael Groschek umgehend vernehmen ließ, dass nun „der Westen dran“ sei. Damit hat eine exklusorische Rhetorik Einzug gehalten, die der Sozialdemokratie eigentlich fremd sein müsste.

Nun mag man einwerfen, hier gehe es doch um eine richtige Forderung. Das mag sogar stimmen: Tatsächlich gibt es gute Gründe, den Solidarpakt angesichts unsinniger Großprojekte, der Einspeisung von Solidarpakt-Geld in laufende Ausgaben in den neuen Bundesländern und prekärer Haushaltslagen in westdeutschen Städten infrage zu stellen. Aber das ist nicht das Problem. Denn wer zwischen „Inhalt“ und „Rhetorik“ trennt, der verkennt, dass Politik Kommunikation im öffentlichen Raum ist – und damit die Form der Sprache ebenso sehr Wirkung erzielt wie der Inhalt selbst.

Ist die SPD eine Wir-gegen-die-Partei?

Das hysterische Wort vom Solidarpakt als einem „perversen System“, mit dem Dortmunds Oberbürgermeister Ulrich Sierau zitiert wurde, ist eben nicht nur ein Stilmittel, sondern es strahlt auch auf das aus, was er sagt: Wer so drastische Worte bemüht, der lässt die Sachdebatte hinter sich; der will die Unzufriedenen gegen den Status quo mobilisieren.

Ein Merkmal des Populismus ist das Moment Vereinfachung und Zuspitzung: Komplexe Sachverhalte werden mit der Sprache des „gesunden Menschenverstandes“ so behandelt, als gäbe es eine einfache Lösung. Diese fällt in der Regel radikal aus. Es geht folglich nicht etwa um eine Umstrukturierung des Solidarpakts – wie noch vor dem 20. März –, sondern um dessen Abschaffung. Das wirkt. Diese Vereinfachung schließt die Unterteilung der politischen Landschaft in eine „innere“ und eine „äußere“ Gruppe ein. Mit anderen Worten: Die Reduzierung der Komplexität geht Hand in Hand mit der Verklärung der Sachfrage zur Schuldfrage, und sei es nur implizit. Das „perverse System“ ist eben keine Zustandsbeschreibung, sondern ein Schuldspruch, und in diesem Fall richtet sich dieser nicht nur gegen die gesetzliche Regelung selbst. Was immer mitschwingt, ist die Parteinahme gegen „den Osten“; dort, wo der Generalsekretär fordert, nun sei „der Westen“ dran, wird sie konkret. Das bedient in der (potenziellen) Wählerschaft das subjektive Gefühl, zu kurz gekommen zu sein. Gerade deshalb ist ein solches Vorpreschen, ist eine derartig wütende Sprache anschlussfähig.

Es ist nicht ohne Ironie, dass gerade die Sozialdemokratie auf dieser Klaviatur spielt. Denn die schnelle Abrechnung mit dem Solidarpakt widerspricht nicht nur den Beschlusslagen der Bundespartei; das Ausspielen zweier Gruppen gegeneinander widerspricht eigentlich auch ihrer grundsätzlichen Werthaltung. Auch das ist nicht allein eine Frage der sachpolitischen Positionierung, sondern dreht sich darum, für und gegen wen man Partei ergreift. Eine „Wir-gegen-die“-Partei ist die SPD höchstens auf der sozioökonomischen Achse; dass sie aber die eine Gruppe von Bedürftigen gegen eine andere Gruppe von Bedürftigen ausspielt – das ist neu und bemerkenswert.

Damit rückt noch einmal die Sprache selbst in den Blick. Die Erfolgsformel des Populismus – gleich welcher Couleur –besteht im Spiel mit der drastischen, zuweilen boshaften Wortwahl, die den Skandal überhaupt erst generiert. Auf den populistischen Dammbruch folgt sodann stets der typische Ablauf der Empörungs- und Versachlichungsrituale. Ist der Skandal einmal in der Welt, bemühen sich alle darum, die Debatte auf kleinerer Flamme weiterzuführen. Darin liegt einerseits das Perfide der populistischen Strategie; zum anderen aber auch eine Chance. Denn das Skandalöse bedeutet zugleich Aufmerksamkeit. Wenn es gelingt, das Thema „Solidarpakt“ über den Abend der nordrhein-westfälischen Landtagswahl zu retten, könnte damit eine lange notwendige Diskussion angestoßen werden. Aber dafür bedarf es zunächst der Abrüstung.

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