Signale an ein fremdes Universum

Für junge Sozialdemokraten gibt es die Jusos oder die "richtige" Politik - aber selten beides zusammen. Nur wenn dem in sich gekehrten Nachwuchsverband der SPD die ideenpolitische und kulturelle Öffnung gelingt, wird er überleben können

Die Jusos befinden sich in einer programmatischen und strategischen Krise. Der Anschluss an die junge Generation gelingt nicht, ihre wichtigsten Beschlüsse bleiben ungehört. Wenn die SPD-Nachwuchsorganisation überleben will, muss sie sich radikal verändern.

Als Franziska Drohsel im Herbst 2007 zur Bundesvorsitzenden der Jungsozialisten gewählt wurde, folgte ein ungewöhnlich lautes Medienecho. Der vermeintliche Skandal bestand darin, dass Drohsel zur Zeit ihrer Wahl Mitglied der vom Verfassungsschutz beobachteten „Roten Hilfe“ war, eines Vereins, der sich auf die Rechtsberatung und Verteidigung linker Aktivisten spezialisiert hat. Obwohl die Vorsitzende ihre Mitgliedschaft in der Roten Hilfe aufgrund des massiven Drucks beendete, war ihr fortdauernde Medienpräsenz sicher, was bestimmt auch daran lag, dass sie als junge, telegene Frau mediale Selektionskriterien bediente. Vor allem jedoch fügte sich die Wahl der augenscheinlich radikalen Franziska Drohsel in die mediale Rekonstruktion einer zerrissenen SPD, bei denen die Jusos nicht zum ersten Mal die Rolle der rebellischen Jugend einnehmen durften.

Drohsels Medienpräsenz darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Verband, den sie vertritt, in mehreren Krisen gleichzeitig steckt: in einer programmatischen Krise, weil die Jusos derzeit nicht in der Lage sind, die deutsche Sozialdemokratie richtungweisend weiterzuentwickeln; in einer Partizipationskrise, weil es nicht gelingt, das gesamte politische Spektrum der jungen Parteimitglieder einzubinden; und in einer Repräsentationskrise, weil der Anschluss an die Lebenswirklichkeit Jugendlicher und junger Erwachsener verloren gegangen ist.

Das Mantra der Jusos lautet, „links in, links von“ der SPD zu stehen. Die Verbandsrealität sieht indes anders aus: Die Gruppe der unter 35-Jährigen in der SPD weist ein nicht minder differenziertes Spektrum politisch-ideeller Verortungen auf als die älteren Parteimitglieder. Dieses Spektrum dürfte analog zur gestiegenen gesellschaftlichen Vielfalt politischer Wertorientierungen sogar noch ungleich breiter sein als unter den älteren Parteimitgliedern. Dennoch gehört es seit der im Jahr 1969 beschlossenen – und zum 40-jährigen Jubiläum zelebrierten – „Linkswende“ zu den politischen Heiligtümern der Jusos, sich am linken Rand der Sozialdemokratie zu verorten.

Kaum Widerhall in der Partei

Innerverbandlich existieren daher nach offizieller Lesart auch keine Flügel, sondern „Strömungen“, was die grundsätzlich gleiche Stoßrichtung verdeutlichen und auch Gruppen, die sich dezidiert mittig verorten, unter dem vermeintlichen „sozialistisch-feministischen“ Konsens sammeln soll. Die beiden großen Strömungen „Netzwerk linkes Zentrum“ und „Traditionalisten“ bejahen diesen Konsens, während sich die 2007 auf der Bundesebene hinzugekommene „Pragmatische Linke“ ganz bewusst als Vertreterin derjenigen versteht, die zwar jünger als 35 Jahre alt sind, sich jedoch durch Programm und Verbandskultur der Jusos nicht vertreten fühlen oder zumindest in der Parteijugend inaktiv bleiben. Viele junge Parteimitglieder unterscheiden zwischen den Jusos und „richtiger“ Politik, die in den Parteigremien und in öffentlichen Mandaten betrieben wird.

Es wäre aber falsch, die Jusos zu belächeln. Als Jugendorganisation sind sie eine bedeutende Instanz für die Rekrutierung des politischen Personals der SPD. Außerdem können sie ein organisatorisches Bindeglied zwischen einer unorganisierten Jugend und der organisierten Sozialdemokratie darstellen, indem sie in Subkulturen und Milieus vorstoßen, die der oft als überaltert wahrgenommenen SPD nicht direkt zugänglich sind – zumindest theoretisch.

Denn praktisch verzeichnen die Jusos sinkende, bestenfalls stagnierende Mitgliederzahlen (seit 2007 wurden keine Daten mehr veröffentlicht). Traditionell liegen sie weit hinter der Jungen Union zurück. Mehr noch: Der Großteil ihrer Positionen findet in der Partei kaum Widerhall, der Verband ist in der SPD unzureichend politisch verankert. Wer nun auf „Jusos in Mandaten“ verweist, darf nicht übersehen, dass es sich bei diesen häufig um junge Sozialdemokraten handelt, die keine dezidierte „Juso-Vergangenheit“ aufweisen, sondern den direkten Weg in die Partei gewählt haben. Kurzum: Die Jusos laufen Gefahr, gleich an zwei Seiten entwurzelt zu werden: innerhalb der SPD und, viel schlimmer, gesellschaftlich.

Wo Nichtakademiker ausgebuht werden

Eine Ursache des Problems liegt im programmatischen und strukturellen Konservatismus, der den aktiven Teil des Verbandes zu dominieren scheint. Dabei kann – ohne Verschwörungstheorien zu bemühen – durchaus vermutet werden, dass der bollwerkartigen Zurechnung zur Parteilinken individuelle wie kollektive Machtinteressen zugrunde liegen. So sind die Netzwerke zwischen dem Juso-Funktionärskörper, der Parlamentarischen Linken und dem Forum DL 21 so gut ausgeprägt, dass sich die Bundesvorsitzenden der vergangenen Jahre allesamt in bedeutenden Positionen des linken Parteiflügels wiederfinden. Die Schlussfolgerung, dass auch die organisierte Parteilinke ein verständliches Interesse an der kontinuierlichen Rekrutierung ihres Nachwuchses hat, ist plausibel und würde dem Kalkül politischer Akteure entsprechen.

Tatsächlich übernimmt der Juso-Verband eine Rolle, die zwar auf die Artikulation bestimmter Interessen, nicht aber auf deren Repräsentanz angelegt ist. Dies betrifft ebenso die programmatische wie die soziokulturelle Ebene. Beispielsweise besteht der Großteil der Aktiven aus Akademikern, was sich übrigens auch in der stark intellektualisierten, mithin zu Utopien neigenden Debattenkultur auf Landes- und besonders auf Bundeskongressen niederschlägt. Eine denkwürdige Szene spielte sich auf dem Bundeskongress 2008 ab, auf dem die von Franziska Drohsel formulierten „63 Thesen für eine Linke der Zukunft“ diskutiert und beschlossen wurden. Als eine junge Genossin die Bühne betrat und erklärte, sie sei keine Studentin und verstehe Inhalt und Sprache der „Thesen“ nicht, brachen Buhrufe und Proteststürme los. Es nimmt nicht wunder, dass die „Thesen“ weder in der Partei noch darüber hinaus irgendeine ernsthafte Debatte anstießen.

Bei der Deutung dieser Situation genügt es nicht, den Jusos akademische Arroganz zu unterstellen; ebenso wenig kann der betreffenden Genossin mangelnde Kompetenz zugeschrieben werden. Das Problem ist weniger intellektueller als kultureller Natur, es hat mit Sprache und einer Herangehensweise zu tun. Das Publikum in Betrieben, Sportvereinen, Real- und Hauptschulen oder Jugendzentren, um das es den Jusos redlicherweise gehen muss, ist der Mehrheit der Aktiven in der Regel fremd – und umgekehrt. Die jüngst von der Bundesvorsitzenden absolvierte Tour durch soziale Einrichtungen, Ausbildungsstätten und Betriebe war ein richtiger und sinnvoller Schritt, konnte aber über das Grundproblem nicht hinwegtäuschen. Zwar ist die Abkopplung der politischen Parteien von ganzen sozialen Schichten kein Novum und erst recht kein Phänomen, das ausschließlich die politische Linke betrifft. Auch reicht es nicht aus, den Akteuren Entwicklungen zum Vorwurf zu machen, die sie nicht selbst intendiert haben. Jedoch fehlt bislang offensichtlich der politische Willen, die Missstände zu beheben. Viele Forderungen wurden in einigen Juso-Kreisen immer wieder formuliert, haben sich aber nie durchsetzen können.

Pluralismus wäre ein guter Anfang

Was also ist zu tun? Um sich innerparteilich zu verankern und zu einer schlagkräftigen Jugendorganisation zu reifen, könnte es sinnvoll sein, wenn die Jusos ihr Selbstverständnis radikal überdenken. Mit anderen Worten: Sie müssten ihre Selbstverortung auf der Parteilinken ad acta legen und sich zu ihrem eigenen Pluralismus bekennen. Damit wäre ein wichtiger Schritt hin zu einer integrativen, auf Repräsentanz zielenden Politik getan. Damit würde auch eine offen pragmatische Ausrichtung einhergehen. Die Jusos würden aufhören, „sozialistisch-feministischer Richtungsverband“ zu sein. Sie wären Junge Sozialdemokraten. Eine offene Verbandskultur schließt den Beschluss dezidiert linker Forderungen keineswegs aus, schafft aber Raum für das gesamte programmatische Spektrum der Sozialdemokratie.

Würden sich die Jusos für alle unter 35-Jährigen in der SPD öffnen, wären sie innerparteilich nicht geschwächt, sondern gestärkt. Denn fortan könnten sich die Jusos als die Interessenvertretung junger Menschen in der SPD verstehen, und zwar nicht etwa aufgrund einer einseitigen jugendpolitischen Ausrichtung, sondern aufgrund der simplen machtpolitischen Tatsache, dass sie dann alle Sozialdemokraten unter 35 Jahren vertreten – und diese auch von ihnen vertreten werden wollen.

Komplizierter ist die Frage nach der kulturellen Anschlussfähigkeit der Jusos jenseits der SPD. Alle politischen Jugendorganisationen sind mit einer Klientel konfrontiert, die immer weniger bereit ist, sich langfristig zu binden. Genau deshalb rekrutieren sich die Jusos vor allem aus Schichten mit akademischem Bildungshintergrund. Bereits zwischen 1970 und 1975 war der Siegener Walzwerker Loke Mernizka der einzige Industriearbeiter im Juso-Bundesvorstand; heute müssen Juso-Funktionäre ohne akademische Bildung erst recht mit der Lupe gesucht werden. Selbst wenn ein Jugendverband kaum in der Lage ist, einem allgemeinen Trend im Alleingang entgegenzuwirken, existieren zumindest zwei Anknüpfungspunkte für entsprechende Strategien. Zum einen sollten die Jusos ihre öffentlichen Aktivitäten viel stärker auf Multiplikatoren jenseits von Universitäten und Oberstufen ausrichten. Dazu gehört auch der Mut zur Entpolitisierung: So genannte niederschwellige Angebote sind eine Option, Jugendliche an Politik heranzuführen, ohne Gefahr zu laufen, belehrend daherzukommen. Auf lokaler Ebene sind Sportturniere, Bandwettbewerbe und Partys durchaus beliebt.

Sitzungssozialismus und Satzungstricks

Aber die langfristige Bindung gelingt noch nicht, also die Bereitschaft zum Engagement bei den Jusos. Möglicherweise müssen die Jusos das Problem vom Kopf auf die Füße stellen und neben Freizeitveranstaltungen mehr punktuelle Gelegenheiten zur Mitarbeit anbieten. Der Verzicht auf das Delegiertenprinzip – in vielen Juso-Unterbezirken bereits gang und gäbe – wäre nicht einmal notwendig, wenn berücksichtigt würde, was auch für die Mutterpartei gelten sollte: Politische Veranstaltungen müssen den schauerlichsten Auswüchsen des „Sitzungssozialismus“ entkleidet werden, wenn sie für Menschen attraktiv sein wollen, die nur einen Teil ihrer Freizeit in die Politik zu investieren bereit sind. Die Reduzierung von Vorgaben, deren Sinn sich auch altgedienten Funktionären oft nicht erschließt, würde Einladungen zu Veranstaltungen ihren abschreckenden Charakter nehmen und die in Flügelkämpfen gern aus dem Hut gezauberten und genüsslich zelebrierten „Satzungstricks“ reduzieren. Vorstandsmitglieder könnten von vornherein nach ihren Aufgabengebieten benannt, Wahlperioden insgesamt verkürzt werden.

Andere Sprache, anderer Auftritt

Vor allem aber könnte eine langfristig angelegte Image-Kampagne sinnvoll sein, in der ganz bewusst versucht wird, das „studentische“ Auftreten der Jusos zu durchbrechen und den Verband für breitere Schichten attraktiver zu machen. Dazu würde eine Veränderung der Sprache gehören, ebenso eine zielgruppengerechte Themenauswahl. In der Konsequenz könnte dies auch bedeuten, anhand von Marketing-Gesichtspunkten Aktionen vor Ort zu entwickeln und gemeinsam mit den Gliederungen durchzuführen.

Gewiss sind dies nur Eckpunkte. Jedoch ist klar: Überhaupt nur dann, wenn den Jusos die Öffnung in die Breite gelingt, können sie überleben und sich als politischer Jugendverband womöglich sogar weiterentwickeln. «




zurück zur Ausgabe