Die keynesianische Konstellation

EDITORIAL

Am 3. Juli 2008 wurde ein Fass Rohöl für 146,12 Dollar gehandelt, am 22. November kostete dieselbe Menge nur noch 48,25 Dollar. Der atemberaubende Verfall der Energiepreise in der zweiten Jahreshälfte (nach ihrem nahezu ebenso rasanten Aufstieg in den Monaten zuvor) löst eine etwas beklommene Erleichterung aus. Einerseits fällt vielen der Weg zum Zapfhahn wieder leichter. Fern und versunken erscheint die Zeit, in der am Thema Pendlerpauschale das Schicksal unseres Landes hing. Vergessen die hysterischen Debatten aus dem vergangenen Sommer, in denen manche für den bevorstehenden Winter bereits „Zehntausende frierende Deutsche“ (Michael Sommer) und ungezählte „Kältetote“ (Gregor Gysi) in eisigen Stuben voraussagten. Andererseits sind die grundlegenden globalen Energiedilemmata damit keineswegs wieder aus der Welt: Die fossilen Energievorräte der Welt nehmen nicht zu, sondern ab – für die Weltbevölkerung gilt das Gegenteil. Derjenige fossile Rohstoff, von dem weltweit noch die größten Vorkommen abgebaut werden können, nämlich Kohle, verursacht – jedenfalls beim herkömmlichen Verbrennen – den übelsten Treibhauseffekt. Atomenergie bleibt eine gefährliche, kaum je wirklich verantwortbare Alternative. Beim Erdgas befürchten wir nicht grundlos, in die völlige Abhängigkeit von Russland zu geraten. Aus Mais oder Raps gewonnene Biokraftstoffe werfen schwierigste ethische Fragen auf. Obendrein leisten wir uns den fragwürdigen Luxus, Windkraftanlagen in deutscher Landschaft vor allem unter ästhetischen Gesichtspunkten zu betrachten. Und selbst die eigentlich unkontroverse Forderung „Mehr Energieeffizienz!“ wirft bei genauerem Hinsehen zuweilen unerwartetete Probleme auf: Von „Spechten, Milben, Schimmel“ berichtet in diesem Heft Susanne Dohrn. Kurzum, was das verknäuelte Problembündel Energie-Klima-Gerechtigkeit angeht, wird die Lage verzweifelt schwierig bleiben. Umso intensiver, differenzierter und ehrlicher müssen diese Fragen diskutiert werden.

Was uns den Verfall der Benzin- und Heizölpreise ebenfalls vergällt, ist der Umstand, dass er auf die globale Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise zurückzuführen ist, deren dramatisches Einsetzen wir soeben erleben. Ob der Welt eine neue Great Depression bevorsteht, wie manche befürchten, ist ungewiss. Sicher ist aber, dass Ausmaß und Dauer der Misere davon abhängen, welche Gegenmaßnahmen ergriffen werden – und wer sich in rauen Verhältnissen traut, mit Ideen und Zuversicht die Führung zu übernehmen. Offenkundig ist, dass wir eine außerordentliche historische Konstellation zutiefst „keynesianischen“ Charakters erleben, die, wie Thomas Fricke und Gert G. Wagner in diesem Heft begründen, nach mutiger Konjunkturpolitik verlangt. Nicht wolkige antikapitalistische Rhetorik ist angezeigt, sondern harte antizyklische Arbeit. „Where’s Angela?“ fragt dazu ratlos der Economist. Auch deshalb sind in Deutschland (wie anderswo auch) erneut Progressive und Sozialdemokraten vonnöten, um den Kapitalismus vor sich selbst zu retten. Das wird mühsam, keine Frage. Doch wie Thomas Hanke in seinem eindrucksvollen Essay zur Krise schreibt: „Wer sich als politische Kraft in den kommenden Jahren beharrlich an diese Aufgabe macht, der wird auch Anerkennung beim Wähler ernten.“

zurück zur Ausgabe