"Wir dürfen uns der Verteidigung der Menschenrechte nicht entziehen"

Professor Heinrich August Winkler ist einer der namhaftesten Historiker der Republik. Zu seinen Werken zählen Bücher zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und über die Weimarer Republik. Im vorigen Jahr erschien im Verlag C.H. Beck seine zweibändige deutsche Geschichte Der lange Weg nach Westen. SUSANNE DOHRN sprach mit Heinrich August Winkler über die Frage, was es heute bedeutet, Deutscher zu sein:

Berliner Republik: Fühlen Sie sich als Deutscher?

Heinrich August Winkler: Ich fühle mich als Deutscher. Damit bin ich verpflichtet, mich einer außerordentlich widerspruchsvollen Geschichte zu stellen. Das kann nur selbstkritisch und ohne jeden Anflug von Hurra-Patriotismus geschehen. Wenn ich dazu ein Wort von Gustav Heinemann aus seiner Antrittsrede als Bundespräsident 1969 zitieren darf: "Es gibt schwierige Vaterländer. Eines davon ist Deutschland. Aber es ist unser Vaterland."

BR: Was sagen sie, wenn ein Deutscher sagt: "Ich fühle mich nicht als Deutscher?"

Winkler: Er verdrängt einen Sachverhalt, vor dem man nicht weglaufen darf.

BR: Seit 1990 gibt es wieder einen deutschen Nationalstaat. Ist das im Bewusstsein der Menschen in Deutschland angekommen?

Winkler: Insgesamt ja, abgesehen von ein paar Vorbehalten. Es gab lange die Auffassung, die deutsche Teilung sei auch eine Art Sühne für alles, was Deutschland in der ersten Hälfte des Jahrhunderts der Welt angetan hat. Im Rückblick gesehen war die Wiedervereinigung das, was der deutsch-amerikanische Historiker Fritz Stern die "zweite Chance" genannt hat, die zweite Chance, eine gesamtdeutsche Demokratie zu errichten. Der Nationalstaat von 1990 ist bereit, Teile seiner Souveränität mit supranationalen Einrichtungen wie der Europäischen Union zu teilen. Das ist etwas ganz anderes als das Deutsche Reich, das 1945 untergegangen ist.

BR: Es gab - vor allem auf Seiten der Linken - die Vorstellung von einem Deutschland, das im vereinten Europa aufgeht und auf diesem Weg seine Geschichte los wird. Kommt Deutschland heute ohne ein modernes Verständnis von Nation aus?

Winkler: Die Formel, die Bundesrepublik sei eine postnationale Demokratie unter Nationalstaaten, hat der liberalkonservative Politikwissenschaftler und Zeithistoriker Karl-Dietrich Bracher 1976 geprägt. Diese Formel traf das Selbstbewusstsein der alten Bundesrepublik sehr gut. Für das wiedervereinigte Deutschland trifft dies nicht mehr zu. Wir sind keine postnationale Demokratie unter Nationalstaaten, sondern ein postklassischer demokratischer Nationalstaat unter anderen. Ich habe den Eindruck, dass diese Auffassung in beiden Regierungsparteien heute voll akzeptiert wird, einschließlich der Konsequenzen, die sich daraus für die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen des Atlantischen Bündnisses ergeben. Der Sonderstatus der alten Bundesrepublik, deren Souveränitätsrechte durch alliierte Vorbehaltsrechte eingeschränkt war, ist entfallen. Wir müssen uns diesem Faktum ohne Wenn und Aber stellen. Und das hat - wie man erst recht nach dem 11. September dieses Jahres hinzufügen muss - auch militärische Konsequenzen.

BR:: Für die SPD war es traumatisch, dass sie gleich nach der gewonnenen Bundestagswahl Militäreinsätze beschließen musste.

Winkler: SPD und Grüne sind 1999 über ihren eigenen Schatten gesprungen. Nach den vier Jahrzehnten der staatlichen Teilung konnte der Zuwachs an Souveränität nicht über Nacht verarbeitet werden. Es musste kontrovers darüber diskutiert werden, was das für unser Selbstverständnis, für unsere Auffassung von diesem Deutschland heißt.

BR: Hat niemand den Zuwachs an Souveränität nach der Wende bemerkt?

Winkler: Es stand zwar im Zwei-plus-Vier-Vertrag, dass die alliierten Vorbehaltsrechte erloschen seien, aber bemerkt wurde das gerade auf Seiten der deutschen Linken mit großer Verzögerung. Vom Golfkrieg über die Debatte zu den Nato-Einsätzen im ehemaligen Jugoslawien bis hin zu dem Kosovo-Einsatz gab es bei der deutschen Linken eine Debatte, ob man im Hinblick auf Auschwitz je wieder zu den Waffen greifen dürfe. Erhebliche Teile der deutschen Linken haben das kategorisch verneint. Sie leiteten aus dem Holocaust eine Pflicht zum unbedingten Pazifismus ab.

BR: 1995 gab es in der SPD darüber einen heftigen Streit.

Winkler: Der damalige Bundesgeschäftsführer Günter Verheugen hatte in einem Artikel im vorwärts argumentiert: Wer wissen wolle, warum sich Deutschland nicht mit Tornados am Schutz der "Schnellen Eingreiftruppe" über Bosnien und Herzegowina beteiligen dürfe, müsse sich das Holocaust-Museum in Washington ansehen. Ich habe ihm damals in der Frankfurter Allgemeinen widersprochen, weil ich der Meinung war, dass wir uns der Verteidigung der Menschenrechte nicht entziehen dürfen, schon gar nicht mit dem Argument der Menschheitsverbrechen Deutschlands im Zweiten Weltkrieg. Eine erhebliche Zahl von Bundestagsabgeordneten der SPD hat damals für diese Einsätze gestimmt - aus der Einsicht heraus, dass man es nicht Franzosen und Engländern und anderen Nachbarn überlassen durfte, unter Einsatz ihres Lebens etwas zu tun, um Menschenrechte zu schützen und einen neuen Völkermord zu verhindern. Als es 1999 unter der Verantwortung einer rot-grünen Bundesregierung um die Frage ging, ob Deutschland sich am Kosovo-Einsatz beteiligen darf, hat sich auch die Linke zur Einsicht bekannt, dass Deutschland sich einer solchen Pflicht nicht entziehen durfte. Auch damals gab es immer wieder den Hinweis auf Auschwitz - diesmal vor allem bei den Befürwortern eines Bundeswehreinsatzes. Darin liegt eine Gefahr. Wenn ein historisches Argument für auswechselbare Zwecke benutzt wird, wächst der Verdacht, dass es sich um eine Instrumentalisierung der Geschichte handelt. Ich stelle fest, dass in der gegenwärtigen Situation die Begründungen für die deutsche Verpflichtung, etwas zum Schutz der Menschenrechte zu tun, etwa im Fall Mazedonien, mit sehr viel weniger historischem Pathos auskommen. Und das ist gut so.

BR: Hat sich das Verhältnis der deutschen Linken zum Staat geändert?

Winkler: Es hat sich geändert. Im Grunde ist diese Debatte schon einmal geführt worden anlässlich der Notstandsgesetze Ende der sechziger Jahre. Der damalige Bundesjustizminister, Gustav Heinemann, hat 1968 sinngemäß gesagt: Wer nicht will, dass der Notstand zur Stunde der Exekutive wird, der muss versuchen ihn rechtsstaatlich zu regeln. Er hatte Recht.

BR: Die SPD hat in kürzester Zeit zwei Lernprozesse machen müssen. Das eine war der Erfolg der Schill-Partei in Hamburg. Das zweite war der 11. September. Nun stellt auch die Linke fest, dass der Staat gebraucht wird.

Winkler: Wenn die demokratischen Parteien das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung nicht ernst nehmen und auf rechtsstaatliche Weise befriedigen, werden sich Populisten von rechts dieser Sache annehmen. Das ist die Hamburger Lektion.

BR: Gibt es Seitens der Linken so etwas wie eine Rückbesinnung auf den Staat?

Winkler: Ich denke, ja. Es steht außer Frage, dass auch die Grünen, die damit lange Zeit große Probleme hatten, den Staat als Inhaber des Monopols legitimer Gewaltanwendung inzwischen voll bejahen und als den großen zivilisatorischen Fortschritt ansehen, der er historisch ist. Dazu kommt die Einsicht, dass man auch den Nationalstaat nicht so schnell zum alten Eisen werfen kann. Er wird von unseren Nachbarn als Baustein der europäischen Einigung begriffen. In diesem Punkte sollten wir dem westlichen Beispiel folgen. Zudem bedeutete die Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts 1999 einen großen Schritt nach vorn. Die Nation ist nicht länger bloße Abstammungsgemeinschaft. Sie ist auch Abstimmungsgemeinschaft. Mit der Erleichterung der Einbürgerung hat Rot-Grün - in diesem Falle unterstützt von der FDP - eine beträchtliche Verwestlichung und Demokratisierung unseres Verständnisses von der Nation zuwege gebracht. Das ist eine Leistung, auf die diese Koalition stolz sein kann.

BR: Kann man ein positives Verständnis zum Staat entwickeln, wenn man sich mit Deutschland oder dem Deutschsein nicht identifiziert?

Winkler: Wir können uns um unsere Geschichte nicht herum drücken. Ein aufgeklärter deutscher Patriotismus setzt voraus, dass wir uns die deutsche Geschichte in ihrer Gesamtheit kritisch aneignen, ohne jede Beschönigung dessen, was ganz zentral zur deutschen Geschichte gehört: Ich meine die deutsche Katastrophe der Jahre 1933 bis 1945. In der alten Bundesrepublik hatte sich so etwas wie eine Verkürzung der historischen Horizonte vollzogen. Es gab vor allem seit den achtziger Jahren den negativen Pol, das war der Holocaust, und den positiven, die sogenannte Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik. Diese Verkürzung der historischen Horizonte müssen wir überwinden. Wir müssen viel weiter in die Geschichte zurückgehen, um einerseits zu sehen, wie weit die Vorgeschichte der deutschen Katastrophe in die Vergangenheit zurück reicht. Wir müssen uns andererseits hüten, die Vergangenheit auf eine Vorgeschichte der Katastrophe zu reduzieren.

BR: Die Deutschen haben niemals eine klassische demokratische Revolution zuwege gebracht.

Winkler: Das ist richtig. Aber die deutsche Geschichte enthält große Momente des Kampfes um Freiheit und Einheit und auch um soziale Gerechtigkeit. Wer sich die Bedingungen ansieht, unter denen die Deutschen den Kampf um Einheit und Freiheit führten, wundert sich nicht, dass sie damit im 19. Jahrhundert gescheitert sind. Einheit und Freiheit zur selben Zeit herzustellen, wie es sich die 1848-er vorgenommen hatten, das war ein viel ehrgeizigeres Programm als das der Französischen Revolutionäre von 1789. Die fanden ja den Nationalstaat schon vor, den sie auf eine neue gesellschaftliche Grundlage stellen wollten. Man muss sich einer sehr widersprüchlichen Geschichte stellen, um so etwas wie ein selbstkritisches Selbstbewusstsein zu entwickeln. Wir brauchen ein positives Verhältnis zum Staat des Grundgesetzes, das nicht irgendeine beliebige westliche Verfassung ist, sondern eine Verfassung, die die Erfahrungen der deutschen politischen und Verfassungsgeschichte in sich zusammenfasst. Den demokratischen Staat nicht mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, das hieße aus der deutschen Geschichte nichts gelernt zu haben.

BR: Haben wir überhaupt eine Chance, so ein Selbstverständnis im Umgang mit uns selbst zu entwickeln wie andere Europäer?

Winkler: Wir sollten uns nicht vom Revolutionsneid leiten lassen. Andere Völker haben eine andere und häufig glücklichere Vergangenheit. Aber wir müssen uns unserer Vergangenheit stellen, einschließlich ihrer tragischen Momente. Dazu gehört für mich die Rolle der Sozialdemokratie in der späten Weimarer Republik, als sie die Demokratie verteidigte gegen eine Mehrheit, die - sei es unter nationalsozialistischen oder kommunistischen Vorzeichen - die Abschaffung dieser Demokratie wollte. Rudolf Hilferding, der führende Theoretiker der Weimarer Sozialdemokratie, hat 1931 im Hinblick auf diese Herausforderung von einer "tragischen Situation" der SPD gesprochen. Auch daraus kann man lernen und als Sozialdemokrat Selbstbewusstsein entwickeln. Es ist ein Ruhmesblatt in der Geschichte dieser Partei, dass sie als einzige im März 1933 gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz stimmte und damit nicht nur ihre eigene Ehre, sondern die Ehre der deutschen Demokratie gerettet hat.

BR: Viele Deutsche ziehen es vor, sich als Europäer zu fühlen.

Winkler: Sich als Deutscher und Europäer zu fühlen, das ist doch kein Widerspruch. Dass es Nationen gibt, ist historisch gesehen das Europäische an Europa, hat der Historiker Hermann Heimpel einmal gesagt. Europa wird nicht gegen die Nationen gebaut, sondern nur mit ihnen und durch sie. Europäische Identität muss die Pluralität der Nationen in sich aufnehmen. Alles andere wäre uneuropäisch.

BR: Man kann nicht Europäer werden, ohne Deutscher zu sein?

Winkler
: Richtig. Die Deutschen müssen wissen, woher sie kommen, wenn sie wissen wollen, was sie in Europa einzubringen haben. Es gibt auch keinen direkten Weg zum Weltbürgertum. So billig kommen wir nicht davon.

BR
: Also Ende der deutschen Sonderwege?

Winkler: Wir können uns nicht mit Hinweis auf die Vergangenheit Pflichten entziehen, die für die anderen westlichen Demokratien selbstverständlich sind. Vielleicht ist dies der schwierigere Teil des Lernens aus der Vergangenheit. Alle deutschen Sonderwege haben in die Irre geführt. Neue Sonderwege einzuschlagen wäre das, was die Psychologen einen pathologischen Lernprozess nennen.

BR: Wir haben das Staatsbürgerschaftsrecht geändert, aber um die Integration der Zuwanderer hat sich dieses Land nie so richtig gekümmert. Ist die multi-kulturelle Gesellschaft eine Mogelpackung?

Winkler: Ich habe immer von einer multi-ethnischen Gesellschaft gesprochen. Unsere politische Kultur ist die des Grundgesetzes. Sie ist für alle verbindlich, die in Deutschland leben, Deutsche sind oder es werden wollen. Eine Verpflichtung auf das Grundgesetz muss auch von Menschen erwartet werden, die einwandern oder die sich einbürgern lassen wollen. Nur auf dieser Basis kann sich politischer und auch ethnischer Pluralismus entfalten.

BR: Also eine kleine Feier zur Einbürgerung mit feierlicher Überreichung des Grundgesetzes?

Winkler: Warum nicht?

zurück zur Ausgabe