Wie der Terrorismus Europa Beine macht

zum Schwerpunkt "Liberal, aber nicht doof?", Berliner Republik 6/2007

Die Autoren des Schwerpunkts der vergangenen Berliner Republik haben Handlungsoptionen und Dilemmata der Sozialdemokratie im Themenfeld der nationalen Sicherheitspolitik ausgelotet. Es ist kein Zufall, dass die europäische Dimension der Inneren Sicherheit dabei kaum Erwähnung fand. Das Thema liegt bis heute – quasi als Bastion nationaler Souveränität – außerhalb der Gemeinschaftskompetenz. Erst die Tragödie des 11. September 2001 veranlasste die EU-Mitgliedsstaaten, die bereits auf dem Papier bestehenden Möglichkeiten zur Zusammenarbeit verstärkt zu nutzen. Nach den Attentaten von Madrid 2004 und London 2005 gewann die gemeinsame Innen- und Justizpolitik dann eine vollkommen neue Dynamik. Dabei blieb sie aber stets zwischenstaatlich.

Unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung sind auch auf EU-Ebene unzählige Gesetze, Richtlinien und Initiativen beschlossen worden, die oft erst in der nationalen Umsetzung bemerkt wurden, dann aber umso kontroverser erschienen. Das beste Beispiel ist die Datenvorratsspeicherung. Darin zeigt sich ein Paradigmenwechsel der politischen Kultur in Europa, der sich in den vergangenen drei Jahren vollzogen hat: Die Wertegemeinschaft will auch eine Wehrgemeinschaft sein. Dafür zahlt sie allerdings einen hohen Preis. Die persönlichen Freiheitsrechte, zu denen auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gehört, drohen hinter dem Recht auf Sicherheit zurückzufallen.

Nun greift dieser Trend nicht nur europaweit um sich. Er ist ebenso in vielen Staaten außerhalb Europas zu beobachten. Die von Hans-Jürgen Lange in der Berliner Republik 6/2007 formulierte Orientierungshilfe gegen diesen Trend hat vor diesem Hintergrund gerade für die Wertegemeinschaft Europa Bedeutung. Denn tatsächlich ist die Sprachlosigkeit gegenüber der gegenwärtigen Verschärfung der Sicherheitsdebatte kein deutsches Phänomen: Ganz Europa fällt es schwer, die Einhegung der individuellen Freiheit durch die Apologeten der Sicherheit kritisch zu hinterfragen.

Dass die EU vor dem 11. September 2001 auf dem Feld der Inneren Sicherheit noch einem schwerfälligen Tanker glich, lässt sich an zwei Beispielen illustrieren: Schon im Jahr 1985 wurde das Schengen-Abkommen unterzeichnet, doch erst zehn Jahre später entfielen die Grenzkontrollen endgültig. Und die gemeinsame Polizeibehörde der Europäischen Union, Europol, wurde bereits im Juni 1991 konzipiert, das entsprechende Abkommen trat jedoch erst im Jahr 1998 in Kraft. Seit dem 1. Juli 1999 wird es angewandt. Acht Jahre haben die nationalen Behörden also auf dieses wichtige Instrument für die Koordinierung des Kampfes gegen die Organisierte Kriminalität gewartet.

Zur falschen Zeit am falschen Ort

Die Europäische Union hat auf die „neue Bedrohungslage“ konsequent und zügig reagiert. Eine der vielleicht wichtigsten Maßnahmen zur Verbesserung der Zusammenarbeit ist der Vertrag von Prüm, den Österreich, Spanien, Belgien, Frankreich, Luxemburg, die Niederlande und Deutschland im Mai 2005 unterzeichneten. Der Vertrag ermöglicht erstmals den automatisierten gegenseitigen Zugriff auf DNA-, Fingerabdruck- und Fahrzeugregister. Damit wurde die Verbrechensbekämpfung innerhalb der EU auf eine neue Grundlage gestellt. Zwar stieß der Vertrag auf Vorbehalte bei Datenschützern und Bürgerrechtlern. Jedoch betrachteten die beteiligten Regierungen das gemeinsame Ziel, den internationalen Terrorismus zu bekämpfen, als vorrangig.

Die rasche Ausweitung der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit nach dem 11. September 2001 gründet sicher in der Unberechenbarkeit und den maßlosen moralisch-philosophischen Ansprüchen der Täter, die Jürgen Krönig in der vergangenen Berliner Republik in seinem Beitrag „Al-Kaida gibt es gar nicht“ beschreibt. Unschuldige und unbeteiligte Menschen, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren, fielen den Anschlägen zum Opfer. Ohne Zweifel stellt der Terrorismus für freie, offene und zudem medialisierte Gesellschaften eine große Gefahr dar.

Vor diesem Hintergrund fällt rationales Handeln besonders schwer. Das Kriterium der Nachhaltigkeit verliert im Kampf gegen den Terror jegliche Bedeutung. Auch die üblichen Kosten-Nutzen-Kalkulationen rufen in der Regel eher Empörung hervor, wenn sie auf Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus bezogen werden.

Schützt sich der demokratische Rechtsstaat, indem er sich selbst abschafft? So weit ist es noch nicht. Aber das traditionell fragile Verhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit droht aus der Balance zu geraten. In allen EU-Mitgliedsstaaten wurden die Bürgerrechte mehr oder weniger stark eingeschränkt. „Der freiheitliche Rechtsstaat hat seine Prinzipien zu wahren. Das bleibt das erste Gebot für die erfolgreiche Abwehr von Extremismus und Terrorismus“, warnt Karsten Rudolph zu Recht in der Berliner Republik. Dabei soll er diese Prinzipien nicht trotz Terrorismusabwehr wahren, sondern der Rechtsstaat muss das Mittel sein, mit dem Extremismus und Terrorismus bekämpft werden. Nur so kann sich unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaft gegen diese Ideologien behaupten.

In Spanien setzt man auf bessere Integration

Ein beeindruckendes Beispiel für die Überlegenheit des Rechtsstaates war im Oktober das Urteil eines spanischen Gerichts gegen 21 Personen, die für das Attentat von Madrid angeklagt waren. Nur drei von ihnen wurden zu den geforderten Höchststrafen verurteilt. Im Gegensatz zu Deutschland und Großbritannien hat Spanien weniger mit schärferen Sicherheitsgesetzen als mit besseren Integrationsstrategien auf die Terrorismusgefahr reagiert. Der interkulturelle Dialog zur Überwindung des Radikalismus auf beiden Seiten wird in Spanien besonders betont. Dies hat auch historische Gründe: Blutige Auseinandersetzungen zwischen den großen Weltreligionen – im Sinne Samuel Huntingtons „Kampf der Kulturen“ – hat Spanien im 15. Jahrhundert schon einmal erlitten. Wer heute Granada oder Cordoba besucht, spürt den Stolz auf das maurische, sprich muslimische Erbe. Zugleich ist der Wert des Rechtsstaates angesichts des historischen Erbes der Franco-Diktatur und der seitdem andauernden Auseinandersetzung mit dem Terrorismus der ETA offenbar noch stärker im Bewusstsein.

Im Schatten des Terrorismus droht indes eine Pflanze zu wachsen und zu gedeihen, deren Gift untrennbarer Teil des tödlichen Cocktails ist, der die neue Bedrohungslage ausmacht: die Organisierte Kriminalität. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Das Bundeskriminalamt beziffert die Höhe des Schadens aus Organisierter Kriminalität für das Jahr 2006 in Deutschland auf 1,4 Milliarden Euro. Allein die europaweiten Erlöse des Zigarettenschmuggels betragen laut Europol mehrere Milliarden Euro. Der einseitige Fokus auf den Terrorismus hat die europaweite Gefahr mafiöser Strukturen aus dem Blick geraten lassen. Dabei ist schon lange klar, dass die Organisierte Kriminalität dem Terrorismus geschwisterlich verbunden ist. Beispielsweise war die nordirische IRA dafür bekannt, Schutzgelder einzutreiben – unter politischem Vorwand natürlich. Die ETA finanziert ihre Operationen und Strukturen durch ähnliche Methoden. Auch für islamistische Gruppen ist die Organisierte Kriminalität ein wichtiger Nährboden. So waren zumindest drei der Attentäter von Madrid für Drogenhandel, Waffenschmuggel und andere Delikte vorbestraft. Wer den Terrorismus an seinen Wurzeln bekämpfen will, muss diese Zusammenhänge berücksichtigen.

Eine erfolgreiche europäische Anti-Terror-Politik muss also mehr sein als nur eine datenüberflutete Terroristen-Suchmaschine. Sie muss dem Terrorismus den Nährboden und die Mittel entziehen. Die Maßnahmen, mit denen die Europäische Union auf die Anschläge von Madrid reagierte, wirken dementsprechend auch gegen die Organisierte Kriminalität: europäischer Haftbefehl, Rahmenbeschlüsse zur Geldwäsche, gemeinsame Ermittlungsgruppen, Verbesserung von Informationsaustausch und Zusammenarbeit zwischen nationalen Polizeibehörden.

Aber diese Maßnahmen können nur ein Weg sein. Wer versucht, diese Politik ausschließlich über den Kampf gegen den Terrorismus zu legitimieren, der verleugnet den wichtigen Zusammenhang mit der Organisierten Kriminalität ebenso wie die Bedeutung ideologischer Verblendung für die Terroristen. Und während Ersteres nur durch die Anwendung effektiver Sicherheitsmaßnahmen bekämpft werden kann, so muss die Antwort auf Letzteres in der Bekräftigung des Rechtsstaats, der Bejahung des Pluralismus und des interkulturellen Dialogs liegen.

Demokratische Staaten müssen sich wehren, um die Freiheit des Einzelnen dauerhaft zu sichern. Sie müssen sich aber auch als Wertegemeinschaft behaupten. Denn auch hier steht die Sicherheit Europas auf dem Prüfstand. Und die Solidarität allemal.

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