Lohnendes Wagnis Europa



Die SPD steht in einer fast 145 Jahre währenden Tradition als die Europapartei Deutschlands. Frei von Fehlern und Widersprüchen war ihre Europapolitik – vor allem zu Oppositionszeiten – freilich nicht. Aber das Profil Europas als solidarische Friedensmacht haben Sozialdemokraten wie Willy Brandt, Helmut Schmidt, ja auch Gerhard Schröder geschärft. Die Europäische Union bleibt ein Wagnis – aber ein lohnenswertes! Mut zur europäischen Vision zeigte die SPD schon im Jahr 1925. Im Heidelberger Programm forderte sie erstmals die Vereinigten Staaten von Europa. Diesem Ziel sollte sich die SPD auch zukünftig verpflichtet fühlen.

Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie haben maßgeblich dazu beigetragen, dass der Nationalstaat individuelle Freiheitsrechte mit Solidarität und Wohlstand zu versöhnen wusste. Dieses Wertebündnis ist heute brüchig geworden. Weit über 18 Millionen Menschen in den Mitgliedsstaaten der EU sind erwerbslos. Die sozialen Sicherungssysteme stecken in der Krise.

Im globalen Wettbewerb geht es nicht allein um Anteile am Weltmarkt, sondern auch um die Strahlkraft unseres europäischen Sozial- und Gesellschaftsmodells. Aufstrebende autokratische, ja diktatorische Wirtschaftsmächte wie China werben offensiv für ein Gegenmodell: Wohlstand (für wenige) und nationalökonomische Stärke. Implementiert sind dort weder Freiheit noch Demokratie, weder Rechts- noch Sozialstaatlichkeit. Anderswo verhöhnen religiöse Fundamentalisten unser Wertefundament. Es liegt an uns zu beweisen, dass erst Demokratie, Pluralität, Rechts- und Sozialstaatlichkeit dauerhaft wirtschaftlichen Fortschritt, hohe Lebensqualität und gesellschaftliche Prosperität ermöglichen.

Ist Europa Problem oder Lösung?

Der europäische Nationalstaat ist nicht am Ende, aber er vermag das historische Versprechen von Teilhabe und Wohlstand nicht mehr vollständig einzulösen. Kapital und Konzerne, Informationen und Interessen scheren sich nur bedingt um staatliche Grenzen. Wer Globalisierung mit einem menschlichen Antlitz fordert, muss deshalb europäisch denken und handeln. Dies zu vermitteln fällt der Sozialdemokratie allerdings immer schwerer. Nur selten noch wird das Vereinigte Europa nicht als Teil des Problems, sondern als Teil der Lösung wahrgenommen. In weiten Teilen des sozialdemokratischen Milieus irrlichtert das Klischee eines asozialen, demokratiefernen, rüstungswütigen Bürokratiemolochs. Selbstverständlich tobt sich der neoliberale Zeitgeist mitunter auch in Brüssel aus – genauso wie in zahlreichen nationalen Hauptstädten. Wer eine andere, sozialere und ökologischere Politik in der EU einfordert, muss für entsprechende politische Mehrheiten kämpfen. Wer die EU hingegen grundsätzlich in Frage stellt, beraubt sich des einzig halbwegs tauglichen Instruments, mit dem die staatliche Handlungsfähigkeit heute bewahrt werden kann.

Die EU braucht keine neuen Zuständigkeiten. Sie muss jedoch auf den von ihr verantworteten Politikfeldern besser werden und zu mehr gemeinsamem Handeln fähig sein. Dazu gehört, dass die Wirtschaftsunion endlich der Währungsunion gleichgestellt werden muss. Dazu gehört auch, dass die EU offensiver als bisher gegen Steuer- und Lohndumping vorgeht. Nötig sind verbindliche soziale und ökologische Mindeststandards statt einer Harmonisierung auf unterem Niveau. Zudem sollte eine dem Frieden und der internationalen Solidarität verpflichtete EU nicht nur außen- und entwicklungspolitisch mit einer Stimme sprechen, sondern auch gemeinsame Verteidigungskräfte aufbauen.

Darum sollten Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nicht weniger, sondern mehr Europa wagen. Eine Finalitätsdebatte hilft nicht weiter. Die Stärke der EU liegt ja gerade in ihrer Offenheit und Flexibilität. So bleibt es dabei: Alle europäischen Staaten können der EU beitreten. Müssen aber nicht! Und sie sind zur Einhaltung strenger Kriterien ebenso verpflichtet wie die EU, die endlich die Voraussetzungen für weitere Aufnahmen schaffen muss.

Klar ist: Wer mehr Europa wagt, muss auch mehr Demokratie wagen. Ein starkes Europäisches Parlament braucht europataugliche nationale Parlamente als Partner, die innerstaatlich verstärkt Einfluss auf die europäische Gesetzgebung nehmen.

Die Europäische Verfassung muss in Kraft treten. Sie ist zwar nicht das Ergebnis des Wünschenswerten, aber des Machbaren. Und sie stellt nicht den Schlussstein der Verfassungsgebung in der EU dar, weitere Schritte sollten folgen. So muss die EU die politische Verantwortung klarer zuordnen als bisher: Eine europäische Regierung sollte aus der Mitte des Europäischen Parlaments gewählt werden. Gleichzeitig sollten das Europäische Parlament als Bürgerkammer und der Europäische Rat als Staatenkammer gleichberechtigte Legislativorgane werden.

Mehr als ein kleines Kapitel muss sein

Dann nämlich wären die europäische Parteien endlich dazu verpflichtet, mit gemeinsamen Programmen und Spitzenkandidaten in den Wahlkampf zu ziehen. Noch vermag die Sozialdemokratische Partei Europas dies leider nicht zu leisten. Dabei sollte sie mehr sein als ein Kaffeekränzchen sozialdemokratischer Partei- und Regierungschefs. Mehrheitsabstimmungen müssten auch auf Parteikonventen der SPE die Regel werden. Dies erfordert Mut und die Bereitschaft, als Parteiorganisation strukturell und programmatisch europatauglicher zu werden.

Aller grassierenden Verzagtheit zum Trotz: Europa braucht Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten mit Weitblick und Mut. Mehr als ein kleines Kapitel im Grundsatzprogramm sollte der SPD das Vereinigte Europa schon wert sein. Freiheit, Gleichheit und Solidarität bleiben die sozialdemokratischen Grundwerte. Nur in einem demokratischen und handlungsfähigen Europa sind sie zu verwirklichen.

zurück zur Ausgabe