Das Monster hinter dem Tellerrand

Um den Ruf der EU war es schon besser bestellt. Viele sehen in "Brüssel" das Problem und nicht die Lösung. Doch der alte Nationalstaat kann keine Sicherheit mehr schaffen. Will die SPD ihr soziales Versprechen erfüllen, muss sie Europa neu entdecken

Erst zum zweiten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik wird die Sozialdemokratie den Außenminister stellen. Abermals in einer Großen Koalition, 1966 bis 1969, hieß der Außenminister Willy Brandt. Das ist durchaus Anlass zu ein wenig Stolz; gleichzeitig macht sich Ernüchterung breit. Denn so richtig vorbereitet ist die SPD darauf nicht – weder personell noch inhaltlich. Jüngere spielen in der Außen- und Europapolitik leider kaum eine Rolle. Wer „gestalten“, ja „etwas werden“ will, versucht in der Sozial- oder Finanz-, neuerdings auch in der Familienpolitik zu reüssieren. Dagegen werden junge, ambitionierte Außenpolitiker der Bundestagsfraktion immer wieder mit schlechten Listenplätzen abgestraft. Das war schon einmal anders.

Das Auswärtige Amt ist gleichzeitig das Europaministerium. Und hier warten zentrale Herausforderungen: Die Globalisierung zu gestalten, mit den Mitteln der Demokratie und des Rechtsstaates auf einem festen Wertefundament – das funktioniert nur mit der Europäischen Union. Und die befindet sich in einem jämmerlichen Zustand. Weder ist die EU in einer guten Verfassung, noch hat sie eine. Das viel gepriesene Europäische Sozialmodell ist in der Defensive. Der Leitsatz von Erweiterung und Vertiefung als zwei Seiten derselben Medaille entpuppt sich als Schimäre. Streit ums Geld und eine führungslose EU-Kommission tun ein Übriges. Europa gleicht einer Baustelle, bei der die leitenden Ingenieure und die Baupläne abhanden gekommen sind. Deshalb werden von der deutschen Sozialdemokratie zukunftsweisende europapolitische Impulse ausgehen müssen. Ob das klappt? Es scheint sich noch immer nicht bei allen herumgesprochen zu haben, dass Europapolitik nur noch bedingt ein regionaler Pfeiler der internationalen Politik ist, sondern wesentliche Felder der Sozial-, Wirtschafts-, Finanz-, Umwelt- und Justizpolitik beeinflusst. Europapolitik ist in weiten Teilen Innenpolitik!

Nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden braucht Europa neuen Schwung und klare Perspektiven. Ratlos verordneten die Staats- und Regierungschef nach dem Verfassungsdebakel eine Phase der Reflexion. Doch anstatt ernsthaft nachzudenken, wird in den meisten Mitgliedsstaaten geschwiegen – auch in Deutschland. Die britische Präsidentschaft unternimmt keinerlei Versuche, eigene Impulse zu setzen. Für sie ist die Verfassung tot und vom Tisch. Man meint, sich mit dem Vertrag von Nizza durchwursteln zu können. Für eine Freihandelszone mit einem liberalisierten Binnenmarkt ist dieser Vertrag vermutlich auch ausreichend. Aber das darf nicht alles sein.

Was die Bürger von der EU erwarten

Nach wahlkampfbedingter Auszeit muss Deutschland den Reformmotor wieder in Schwung bringen. Es wäre sicher Unsinn, das Ratifizierungsverfahren fortzusetzen und in Frankreich und den Niederlanden über denselben Text erneut abstimmen zu lassen. Aber immerhin hat bislang eine Mehrheit von 13 Staaten die Konstitution gebilligt. Und alle wissen insgeheim: Es brächte eher schlechtere Resultate, wenn der Verfassungsprozess noch einmal von Anfang an aufgerollt würde. Bei allen Schwächen und Unzulänglichkeiten ist der Verfassungsentwurf immer noch das Beste, wozu sich eine immer heterogener werdende EU durchzuringen imstande ist.

Die Bürger erwarten eine EU, die in der Lage ist, die Chancen der Globalisierung zu nutzen und deren Risiken zu mindern. Sie fordern eine gemeinsame europäische Stimme in Außen-, Sicherheits- und entwicklungspolitischen Fragen. Deshalb ist es unerlässlich, vor einer erneuten institutionellen Debatte die Ziele der EU näher zu bestimmen und ein Leitbild zu erarbeiten. Der Vertrauensverlust der EU resultiert vor allem aus der eklatanten Schwäche, dem Sicherheitsbedürfnis der Menschen Rechnung zu tragen. Während die Sicherheit vor Kriegen heutzutage als pure Selbstverständlichkeit abgetan wird, verstehen die Menschen die EU nicht oder nur begrenzt als Bürge für soziale Sicherheit und Wohlstand.

Im Zweifel sind „die in Brüssel“ schuld

Dem in weiten Teilen neoliberalen, sich auf lupenreinen Wettbewerb versteifenden Politikmodell ist längst die Vertrauensgrundlage entzogen worden. Die europäischen Hüter des Wettbewerbs konzentrieren sich mit Eifer auf die Schaffung eines funktionierenden Binnenmarktes. Sie vergessen dabei aber, dass dieser nicht automatisch sichere Arbeitsplätze und stabile soziale Strukturen zu generieren vermag. Die Verheißungen aus Brüssel entpuppen sich allzu oft als potemkinsche Dörfer. Daran haben freilich auch die nationalen Regierungen mitgestrickt. Sie verfahren nach dem Motto: Das Gute kommt aus London, Rom und Berlin – das Schlechte haben „die in Brüssel“ zu verantworten. Ehrlich Bilanz zu ziehen heißt auch, den Bürgern reinen Wein einzuschenken: Der Nationalstaat alter Prägung ist allein nicht mehr in der Lage, für soziale Sicherung zu sorgen. Wir gaukeln es den Menschen aber – vor allem in Wahlkämpfen – beharrlich vor.

Wer das Europäische Wirtschafts- und Sozialmodell weiterentwickeln will, muss die Politikfelder der EU stärker aufeinander abstimmen. Kohärenz ist angesagt! Eigentlich eine pure Selbstverständlichkeit. In der Praxis funktioniert es aber oftmals nicht. Ein beredtes Beispiel dafür ist die Dienstleistungsrichtlinie. Die an sich notwendige Vollendung der Dienstleistungsfreiheit darf nicht zu Lohndumping, zum Abbau von Sozial-, Verbraucherschutz- und Umweltstandards führen.

Was ist das für eine verantwortungslose Kommission, deren eine Hälfte meint, skandinavische Arbeitnehmerrechte in Frage stellen zu müssen, und deren Chef en passant ein Förderprogramm für die „Verlierer“ der Globalisierung einfordert? Das passt alles nicht zusammen! Die EU-Kommission sollte sich verpflichten, ihre Gesetzesinitiativen daraufhin zu überprüfen, ob sie tauglich sind, Arbeitsplätze zu schaffen sowie die sozialen und ökologischen Standards vor allem in den weniger entwickelten Regionen der EU anzuheben. Im Rat sollte die Bundesregierung darauf hinwirken, dass sich die Lissabon-Strategie vor allem darauf konzentriert, die Qualität von Bildung zu verbessern und mehr Mittel für Forschung und Technologie freizusetzen.

Die Verantwortung des Bundestages

Wer mehr Demokratie in Europa wagen will, muss die Parlamente stärken. Selbstverständlich darf sich dies nicht darauf beschränken, allein den Einfluss des Europäischen Parlaments zu vergrößern. Die nationalen Parlamente sind innerstaatlich aufgerufen, ihre Kontroll- und Mitwirkungsmöglichkeiten zu verbessern. Der Deutsche Bundestag wird in weiten Teilen seiner Verantwortung nicht gerecht, er lässt die Europapolitik einfach laufen, obgleich die Regierung gegenüber dem Bundestag zur Rechenschaft über Entscheidungen im Ministerrat verpflichtet wäre – wenn es denn der Bundestag und seine Ausschüsse einforderten.

In der vergangenen Legislaturperiode hat der Bundestag auf Initiative der SPD-Fraktion ein Gesetz zur Stärkung der parlamentarischen Rechte in europäischen Angelegenheiten beschlossen. Jetzt müssen die Änderung der Geschäftsordnung, die Einrichtung von Analysekapazitäten in der Bundestagsverwaltung und eine Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Bundestag folgen. Ebenso müsste die Dominanz des Bundesrates zu Ungunsten des Bundestages und der Handlungsfähigkeit Deutschlands in Brüssel durch eine Reform des Artikels 23 Grundgesetz auf ein erträgliches Maß gestutzt werden.

Was machen eigentlich die anderen besser?

Während – oftmals zu Recht – im Hinblick auf Abschottung vor illegalen Migrantenströmen vor der „Festung Europa“ gewarnt wird, ist die Gefahr einer „Festung Deutschland“ nicht weniger groß. Nicht nur Globalisierungskritiker, auch wachsende Teile der politischen Elite haben Angst vor dem „Bürokratiemonster“ Brüssel, das die Axt an die Wurzeln nationaler Demokratie und Souveränität lege. Nicht wenige Abgeordnete des Bundestages führen einen Abwehrkampf gegen vermeintliche und tatsächliche Auswüchse der EU-Gesetzgebungsmaschinerie. Dabei wäre es Erfolg versprechender und verantwortungsbewusster, frühzeitig über die Bundesregierung konstruktiv Einfluss zu nehmen, die ja bei nahezu allen Rechtsakten im Rat ein wichtiger Mitspieler ist.

In den vergangenen Jahren ist es erfreulicherweise gelungen, den Blick vieler über den nationalen Tellerrand hinaus zu weiten. Daran haben auch die Teile der Medien mitgewirkt, die verstärkt europäisch berichten. Jüngere Abgeordnete der SPD-Bundestagsfraktion haben sich daran gemacht, den Austausch mit Kollegen anderer Mitgliedsstaaten zu suchen. Mithilfe der Friedrich-Ebert-Stiftung gelang beispielsweise ein regelmäßiger Austausch mit jüngeren britischen Abgeordneten und Regierungsvertretern. Viele führen heute „Benchmarking“ und „Best Practice“ im Munde. Das ist an sich noch kein Erfolg. Aber das Interesse daran ist gewachsen, wie andere Partner ihre Sozial-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktreformen bestreiten. Immer wieder werden jedoch Äpfel mit Birnen verglichen.

Wer die restriktiven Fördermaßnahmen für dänische Arbeitslose fordert, die hervorragenden skandinavischen Betreuungs- und Bildungseinrichtungen lobt, der ignoriert gerne deren hohe Steuersätze. Wer die britischen Erfolge auf dem Arbeitsmarkt als Modell preist, darf nicht die teilweise erschreckenden Defizite bei der gesundheitlichen und verkehrlichen Infrastruktur verschweigen. Dennoch hilft es bei der Entwicklung jeweils nationaler Reformkonzepte, sich intensiv und abwägend mit den Erfolgen und Misserfolgen anderer EU-Mitgliedsstaaten auseinanderzusetzen und da, wo es möglich und verantwortbar ist, Modelle zu übernehmen und den nationalen Gegebenheiten anzupassen. Bei aller fruchtbaren Vielfalt lassen sich daher viele Gemeinsamkeiten entwickeln. Und ein wenig mehr Selbstbewusstsein über manche Errungenschaft in Deutschland, auf die andere mitunter neidisch blicken, täte ebenso Not.

Denkt an Willy, bildet Netzwerke!

Die Idee, Netzwerke zu bilden, darf daher nicht an den nationalen Grenzen halt machen. Sie braucht eine europäische Dimension. Nötig ist eine Sozialdemokratische Partei Europas, die ihren Namen verdient. Sie muss mehr sein als ein Kaffeekränzchen sozialdemokratischer Partei- und Regierungschefs. Sie braucht mehr Demokratie, mehr Ressourcen und mehr Unterstützung. Ein größeres Engagement jüngerer Sozialdemokraten ist nötig. Es wäre gut, sie trügen den Auftrag an die Sozialdemokratie, Außen- und Europapolitik federführend mitzugestalten, weit in die Partei und damit auch in die Gesellschaft hinein. Ein bisschen mehr internationaler Geist und europäisches Verantwortungsbewusstsein stünde der SPD des 21. Jahrhunderts – ganz im Sinne Willy Brandts – gut zu Gesicht.

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