Komisches Wort, aber berechtigt

EDITORIAL

Welche Themen beunruhigen die Deutschen in diesen Tagen? Ohne Anspruch auf Rangfolge und Vollständigkeit: die Vernachlässigung von Kindern; die mutmaßlich zunehmende Jugendgewalt; die mangelnde gesellschaftliche Integration von Einwanderern und ihren Kindern; die Schließung der Nokia-Fabrik in Bochum; die Angst vor dem sozialen Absturz, individuell wie kollektiv. Über alle diese Themen wird hitzig gestritten. Mal regt uns dieses auf („Der arme kleine Kevin“), dann wieder jenes („Man traut sich nachts ja nicht mehr auf die Straße“), schließlich empören wir uns über vaterlandslose „Subventionsheuschrecken“, die arglose deutsche Handarbeiter um ihre Beschäftigung betrügen. Und so immer weiter, ein Thema nach dem anderen – aber ganz ohne Sinn fürs Ganze. Denn im Grunde nur eines verbindet unsere vielen Einzelempörungen: unsere desorientierte, aber stetig wachsende Gesamtverbitterung unter der Überschrift: „Früher war es besser.“ Bis zum Ausrufen der Fahndung nach dem ideellen Gesamtsündenbock („Die Ausländer“, „Der Turbokapitalismus“, „Die Abzocker in Berlin“ oder knapp: „Die da oben“) ist es dann manchmal nur noch ein kurzer Schritt.

Diese Gesellschaft muss aufpassen, dass sie nicht die Nerven verliert. Wir sind drauf und dran, die Wirklichkeit nur noch als ein diffuses Syndrom von Missständen wahrzunehmen, das uns psychisch und intellektuell überfordert. Richtig, alles hängt mit allem zusammen – Vernachlässigung und Bildungsarmut, Perspektivlosigkeit und Gewalt, Kompetenzmängel und Jobverluste. Aber es stimmt nicht, dass es keinen archimedischen Punkt mehr gäbe, von dem aus die Dinge in den Griff zu bekommen wären. In wunderbarer Eindringlichkeit bringt Franz Müntefering in diesem Heft auf den Punkt, worum es uns heute gehen muss: „Wir sind Hochleistungsland und müssen das bleiben. Das kann nur gelingen, wenn wir alle Potenziale voll nutzen. Wir haben aber im Wesentlichen nur ein Potenzial: unser Wissen und Können, verknüpft mit unserer Erfahrung und unserer Vernetztheit in einer globalisierten Welt. Die Investitionen – komisches Wort hier, aber berechtigt – in die Köpfe und die Herzen unserer Kinder und jungen Menschen sind entscheidend: für die Chancen der jungen Generation, aber auch für das Niveau unserer sozialen Sicherungssysteme und damit für die soziale Sicherheit der Älteren. Das müssen die jungen, die aktiven, die älteren und die alten Menschen wissen und deshalb müssen wir es ihnen sagen, klipp und klar.“ Schlagen wir diesen Kurs endlich ein, wird sich der deutsche Horizont wieder öffnen.

Die Redaktion der Berliner Republik freut sich sehr, Klaas Hübner, Matthias Platzeck, Peer Steinbrück, Frank-Walter Steinmeier und Wolfgang Tiefensee als neue Mitherausgeber begrüßen zu können. Sie alle schätzen die Berliner Republik, weil diese Zeitschrift – in den Worten Frank-Walter Steinmeiers – „die Neubestimmung der deutschen Politik von Anfang an zu ihrer Sache gemacht, mit wichtigen Impulsen befruchtet und vorangetrieben“ hat. Diesen Weg des Fortschritts werden wir mit der Unterstützung unserer neuen Herausgeber umso energischer und unerschrockener fortsetzen können. Herzlich willkommen!

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