Wenn Verteilungssymbolik in die Irre führt

Jeder zählt und niemand darf aufgegeben werden: Soll dieses sozialdemokratische Versprechen auch unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts gelten, sind entschiedene Schritte nötig. Ein Beitrag zur Grundsatzprogrammdebatte der SPD

Die Sozialdemokraten muten ihren Stammwählern und ihren Mitgliedern derzeit so viel zu, dass die Leitidee sozialdemokratischer Politik kaum noch erkennbar ist. Gemeint ist, wie jüngst ausgerechnet auf der ersten Seite der FAZ formuliert wurde (Thomas Schmid am 31.7.2004), die Idee, „dass in einer Gesellschaft jeder zählt und keiner aufgegeben werden darf“. Besser könnte dies auch ein neues Grundsatzprogramm nicht sagen. Wie lässt sich diese Idee heute verwirklichen? Dazu zehn Punkte:

1. Dieses sozialdemokratische Solidaritätsversprechen muss auch und gerade in wirtschaftlichen Krisenzeiten eingelöst werden, in denen ein immer größerer Teil der Bürger sich vom regulären Arbeitsmarkt ausgeschlossen sieht und nun auch noch mit erheblichen Kürzungen bei den staatlichen Lohnersatzleistungen rechnen muss.

Wenn diese Kürzungen unvermeidlich sind, weil die Finanzierung unserer überkommenen Systeme der sozialen Sicherung unter der dreifachen Belastung der Langzeitkosten der deutschen Vereinigung, der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit und der zunehmenden Überalterung unserer Gesellschaft zusammenbricht, dann muss die Vermehrung der Beschäftigungsmöglichkeiten zum Kernpunkt jeder sozialdemokratischen Programmatik werden.

2. Erhöhter Druck auf die Arbeitslosen, Deregulierung der Arbeitsbedingungen und Abbau des Kündigungsschutzes mögen dafür nützliche Begleitinstrumente sein, aber sie werden niemanden an die solidarische Leitidee der Sozialdemokraten erinnern und, noch schlimmer, sie werden ihre erhoffte Wirkung nicht erreichen, solange die makroökonomischen und strukturellen Rahmenbedingungen weitere Beschäftigungsverluste unvermeidlich erscheinen lassen.

3. Zu diesen Randbedingungen gehört der – durch die mögliche Verlagerung von Produktionsstandorten nach der EU-Osterweiterung verschärfte – internationale Kostenwettbewerb, der unsere überdurchschnittlich exportorientierte Wirtschaft auch überdurchschnittlich betrifft. Da protektionistische Lösungen in der EU ganz ausgeschlossen und international höchst problematisch wären, ist die einzig mögliche Antwort eine Konzentration auf Produktinnovation, Produktivitätssteigerung und höhere Qualifikation der Arbeitskräfte. Das bedeutet, dass im Exportsektor zusätzliche Beschäftigungschancen nur noch für Hoch- und Höchstqualifizierte erwartet werden können. Für die staatliche Politik bedeutet dies einerseits noch intensivere Förderung von Forschung und Entwicklung und andererseits die Schaffung besserer Bedingungen für die Nutzung des Potentials an hoch qualifizierten Frauen und Migrantenkindern.

Der Export braucht keine gering Qualifizierten

4. Aber auch der durchschlagende Erfolg einer solchen Innovationsstrategie würde kaum etwas am Beschäftigungsdefizit der normal und gering Qualifizierten ändern, die im Exportsektor nicht mehr gebraucht werden. Das ist überall so. Aber Länder wie die Vereinigten Staaten, die Schweiz, Schweden, Dänemark oder Holland, deren Beschäftigungsniveau weit über dem unseren liegt, haben ihre Erfolge auch nicht im Exportsektor erzielt, sondern in den Branchen, die nicht dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind. Hierzulande werden solche Erfolge jedoch durch eine anhaltende Wachstums- und Nachfrageschwäche verhindert. Dafür gibt es makroökonomische und strukturelle Gründe, die beide wirksam sind, und die man deshalb in der Diskussion nicht gegeneinander ausspielen sollte.

Die Konstruktionsfehler der Währungsunion

5. In makroökonomischer Hinsicht leidet die deutsche Wirtschaft unter einer anhaltenden Schwäche der Binnennachfrage, die sich in besonderem Maße auf die Beschäftigung in den privaten Dienstleistungen auswirkt – im Handel, in Restaurants und Hotels und im Handwerk. Diese Schwäche ist nicht bloß konjunkturell bedingt, sondern hat eine dauerhafte Ursache in der besonderen Lage der deutschen Wirtschaft unter den Bedingungen der Europäischen Währungsunion.

Traditionell das Land mit der niedrigsten Inflationsrate in Europa, hatte die Bundesrepublik auch immer das niedrigste Zinsniveau. Der Übergang zur Währungsunion mit einheitlichen Euro-Zinsen auf dem früheren deutschen Niveau brachte deshalb für alle anderen Mitgliedsländer einen plötzlichen Zinsvorteil, der das Wachstum dort beschleunigte und die deutschen Wachstumsraten zurückfallen ließ. Da aber Deutschland auch weiterhin besonders niedrige Inflationsraten aufweist, kommt es hierzulande nun statt der eigentlich notwendigen niedrigeren Nominalzinsen zu besonders hohen Realzinsen (einheitlicher Euro-Nominalzins minus deutsche Inflationsrate), wodurch das Wachstum der deutschen Wirtschaft immer weiter gebremst wird. Hinzu kommt der unsinnige Europäische Stabilitätspakt, der gerade die Länder mit den geringsten Wachstums- und Inflationsraten bestraft.

Es ist der Fehler der Bundesregierung, dass sie diese Konstruktionsprobleme der Währungsunion und besonders des Waigel’schen Stabilitätspaktes auf der europäischen Ebene nie offensiv und mit dem Ziel einer Änderung diskutiert hat. Es fragt sich deshalb, ob dieses Versäumnis in einem sozialdemokratischen Grundsatzprogramm thematisiert werden kann. Man sollte sich jedoch darüber klar sein, dass alle Hoffnungen auf einen vom Wachstum der Binnennachfrage gestützten Abbau der Arbeitslosigkeit durch die fortdauernde makroökonomische Hypothek der deutschen Wirtschaft gedämpft werden.

6. Umso wichtiger wird dann jedoch die Thematisierung unserer strukturellen Beschäftigungshindernisse. Diese liegen zum Teil in der Überregulierung (Bauvorschriften, Ladenschluss, Handwerksordnung, Leiharbeit, auch Kündigungsschutz), die besonders die Neugründung und Entwicklung von Dienstleistungsunternehmen behindert, und nur langsam und unter Rücksicht auf weiterhin berechtigte Schutzzwecke abgebaut werden kann.

Einfache Dienstleistungen sind überteuert

Faktisch viel wichtiger ist jedoch die Überteuerung der einfachen Dienstleistungen durch Lohnnebenkosten und Mehrwertsteuer. Sie wird verdeutlicht durch das eklatante Missverhältnis zwischen dem Preis, den der Kunde für eine Dienstleisterstunde zu bezahlen hat, und dem Nettolohn, den der Handwerksgehilfe oder die Friseurin dafür erhalten. Schädlich ist diese Verteuerung vor allem für die Beschäftigung in den „einfachen“ Dienstleistungen, deren niedrige Produktivität durch den Einsatz von Maschinen und Computern nicht wesentlich gesteigert werden könnte, und bei denen die Kunden deshalb auch leicht auf Eigenarbeit oder Schwarzarbeit ausweichen können. Aber überhaupt nur hier können in Zukunft noch Arbeitsplätze für Personen mit geringer beruflicher Qualifikation gefunden werden, nachdem in der Industrie die einfachen Arbeitsplätze entweder in Niedriglohnländer verlagert oder durch Automatisierung ersetzt wurden.

Wenn also das Versprechen der Solidarität künftig auch diejenigen noch einschließen soll, die auf ihrem Bildungsweg nicht mindestens die Fachhochschulreife erreicht haben, dann muss die Vermehrung von Beschäftigungschancen in den einfachen Dienstleistungen ein vorrangiges Ziel sozialdemokratischer Politik werden. Nur dann erhält übrigens auch der mit der Agenda 2010 verstärkte Druck auf die Arbeitslosen seinen Sinn – denn wo sonst sollten denn die den neuen Zumutbarkeitsregeln entsprechenden Arbeitsplätze entstehen?

7. Hier liegt – nach dem Verursacherprinzip – auch die Verantwortung des Staates auf der Hand. Er verhindert die Entstehung legaler Arbeitsplätze, indem er auf den Bruttolohn 42 Prozent Sozialabgaben und noch einmal 16 Prozent Mehrwertsteuer aufschlägt. Diese Verantwortung muss auch in einem sozialdemokratischen Grundsatzprogramm gegenüber der eigenen Regierung angemahnt werden, die bisher noch nicht einmal von der europarechtlichen Option Gebrauch gemacht hat, für einfache Dienstleistungen einen niedrigeren Satz der Mehrwertsteuer einzurichten.

Warum Rürup schon ganz richtig liegt

Gewiss werden auch die mit der Agenda 2010 verfügten Kürzungen von Sozialleistungen mit der Notwendigkeit begründet, die beschäftigungsschädlichen Sozialabgaben zu senken – aber wie vorherzusehen war, lässt sich auf diesem Weg allenfalls deren weiterer Anstieg bremsen. Wenn stattdessen spürbare Beschäftigungseffekte erzielt werden sollen, so muss eine drastische Senkung der Lohnnebenkosten zumindest im Bereich der niedrigen Löhne erreicht werden. Dass die Unternehmen und die Arbeitsuchenden auf eine solche Entlastung reagieren, zeigt die (beschäftigungspolitisch eher ambivalente) rasche Vermehrung der „Minijobs“.

Dies ist der richtige Ansatz des von der CDU aufgegriffenen Rürup-Modells zur Finanzierung der Krankenversicherung, das man deshalb in der öffentlichen Polemik auch nicht verteufeln sollte. Wenn man aber aus Gründen der verteilungspolitischen Symbolik die Gesundheitspauschale mit steuerfinanzierten Subventionen für die Beiträge von Geringverdienern ablehnt, dann sind eigene, bessere Konzepte umso nötiger. Das bisherige Konzept einer „Bürgerversicherung“ wird dafür nicht ausreichen, weil es beschäftigungspolitisch nur wenig bewegen kann.

8. Beschäftigungspolitisch effektiv und relativ leicht umsetzbar wäre dagegen eine Lösung, die erheblich zu dem raschen Beschäftigungswachstum in den Niederlanden beigetragen hat. Ihr wesentliches Element ist die – auch vom DGB geforderte – Einführung von Grundfreibeträgen (ähnlich wie bei der Einkommensteuer) auch bei den Beiträgen zur Sozialversicherung. Der beschäftigungspolitisch wirksame Entlastungseffekt wäre dann am stärksten bei den unteren Lohngruppen. Hier würden die höheren Nettoeinkommen (bei vollem Versicherungsschutz) das Interesse der Arbeitnehmer an legaler Beschäftigung erhöhen, und die deutlich niedrigeren Lohnkosten würden die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze für einfache Dienstleistungen ermöglichen. Der Effekt wäre jedoch auch in den mittleren Lohngruppen noch spürbar.

Vorwärts zur dualen Einkommensteuer!

9. Die Ausfälle der Sozialkassen müssten selbstverständlich ersetzt werden. Die Gegenfinanzierung sollte aber nicht aus der beschäftigungsschädlichen und regressiven Mehrwertsteuer erfolgen, sondern aus der Einkommensteuer. (Das Aufkommen aus der Einkommen- und Körperschaftsteuer lag in Deutschland im Jahr 2000 – also vor den Steuersenkungen – bei 11,4 Prozent des BIP. Zum Vergleich: Schweiz 13,8 Prozent, Großbritannien 14,6 Prozent, USA 15,1 Prozent, Schweden 23,4 Prozent, Dänemark 28,7 Prozent. Wir gehören bei dieser Steuerart zu den Niedrigsteuerländern – haben aber wegen der Gewerbesteuer viel zu hohe nominale Steuersätze bei den Steuern auf Unternehmensgewinne, die uns im internationalen Standortwettbewerb schaden.) Idealerweise ließe sich die Gegenfinanzierung aus der Einkommensteuer durch den Übergang zum skandinavischen Modell der „dualen Einkommensteuer“ erreichen – also durch eine Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer, die eine flache, international wettbewerbsfähige Besteuerung der Unternehmensgewinne und Kapitaleinkommen mit einer progressiven Besteuerung aller übrigen Einkommen verbindet. Aber eine so radikale Steuerreform wäre nur mit der Zustimmung des Bundesrats und damit der Oppositionsparteien erreichbar – und sie ist innerhalb der SPD bisher noch nicht einmal angedacht.

Als sofort verfügbare Lösung gäbe es jedoch die (auch von Bert Rürup der CDU vorgeschlagene) Möglichkeit einer höheren Ergänzungsabgabe (also des „Soli“) auf die Einkommensteuerschuld (aber nicht auf die im internationalen Wettbewerb stehende Körperschaftsteuer). Diese könnte von der Regierungsmehrheit auch ohne Zustimmung des Bundesrats beschlossen werden. Die Mehrbelastung träfe dann in erster Linie die Bezieher hoher Arbeitseinkommen (ohne dass man deshalb die beschlossene Steuerreform zurücknehmen müsste).

10. Das sozialdemokratische Versprechen der Solidarität würde mit diesem Vorschlag in dreifacher Weise besser erfüllt als bisher: Erstens, die Beschäftigungschancen der auf dem derzeitigen und künftigen Arbeitsmarkt am meisten benachteiligten Arbeitnehmer mit geringer beruflicher Qualifikation würden verbessert. Zweitens, die Nettoeinkommen von Arbeitnehmern in den unteren Lohngruppen würden erhöht. Drittens, die Kosten würden in erster Linie von den finanziell leistungsfähigsten Steuerzahlern getragen.

Vor allem aber: Hartz IV erhielte seine politisch und sachlich unverzichtbare Ergänzung in der Beschäftigungspolitik. Wenn die Regierung realistische Konzepte zur Vermehrung von Arbeitsplätzen bisher nicht vorgelegt hat, so sollte dies die Sozialdemokratische Partei doch nicht daran hindern, solche zu fordern.

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