Weniger Pathos, mehr Streit!

Seit 2007 ist Jochen Bittner Europa- und Nato-Korrespondent der »Zeit« in Brüssel. Zuvor war der gelernte Jurist in der »Zeit«-Redaktion sechs Jahre lang für die Themen Terrorismus und Sicherheitspolitik zuständig. In seinem aktuellen Buch »So nicht, Europa!« (dtv) analysiert er als Insider des Brüsseler Innenlebens, was in der EU falsch läuft. »Berliner Republik«-Mitarbeiterin Johanna Lutz hat mit Jochen Bittner gesprochen

In Ihrem Buch beschreiben Sie das „politische Stockholmsyndrom“, dem jeder erliege, sobald er nach Brüssel kommt. Und wer die pro-europäische Harmonie stört, wird umgehend als Europaskeptiker gebrandmarkt. Warum „verbrüsseln“ die Leute?

Menschlich ist das verständlich: Jeder Neuankömmling ist in der EU-Hauptstadt erst einmal fremd und sucht Anschluss. Wer dazugehören will, muss die corporate identity annehmen. Das führt dazu, dass Politiker, Journalisten und Verbandsmenschen in erster Linie die Botschaft Europas in ihre Nationalstaaten tragen – und sich weniger als Botschafter eigener nationaler Interessen in Brüssel verstehen. Genau das würde der EU aber gut tun. Denn die EU leidet unter zu viel Romantik: Stets geht es um nicht weniger, als einen einheitlichen Kontinent aufzubauen. Deshalb mag niemand Streit in Kauf nehmen. Aber die Zeit ist reif dafür, dass wir einen ebenso skeptischen Blick auf das Geschehen in Brüssel werfen wie auf das in Berlin. In diesem Sinne, aber nur in diesem, würde ich mich auch selbst als Europaskeptiker bezeichnen.

Aber beim Thema Euro wird doch gestritten wie nie.

Gut so. Dieser Streit hat zwar zu vielen hässlichen Schlagzeilen geführt. Aber dafür streitet sich Europa heute erstmals über die Angleichung des Renteneintrittsalters: Ist es solidarisch, dass die Griechen mit Mitte 50 in Rente gehen und die Deutschen erst mit 67Jahren? Solche Diskussionen sind wichtig. Solidarität bedeutet nicht, über Ungerechtigkeiten und Unterschiede zu schweigen.

Der Lissaboner Vertrag hat dem Europäischen Parlament zusätzliche Rechte eingeräumt. Könnte es zum Ausgangspunkt einer neuen Streitkultur werden?

Immerhin hat sich das Europäische Parlament enorm emanzipiert, seit es mit dem Lissaboner Vertrag Kompetenzen hinzugewonnen hat. Aus dem Abnick-Organ ist eine echte demokratische Kontrollinstanz geworden. Konnte das Parlament früher vor allem bei Richtlinien zur Größe von Traktorsesseln oder dem Abstand von Straßenlaternen mitbestimmen, hat es nun sogar in der Innen-, Justiz- und Außenpolitik ein Wörtchen mitzureden. Das Parlament muss allerdings noch lernen, sich von der Unwucht administrativer Kleinigkeiten zu befreien und echten politischen Streit auch entstehen zu lassen.

Auch die nationalen Parlamente verfügen seit dem Lissaboner Vertrag über mehr Mitsprache- oder Einspruchsrechte.

Ja, aber sie haben noch viel zu wenig Interesse an dem, was in Brüssel passiert. Es ist ja auch harte Arbeit, sich durch die Gesetzesmassen zu wühlen, die jeden Tag aus der EU-Hauptstadt in die nationalen Hauptstädte geschickt werden. Der Europaausschuss des Bundestages bräuchte viel mehr Personal, um dieses Material zu bewältigen. Dennoch muss der Bundestag genauer hingucken, was in Brüssel passiert – und mutiger Einspruch erheben. Allerdings dürfen die Abgeordneten ihre neue Rolle nicht ausschließlich als Bremsklotz verstehen, sondern sollten auch eigene europäische Initiativen anstoßen. Sie müssen Europa endlich als politischen Gestaltungsraum entdecken.

Die Koordination dieser Initiativen könnten die europäischen Parteien übernehmen. Warum hört man dennoch so wenig von ihnen?

Weil die europäischen Parteien sehr bunt gemischt sind. In der EVP sitzen niederländische Christdemokraten, die sehr sozial eingestellt sind, zusammen mit Vertretern der rechtsgerichteten Berlusconi-Partei. Die europäischen Parteien sind Notwendigkeitsbündnisse. Sie werden kaum für eine größere europäische Öffentlichkeit sorgen können. Gleichzeitig fehlen den nationalen Parteien die Triebkräfte und die Energie, europäische Politik über Ländergrenzen hinweg zu betreiben, auch weil es immer noch keine europäische Öffentlichkeit gibt. Die kulturellen Grenzen und die Grenzen der Medienberichterstattung sind so groß, dass die nationale Demokratiekarosserie auf absehbare Zeit der Bezugspunkt für Politik bleiben wird.

Die Medien könnten einfach mehr über europäische Prozesse berichten.

Auch die Brüsseler Korrespondenten leiden unter der fehlenden politischen Auseinandersetzung. Wo es keine klare Frontstellung zwischen Regierung und Opposition gibt, müssen sie den politischen Streit quasi selbst erzeugen, indem sie Kontroverses selbst identifizieren. Deshalb werden EU-Vorgänge häufig entweder skandalisiert, oder es wird sogar falsch berichtet, nur um europäische Themen interessanter zu machen.

In Ihrem Buch schreiben Sie, die EU regele Kleines zu groß und Großes zu klein. Als Beispiel dafür nennen Sie das schrittweise Glühbirnenverbot. Was ist falsch daran?

Wie so oft hat die Union die politischen Auswirkungen ihrer Entscheidungen unterschätzt. Ein sehr politisches Thema hat sie wie einen Verwaltungsakt behandelt. Als im Jahr 2009 dann die ersten Glühbirnen aus den Regalen verschwanden, fühlten sich viele Europäer überrumpelt. Die Fachleute der EU hatten alle Kritik, die im Laufe des Verfahrens geäußert wurde, den Klimaschutz-Zielen untergeordnet. Brüssel ist es eben gewohnt, weit weg vom Bürger zu entscheiden, auch weil auf den Gebieten Binnenmarkt und Verbraucherschutz fernab der Öffentlichkeit viele Detailfragen geregelt werden müssen.

Eine gängige Kritik an der EU besagt, der integrierte Binnenmarkt müsse flankiert werden durch stärkere europäische Kompetenzen in den Bereichen Wirtschaft, Arbeit und Sozialpolitik. Das wären Themen, die viele Menschen interessieren.

Ich teile diese Forderung. Beispiel Euro: Dass er zu früh eingeführt wurde, ist in den europäischen Regierungszentralen mittlerweile Konsens. Der Währungsunion hätte eine Budgetunion vorausgehen müssen. Zum einen hätten die EU-Staaten ihre Haushaltspolitik stärker untereinander koordinieren müssen. Zum anderen hätten sie ihre Arbeitsmarkt-, Sozial-, Renten- und Gesundheitspolitik enger abstimmen sollen, so dass kein Staat auf Kosten anderer lebt. Diese Integrationstiefe als Bedingung für den Euro war vielen bei seiner Einführung überhaupt nicht bewusst. Das Problem besteht darin, dass die nächsten Integrationsschritte – beispielsweise eine Europäische Wirtschaftsregierung – über den Lissabon-Vertrag hinaus gehen müssen. Die nationalen Parlamente werden da nicht mitspielen. Vor allem auch Großbritannien wird auf die Bremse treten. Die EU steht vor einem großen Dilemma: Rasch notwendige zusätzliche europäische Kompetenzen sind politisch nur langfristig durchzusetzen.

Auch wenn es um große außenpolitische Themen geht, ist die EU oft sprachlos und handlungsunfähig. Zu den politischen Aufruhren in den angrenzenden arabischen Ländern äußert sich die EU zum Beispiel nur äußerst zögerlich. Wieso?

Die EU wurde von den Ereignissen in Tunesien überrumpelt und war auch noch peinlich berührt. Nachdem der Barcelona-Prozess im Sande verlaufen war, wurde 2008 die Mittelmeerunion aus der Taufe gehoben. Europa ging davon aus, die arabischen Autokraten seien grundsätzlich reformwillig und man könne so etwas wie „Wandel durch Handel“ bewirken. Hinzu kam die Furcht, Islamisten könnten an die Macht kommen, wenn diese Regime fallen. Das hat sich noch deutlicher bei der Diskussion über die Reaktion auf Ägypten gezeigt. Die EU hat die Option des freiheitlichen Wandels sträflich unterschätzt. Selbst der schwedische Außenminister Carl Bildt hält die EU-Strategie gegenüber Nordafrika für gescheitert. Die Koordination zwischen 27 Staaten mag schwierig sein, aber die EU muss einfach schneller auf die Ereignisse reagieren. Die arabischen Bürger warten ja auf ganz klare Signale von der EU. Catherine Ashton, die neue Außenbeauftragte der Union, sollte sich möglichst schnell in Tunesien blicken lassen, um zu zeigen, dass wir das Land nicht sich selbst überlassen werden.

Liegt das momentane Vakuum vielleicht auch daran, dass es derzeit kaum durchsetzungsstarke und charismatische EU-Außenpolitiker gibt?

Sicher. Ashton ist eine charmante Frau, aber sie hat von Anfang an gesagt, sie wolle eher moderieren als führen. Das war vorher bekannt – aber auch so gewollt. Es ist verständlich, dass sich die EU mit der Unterstützung konkreter Personen oder Kabinette in Ägypten und Tunesien zurückhält, weil die Lage sich ständig ändert. Dennoch braucht sie eine grundsätzlich neue Strategie, die unter anderem die Zivilgesellschaft viel stärker in den Blick nimmt.

In der Außenpolitik und bei der Krisenbewältigung agiert die EU zu gemächlich. Dagegen lautet die These Ihres Buches, die EU bewege sich „oben zu schnell“ und „unten zu langsam“.

Diese Formel bezieht sich auf die Integrationspolitik. Nehmen wir nur mal die europäische Verfassung: Sie scheiterte im Jahr 2005 zunächst an Volksabstimmungen in Frankreich und in Holland. Die Neuauflage, der Lissaboner Vertrag, wurde nur in Irland zur Volksabstimmung gestellt – und auch dort von der Bevölkerung knapp abgelehnt. Darauf reagierten die Verantwortlichen extrem reflexhaft: „Die Iren haben uns nicht verstanden. Die Inhalte des Vertrags sind nicht richtig kommuniziert worden. Das müssen wir nachholen – und dann wird noch einmal abgestimmt.“ Viele Politiker in Brüssel glauben, es besser zu wissen als die Wähler in den Nationalstaaten. Das führt dazu, dass sich die Bürger bevormundet fühlen. Übrigens auch in Deutschland: Die deutschen Europapolitiker überschätzen die Integrationswilligkeit der Bevölkerung und achten zu wenig auf Bodenkontakt.

Andererseits hat sich mit der Eurokrise der Vorwurf verstärkt, Deutschland agiere zu zögerlich und lasse sich zum Zahlmeister für die ganze EU machen.

Innerhalb der EU wird Deutschland mittlerweile als Zuchtmeister betrachtet. Denn die Bundesregierung, besonders Angela Merkel, hat deutlich gemacht, dass sie die EU nicht mehr nur als Projekt von Krieg und Frieden, sondern vor allem von Kosten und Nutzen sieht. Deutschland will, dass die Währungsunion zu einer Wirtschafts- und Fiskalunion umgebaut wird, und setzt dabei das deutsche Geld ganz zielgerichtet als Druckmittel ein. Vor allem im vergangenen Jahr ist Deutschland als neue europäische Ordnungsmacht aufgetreten – auch mit dem Selbstbewusstsein, dass Deutschland seit der Agenda 2010 selbst erhebliche Reformanstrengungen im öffentlichen und sozialen Sektor unternommen hat. So forderte Merkel von Griechenland eine klare Verpflichtung zur Haushaltssanierung, bevor sie bereit war, Finanzhilfen zu gewähren. Und sie forderte stärkere Sanktionen für Defizite. Dieses Auftreten bringt Deutschland gerade von den nordeuropäischen Staaten Beifall ein. Sie finden Merkels Forderungen richtig, wollen sich selbst aber nicht so weit aus dem Fenster lehnen, um sich nicht unbeliebt zu machen. Südeuropäische Länder hingegen fühlen sich vom Auftreten Deutschlands bevormundet und gegängelt. Es scheint jedoch so, als würde sich Deutschland mit dieser neuen harten Gangart durchsetzen.

Und dennoch dürfte die Eurokrise europaskeptische Haltungen weiter wachsen lassen.

Das kommt darauf an, wie die Politik argumentiert. In ihrer Regierungserklärung zur Griechenlandkrise hat Angela Merkel im vergangenen Jahr gesagt: „Scheitert der Euro, scheitert Europa.“ In diesem Satz steckt eindeutig zu viel Pathos. Den Euro jetzt zum Friedensprojekt zu stilisieren – das kaufen einem die Leute nicht ab. Man könnte die Finanzhilfen für Griechenland und Irland auch einfach als Zukunftsinvestitionen beschreiben, um die gemeinsame europäische Wirtschaft zu stärken. Auch hier gilt: Eine weniger romantische, dafür nüchterne und auf Interessen basierende Argumentation würden die Menschen sicher besser verstehen.

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