Was von Europa übrig bleibt

Amerika ist das Rom des 21. Jahrhunderts. Doch China und die muslimische Welt widersetzen sich seinem hegemonialen Anspruch. Kann Europa in dieser Lage eine eigenständige Rolle behaupten? Oder steht ihm eine Zukunft als Freihandelszone bevor?

Die europäische Geschichte war vom Beginn der Neuzeit bis zum Jahre 1945 eine Auseinandersetzung zwischen den Prinzipien des Gleichgewichts und der Hegemonie. Ludwig Dehio hat uns geschildert, wie das Machtgleichgewicht auf der Apeninnen-Halbinsel in dem europäischen der Nationalstaaten seine Fortsetzung fand, und wie die Versuche erst Karl V., dann Philipp II. und der Wiener Habsburger, später Frankreichs unter Ludwig XIV. und Napoleon und schließlich Deutschlands durch Wilhelm II. und Hitler eine Hegemonie über Europa zu errichten, von den Flügelmächten England, Amerika und Russland zunichte gemacht wurden. Um das Gleichgewicht in der alten wiederherzustellen rief Canning einst die neue Welt ins Leben, und ozeanische Weite auf der einen wie eurasische Landmacht auf der anderen Seite verhinderten immer von neuem die Einigung des Kontinents unter einer Hegemonialmacht. Dass dies besonders schwierig wurde, als Bismarck einen Moment der Verwirrung nach dem Krim-Krieg nutzte, um die Mitte des Kontinents neu zu ordnen, gehört zu den historischen Erfahrungen von Franzosen und Angelsachsen.


Europas Stärke wie Schwäche waren in der Vergangenheit seine Kleinräumigkeit wie seine Beweglichkeit und Geschmeidigkeit. Hart im Raum stießen sich die Gewichte als auch die Mitte einen Machtstaat ausbildete, doch diese Wendung führte erst im Zuge der abenteuernden Weltpolitik des letzten Hohenzollern zur Katastrophe. Die Verwandlung der seit 1648 beweglichen deutschen Ländermasse in einen festumrissenen Nationalstaat nannte schon Disraeli die eigentliche Revolution im 19. Jahrhundert. Damit war zwar Moritz von Sachsen unmöglich gemacht, aber eben auch der kräftemäßige Ausgleich von Konflikten auf Kosten Deutschlands. Diese Ordnung der Dinge, so schien es den Beobachtern wenigstens - endete 1945 mit dem Sieg der Flügelmächte Amerika/England und Russland, als der alte Kontinent, ausgebrannt von Hitlers Abenteurertum, vom Subjekt zum Objekt der Weltgeschichte wurde.


An die Stelle eines neuen Hegemonialversuchs durch eine europäische Macht trat der Wille Amerikas, den Westen des Kontinents in Abwehr eines russischen Übernahmeversuchs zu einen. Inzwischen ist auch das Geschichte. Russland ist aus dem Mächtespiel vorerst ausgeschieden und Amerika selbst die Macht geworden, deren militärische, wirtschaftliche und kulturelle Dominanz sich wie ein Alb auf die Welt legt.

Die liberale Utopie von Glück und Konsum

Einer solchen Feststellung wird gern mit dem Vorwurf des Antiamerikanismus begegnet. Dabei werden zwei Kategorien durcheinander geworfen. Der Antiamerikanismus ist eine moralisierende Haltung gegen das Wesen des Amerikanischen, gegen die aus Markt und Menschenrechten zusammengesetzte liberale Utopie von der Befreiung der Menschheit zu Glück und Konsum. Doch darum geht es gerade nicht, vielmehr sind es die schiere Macht und Größe der Vereinigten Staaten, die heute die überkommene Weltordnung sprengen. Jede Zahl belegt das. Im Jahre 2003 wird Amerika mehr Geld für seine Streitkräfte ausgeben als die fünfzehn nächstgrößten Armeen zusammen. Allein Amerika ist heute noch in der Lage, an jedem Ort der Welt Krieg zu führen, notfalls an mehreren zugleich. Zur militärischen Omnipotenz gesellt sich die wirtschaftliche Macht. Amerikas Wirtschaft ist doppelt so stark wie die Japans und allein Kalifornien erwirtschaftet ein Bruttosozialprodukt, das größer ist als das Frankreichs und nur wenig kleiner als das britische. Technologisch haben die Vereinigten Staaten jeden denkbaren Rivalen weit hinter sich gelassen, und der weltweite Einfluss ihrer Kulturindustrie übersteigt den ihrer Atomraketen und Computernetze.

Die bipolare Welt entrückt in die Geschichte

Amerika ist das neue Rom, ein amerikanisches Imperium, das die Welt nach seinen Vorstellungen ordnen möchte und immer weniger geneigt scheint, auf die Interessen, kulturellen Überlieferungen und historischen Traditionen anderer Rücksicht zu nehmen. Doch damit ändert sich auch Europas Verhältnis zu seiner Tochter. Die unverbrüchliche Freundschaft und uneingeschränkte Solidarität beruhte auf der Dankbarkeit für die Errettung zuerst vom Nazismus und danach vom Kommunismus. Sie regenerierten sich aus dem Anblick des realen Sozialismus und der in der Breschnew-Doktrin gefangenen Völker. Doch je weiter diese bipolare Welt in die Vergangenheit entrückt, umso dringlicher wird die Frage nach einer neuen Weltordnung. Ist es im europäischen Interesse, wie die griechischen Stadtstaaten zuerst in der makedonischen und danach in der römischen Welt aufzugehen? Schließlich war Rom über Jahrhunderte hinweg eine Friedensordnung, in der sich die griechische Welt einen Rest von Autonomie bewahrte. Erst der Zusammenbruch des römischen Reiches und seines Wiedergängers, des mittelalterlichen Stauferreiches machten den Weg frei für jenes labile Gleichgewicht der europäischen Staatenwelt, das immer von neuem in Kriegen austariert wurde. War diese Welt nicht eine Ordnung im Übergang, so lange es kein neues Imperium gibt, das an ihre Stelle treten könnte? Und was spricht dagegen, dass Amerika diese Rolle jetzt übernimmt?


Zweitausend Jahre Geschichte, so könnte man einwenden; denn anders als Amerika versuchte Rom tatsächlich, die Welt zu befrieden und den unterworfenen Völkern mit einer überlegenen Kultur auch eine neue Rechtsordnung zu geben. Zweitausend Jahre später erscheint das unmöglich, weil nicht nur nationale Kulturen, sondern auch eine Weltreligion der kulturellen Pazifizierung widerstehen. In China steht Amerika heute die einzige Macht jenseits des neuen Limes gegenüber, die das verloren gegangene Gleichgewicht kraft einer Milliarden Bevölkerung wieder herzustellen vermag. Aber auch die muslimische Welt, die innerhalb dieses Limes liegt, akzeptiert die neue römische Ordnung nicht. Ob Internet und Kulturindustrien sich hier einmal stärker erweisen werden als die Religion, wird sich kaum in den nächsten zwanzig Jahren beantworten lassen, eine imperiale Friedensordnung ist darauf vorerst nicht zu errichten.

Was die Osterweiterung (auch) bedeutet

Doch wenn neben dem kommunistisch-konfuzianischen China auch die muslimische Welt einer römischen Lösung widerstrebt, ist ein neues Rom ausgeschlossen. Dann müssen Amerika und Europa zu anderen Ordnungen finden. Dann ist auch die Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Hegemonie und Gleichgewicht nicht zu Ende. Wenn wir uns allerdings eine multipolare Welt vorstellen, in der China die Vereinigten Staaten balanciert, erhalten auch Russland und Europa einen Teil ihrer alten Bedeutung zurück, sei es als Verbündete, sei es als Gegengewichte zu den Amerikanern. Nun ist aus historischen wie kulturellen Gründen ein Bündnis mit China kaum vorstellbar, ein eigenes europäisches Gewicht auf einer der Waagschalen dagegen schon. Doch damit erhält ein anderes europäisches Projekt eine neue Bedeutung - die Osterweiterung der EU. Je mehr europäische Staaten das alte karolingische Europa aufweichen, umso geringer ist dessen Handlungsfähigkeit. Dass die Briten traditionell und die Amerikaner seit neuestem auf eine nur mäßig handlungsfähige Freihandelszone setzen, zu der auch die Türkei, die Ukraine und Russland gehören sollen, nährt den Verdacht, dass ein eigenes europäisches Gewicht auf den weltgeschichtlichen Waagschalen in Washington nicht gewünscht wird.


Vor diesem Hintergrund gewinnt ein Nebenaspekt eine zentrale geostrategische Bedeutung - die Landwirtschaftspolitik. Die EU, so kann man es salopp formulieren, sollte den deutschen Industrieprodukten und den französischen Agrarerzeugnissen Absatz und Stabilität garantieren. Mit dem Hinzutritt Polens wird dieses durch deutsche Nettozahlungen mühselig aufrechterhaltene Gleichgewicht gestört. Heute beläuft sich der deutsche Finanzierungsanteil auf knapp 25 Prozent von knapp 100 Milliarden Euro. Im Jahre 2005 könnten nach internen Berechnungen 44 Milliarden hinzukommen, die ebenfalls zu einem Viertel von Deutschland getragen werden müssen. Dass dies der jetzt schon überforderte Bundeshaushalt nicht leisten kann, ist offensichtlich. Die Franzosen bestehen auf der Erfüllung des "Grundgesetzes" der europäischen Einigung, dem Schutz ihrer Landwirtschaft, die Deutschen berufen sich auf das alte ultra posse nemo obligatur.


Daran kann das historische Bündnis zwischen Franzosen und Deutschen zerbrechen, deren Feindschaft der Fluch des alten Europa war und deren Zusammenwirken der Kern des neuen seit Adenauer, Schuman und de Gaulle ist. Die Diskussion um Vertiefung oder Erweiterung bekommt eine neuen Sinn, wenn die Erweiterung die Vertiefung ausschließt. Amerikanern und Briten könnte es recht sein, den Europäern wäre die letzte Möglichkeit genommen, in der Welt von morgen eine selbstständige Rolle zu spielen. Jede deutsche Regierung muss deshalb zuerst dieses Problem entschärfen und gemeinsam mit Frankreich einen Weg finden, der die Zwänge des Bundeshaushalts, den Überlebenswillen der französischen Bauern und die gemeinsame Handlungsfähigkeit in Übereinstimmung bringt. Viel Zeit bleibt dazu nicht mehr.

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