Utopien im Kleinen helfen den Menschen

In der Krise haben derzeit altlinke Visionen Konjunktur, die auf vollständig andere Formen des Lebens, Arbeitens und Wirtschaftens zielen. Stattdessen sollten Linke auf den utopischen Charakter von "Kleinarbeit" hinweisen, die handfesten Fortschritt schafft

Eigentlich müsste die globale Finanzkrise der politischen Linken in Deutschland Auftrieb geben. Dass dies aber offenkundig nicht der Fall ist, liegt an einer rückwärtsgewandten Linkspartei und einer SPD, die noch immer mit der Agenda 2010 kämpft. Schlimmer noch: Die linke Zivilgesellschaft hat keine neuen Ideen. Dabei erfordert die globale Finanzkrise wirtschaftspolitische Gestaltung wie kaum eine andere Krise der vergangenen Jahrzehnte. Während die SPD - was soll sie auch anderes tun? - in der Regierung mit Augenmaß handelt, diskutiert die linke Szene über alt gewordene Utopien. Typische Beispiele sind die Forderung nach einer "Wirtschaft des Genug" in linken Kirchenkreisen (angeführt von den Theologen Ulrich Duchrow und Franz Segbers) sowie ein Essay von Wolfgang Uchatius in der Zeit mit dem Titel "Wir könnten auch anders".

Sie alle rufen das Ende des falschen Wachstums aus. Als Zaubermittel tauchen utopische Vorstellungen von lokal begrenztem Wirtschaften, "Schwundgeld" (das den Konsum ankurbeln soll) und - natürlich - das bedingungslose Grundeinkommen für alle auf. Eigentlich wäre es freilich notwendiger, sich um Details politischer Gestaltung zu kümmern, die den Menschen unmittelbar und mittelfristig helfen: die effektive Regulierung der Finanzmärkte oder neue institutionelle Regeln für eine konjunktursensible Wirtschaftspolitik. Dazu müsste man aber anerkennen, dass das, was wir verkürzend "soziale Marktwirtschaft" nennen, gar nicht so schlecht ist, sondern im internationalen Vergleich geradezu vorbildlich. Stattdessen hängt die Linke alten genossenschaftlichen Träumen nach und überlässt der Kanzlerin das Feld: Angela Merkel ruft unterdessen zum weltweiten Ausbau der sozialen Marktwirtschaft auf.

Nein, die sozial regulierte Marktwirtschaft ist keineswegs gescheitert. Der "Rheinische Kapitalismus", den langfristige Unternehmensentwicklung, die Mitbestimmung der Arbeitnehmer sowie ein ausgebauter Sozialstaat kennzeichnen, hat auch in einer globalisierten Volkswirtschaft durchaus Vorteile gegenüber einem Hire-and-Fire-Kapitalismus angelsächsischer Provenienz " und gegenüber dem asiatischen Kapitalismus, der das Kollektiv betont. Die eigentlichen wirtschaftlichen Probleme Deutschlands sind der durch hausgemachte politische Fehler entstandene sehr hohe Sockel von Langzeitarbeitslosen und das schlechte Bildungssystem, das gegenwärtig jeden fünften jungen Menschen ohne einen vernünftigen Schulabschluss ins Leben entlässt.

Gefragt ist qualifizierte Teamarbeit

Der Chef der amerikanischen Notenbank, Ben Bernanke, hatte sich schon im Sommer 2006 überraschend kritisch zur Globalisierung geäußert und gefordert, die Verlierer der Globalisierung müssten "Entschädigungen" erhalten. Zugleich ließ er keinen Zweifel daran, dass die alten Industrienationen von der Globalisierung profitiert haben. Bernanke führt ausdrücklich Deutschland als Beispiel dafür an, dass in diesen Ländern sehr wohl noch hochqualifiziert produziert wird. Der kalifornische Chip-Produzent AMD etwa produziere in Texas, in Japan und in Deutschland. Allerdings verlagere er die Endfertigung in Billiglohnländer wie Thailand, Singapur, Malaysia und China.

Erst hier beginnt die Globalisierung für Länder wie Deutschland problematisch zu werden: Bei uns werden immer weniger unqualifizierte Industriearbeiter benötigt, dafür umso mehr Facharbeiter und Hochqualifizierte, schließlich hat die Lieferung komplexer Maschinen und ganzer Fabriken in einer durch die Globalisierung wirtschaftlich wachsenden Welt eine große Zukunft. Dabei ist besonders qualifizierte Teamarbeit gefragt " genau das also, was deutsche Exporteure traditionell auszeichnet: Sie setzen auf stabile Belegschaften, in denen sich individueller Ehrgeiz und kollegiales Verhalten die Waage halten.

Der "Rheinische Kapitalismus" hat gute Überlebenschancen. Deutschlands Exportstärke ist der beste Beleg für diese auf den ersten Blick schräge Behauptung. Aber auch die moderne Volkswirtschaftslehre liefert immer mehr Belege dafür, dass Nationalökonomien nicht so simpel funktionieren, wie es die alten Lehrbücher suggerieren, die zu Studienzeiten der heutigen Lobbyisten und Talkshow-Talker gelesen wurden.

Die "Wirtschaft des Genug" klappt nicht

Vielleicht sollten sich die linken Utopisten an Karl Marx erinnern: Der sah ein "Reich der Freiheit" ohne Wachstum als erstrebenswert an, das allerdings erst durch massive Produktivitätssteigerungen erreicht werden könne " von denen die Welt nach wie vor meilenweit entfernt ist. Vermutlich wäre keiner der Befürworter einer "Wirtschaft des Genug" bereit, unter A13 oder BAT Ib zu fallen (von den neuen Tarifverträgen im öffentlichen Dienst und dem Elend einer E13-Bezahlung sind die altlinken Kritiker ja nicht betroffen). In der Tat wäre auf dieser materiellen Basis ein selbstbestimmtes Leben, das auch noch Spenden für den Tierschutz erlaubt, ohne nennenswertes Wachstum möglich. Aber bis wir weltweit auch nur dieses Niveau ereicht haben, sind noch jede Menge Wachstum und viel kluge Wirtschaftspolitik notwendig. Solange sollten wir uns von den Propheten der "Wirtschaft des Genug" nicht verwirren lassen.

Wolfgang Uchatius schreibt in dem erwähnten Artikel, dass ein garantiertes Grundeinkommen und ein neues Geldsystem aus heutiger Sicht ziemlich realitätsfern wirken. Aber diesen Ideen könne es einmal wie den Zeichnungen ergehen, die Leonardo da Vinci Ende des 15. Jahrhunderts anfertigte: Spiralförmige, an einer langen Stange montierte Scheiben waren darauf zu sehen, und ein rundes Brett, das einer Sitzplatte glich. Diese Skizze, so Uchatius, habe damals wie eine seltsame Fantasterei gewirkt. Fast 500 Jahre lang. Bis zwei Franzosen Anfang der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts den ersten Hubschrauber der Welt bauten. Laut Uchatius sollten wir uns an dieser Erfahrung orientieren: In 500 Jahren mag die Menschheit mit einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle dem erträumten "Reich der Freiheit" deutlich näher gekommen sein als heute.

Doch um das dafür notwendige Produktivitätsniveau zu erreichen, bedarf es vieler kleiner Utopien, ganz wie es schweißtreibender Ingenieursarbeit im Kleinen bedurfte, bevor aus Leonardos Idee ein funktionierender Hubschrauber wurde. Genau deshalb sollte die Linke auf den utopischen Charakter der "Kleinarbeit" hinweisen " und wieder anfangen, den Menschen zu helfen.

Sicher, wer Wahlen gewinnen will, muss neben "technokratischer" Regierungsarbeit zu einem gewissen Grad auch Utopien liefern. Aber wenn man nach vorne blickt, gibt es derer genug. Neben der weltweiten Zähmung der Finanzmärkte bedarf zum Beispiel auch eine konjunktursensible Finanzpolitik "institutioneller Fantasie". Anstatt einfach zu behaupten, Konjunkturpolitik müsse immer schief gehen, könnten junge Politiker über Regeln nachdenken, die Arbeitslosigkeit systematisch dämpft.

Oder - um ein ganz anderes Feld zu nennen: Wir brauchen bessere Regeln zur Prävention und zur Absicherung von Naturkatastrophen. Auch bei diesem Thema ist gestalterische Fantasie gefragt. Denn gegen steigende Meeresspiegel und verheerende Wolkenbrüche helfen weder Schwundgeld noch ein garantiertes Grundeinkommen. Helfen könnte hingegen eine umfassende "Elementarschadenversicherung", die Anreize zur Prävention setzt und Schäden kompensiert. Klar: Der Begriff "Elementarschadenversicherung" ist keine Utopie, mit der man Wahlen gewinnen kann. Aber dafür sind Politiker schließlich da: dass sie in einfachen Worten erklären, was sie als sachlich richtig erkannt haben - und die Bürger schließlich überzeugen.

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