Konjunkturprogramme für Praktiker

In Deutschland neigen Regierungen traditionell dazu, Auf- und Abschwünge zu verstärken statt abzufedern. In der jetzt einsetzenden schweren Krise hätte dies katastrophale Folgen. Angezeigt ist konstruktive politische Ökonomie

Selten hat sich binnen so kurzer Zeit die Wahr- nehmung der Wirtschaftslage in Deutschland so dramatisch geändert wie im Verlauf des Jahres 2008 – und damit auch die wirtschaftspolitische Debatte im Land. Noch bis in den Spätsommer hinein hieß es, die deutsche Wirtschaft sei so robust, dass sie keine Konjunkturstütze brauche, zumal solche Programme ohnehin Teufelszeug seien. Dann mehrten sich Rezessionssignale und Meldungen über Konjunkturpakete überall auf der Welt. Und nun plötzlich ist auch in Deutschland überall davon die Rede – selbst bei Forschungsinstituten und Bundesregierung. Sogar der Sachverständigenrat fordert ein Konjunkturprogramm!

Der Haken ist: Besonders ausgereift wirken die Vorschläge nicht. Kein Wunder: Nach drei Jahrzehnten, in denen Konjunkturpolitik in Deutschland tabu war und darüber weder geforscht noch politisch nachgedacht wurde, gibt es kaum Vorlagen, wie solche Programme in Notfällen aussehen sollten und wie man sie politisch in die Tat umsetzt. Wie erkennt man Abschwünge möglichst früh? Welche Maßnahmen wirken am schnellsten? Wie wird gewährleistet, dass das Geld in besseren Zeiten wieder hereinkommt? Auf diese Fragen haben die deutschen Ökonomen zumeist keine konstruktive Antwort mehr zu bieten – dafür umso ätzendere Kommentare über Konjunkturpakete, die angeblich immer nur „Strohfeuer“ produzieren.

Neuere Forschungsergebnisse entlarven derartige Pauschalurteile als Vorurteile. Soeben erst hat der Internationale Währungsfonds (IWF) die weltweiten konjunkturpolitischen Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte ausgewertet und kommt zu dem Ergebnis, dass es neben einigen gescheiterten Experimenten auch viele erfolgreiche gab. Aus denen kann man lernen – sofern man das will. Auch aus der deutschen Wirtschaftsentwicklung seit 2001 lässt sich der Schluss ziehen, dass der Zustand von Unternehmen und Arbeitsmarkt stärker von einer guten Konjunktur abhängt als nur von Strukturreformen; und dass Regierungen dazu beitragen können, konjunkturelle Abwärtsspiralen zu bremsen – auch im Interesse künftiger Generationen, die das Ausufern solcher Krisen bezahlen müssten. Die Frage ist dann nicht mehr, „ob“ Konjunkturpolitik sinnvoll ist, sondern „wie“ sie aussehen sollte. Auch wir haben hier kein fertiges Regulierungsregime für eine bessere, konjunktursensitive makroökonomische Politik anzubieten. Im günstigsten Fall, so hoffen wir, können wir im Folgenden dazu anregen, in der Wissenschaft und in den Stäben der Ministerien viel tiefer zu bohren.

Die Konjunktur ist nicht unbeeinflussbar

Man kann der akademischen Konjunkturanalyse wie der praktischen Konjunkturpolitik in der Tat vorwerfen, dass sie bezüglich der politischen Ökonomie nicht übermäßig kreativ war. Nur haben die Gegner des Keynesianismus aus diesem polit-ökonomischen Regelungsdefizit, das beispielsweise zum Aufbau der hohen Staatsverschuldung in den siebziger und achtziger Jahren beigetragen hat, vorschnell geurteilt, dass die Konjunktur nicht beeinflussbar sei; oder dass sie sogar ohnehin irrelevant sei. Beide Thesen kann man mit Fug und Recht bezweifeln. Hinter der konjunkturpolitischen Abstinenz verbergen sich, so behaupten wir, schlichte polit-ökonomische Analyse- und Gestaltungsdefizite.

Ein Grundproblem liegt darin, dass in Deutschland Regierungen mangels konjunkturpolitischer Konzepte spontan dazu tendieren, Auf- und Abschwünge eher zu verstärken als abzufedern. Ein Teil dieser Reaktionsmuster ist in Deutschland institutionell sogar angelegt, ob durch enge Defizitregeln oder durch Sozialsysteme, die aufgrund fehlender Rücklagen ihre Beitragssätze prozyklisch gestalten. Wenn etwa die Rentenkassen konjunkturbedingt unter Druck geraten, werden reflexartig die Beiträge angehoben, was der Konjunktur ja nicht unbedingt zuträglich ist.

Prozyklische Einflüsse verringern

Ein wichtiger Baustein für eine neue Konjunkturpolitik wäre daher, prozyklische Einflüsse in den bestehenden Regelwerken zu verringern. Dazu gehört, dass sich die Finanzpolitik weniger an Defizitzielen orientieren sollte, weil sie diese gar nicht steuern kann und am Ende meist kippen muss, wie es gerade mit dem Nulldefizit-Ziel 2011 geschah. Vor ein paar Jahren musste Hans Eichel sein gleichlautendes Ziel für 2006 ebenfalls wegen einer abrupt verschlechterten Konjunktur kippen. Besser wären Vorgaben für das Wachstum jener Ausgaben, die eine Regierung (anders als etwa das Arbeitslosengeld) tatsächlich kurzfristig beeinflussen kann. Alle Ausgaben und Einnahmen, die konjunkturbedingt schwanken, könnten dann weiter schwanken, was im Abschwung die Funktion automatischer Stabilisatoren hätte. Das wäre auch eine Gewähr dagegen, dass bei jeder schlechter ausfallenden Steuerschätzung gleich Rufe laut werden, diese Steuerausfälle möglichst sofort durch hektisches Kürzen oder höhere Steuern und Abgaben aufzufangen. Für Investitionen und Bildungsprogramme könnten Ausgabenpfade definiert werden.

Ähnliches gilt für die Sozialkassen, die in Deutschland seit zwei Jahrzehnten stark prozyklisch wirken. Sinnvoll wäre es, die Schwankungsreserve der Gesetzlichen Rentenversicherung tatsächlich schwanken zu lassen. Wenn die Reserve zu niedrig ist (weil sie für andere Zwecke benutzt wurde, was man ja in der realen Welt nie ausschließen kann), müssen auch konjunkturelle Defizite, also eine Kreditaufnahme der Rentenversicherung hingenommen werden. Wenn man diese nicht offen ausweisen will, da dadurch die Rentenversicherten beunruhigt würden, muss die Bundesregierung den „Bundeszuschuss“ entsprechend aufstocken. Wenn sie zu diesem Zweck Kredite aufnehmen muss, dann ist das konjunkturpolitisch sinnvoll.

Es wäre auch sinnvoll festzulegen, wie hoch die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung strukturell liegen sollten, also unter Ausschluss konjunktureller Einflüsse. Sonst besteht, wie derzeit, die Gefahr, dass im Boom höhere Einnahmen der Bundesagentur zum Anlass genommen werden, die Beitragssätze stärker zu senken, als es bei normaler Konjunktur vertretbar wäre – mit dem Risiko, dass die Beiträge im nächsten Abschwung dann ebenso prozyklisch wieder angehoben werden müssen.

TTT: timely, temporary, targeted

Einiges spricht mittlerweile dafür, dass es in kritischen Situationen über automatische Stabilisatoren hinaus sinnvoll sein kann, die Konjunktur ganz aktiv zu stützen. In krisenhaft zugespitzten Situationen wie gegenwärtig können Konjunkturpakete effizient sein, fanden die IWF-Ökonomen in ihrer Analyse heraus – am besten dann, wenn sie zeitig einsetzen, gezielt wirken und befristet sind. Im Amerikanischen sind das die drei T: timely, temporary, targeted. Es gibt wenige Gründe, warum dies nicht auch in Deutschland funktionieren sollte.

Für befristete Maßnahmen spricht, dass Unternehmen wie Verbraucher in diesem Fall stärker dazu animiert werden, Ausgaben auch tatsächlich vorzuziehen, damit diese genau in dem Moment die Konjunktur stützen, in dem sich eine Abwärtsspirale zu entwickeln droht. Dafür spricht auch, dass die Staatsfinanzen dann auch nur für einen begrenzten Zeitraum belastet werden. Beispiele wären eine befristete Senkung der Mehrwertsteuersätze oder die befristete Verbesserung von Abschreibungsbedingungen. Denkbar sind auch Steuerschecks, die per Definition nur einmal verschickt werden.

Was eine gezielte Maßnahme ist, dürfte dagegen stark vom Einzelfall abhängen. Wahrscheinlich war das Verschicken von Steuerschecks in den Vereinigten Staaten 2008 noch zu wenig gezielt, da die Probleme stark auf einzelne Sektoren und Häuslebauer konzentriert waren. In Deutschland könnte das gleiche Instrument angesichts der hier sehr tief sitzenden Konsumflaute das bessere Mittel sein. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass ein Teil des Geldes für ausländische Waren ausgegeben werden könnte; die Deutschen profitieren umgekehrt ja auch von US-Konjunkturpaketen. Von Vorteil wäre auch, wenn solche Konjunkturmaßnahmen zugleich strukturelle Ziele fördern, wie das bei Investitionen in Klimaschutz, der Förderung von klimafreundlichen Ausgaben (etwa für Solaranlagen) oder Bildung der Fall wäre. Bei Klimaschecks, also zweckgebundenen Schecks vom Staat, wären gleich mehrere der genannten Kriterien erfüllt: Das ließe sich schnell umsetzen, wäre befristet und auch strukturell positiv.

Warum Automatismen von Vorteil sind

Bis dato wird all dies eher ad hoc erfüllt – oder auch nicht. Zu einer neuen Konjunkturpolitik könnte daher auch gehören, bessere Warnmechanismen einzuführen, die Abwicklung von Hilfen zu beschleunigen und im Zweifel sogar zu automatisieren. Amerikanische Ökonomen wie der frühere Reagan-Berater Martin Feldstein schlagen vor, gewisse Konjunkturhilfen vorab zu beschließen und sie dann sofort einsetzen zu lassen, wenn zum Beispiel die Arbeitslosigkeit in einer bestimmten Zahl von Monaten hintereinander steigt. Solch ein System befürworten auch die IWF-Ökonomen. Zum Beispiel könnte in konjunkturellen Abschwüngen automatisch die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld erhöht werden. Oder es könnten automatisch Steuerschecks verschickt werden. Der Vorteil solcher Automatismen: Es ließe sich auch festlegen, wann und wie die Maßnahmen wieder abgebaut würden. Im Aufschwung könnte so besser als bisher garantiert werden, dass die Staatsdefizite wieder sinken.

Für ein operatives Expertengremium

Die IWF-Experten begegnen auch dem Einwand, dass es schwerfallen könnte, genaue Kriterien dafür festzulegen, ab welchem Krisensignal dieser oder jener Automatismus einsetzen soll. Darüber könne ein unabhängiges, aber operativ in die Regierung möglichst stark eingebundenes Gremium aus Experten befinden. Dessen Aufgabe wäre, möglichst früh Krisensignale auszumachen und zu analysieren, welche konjunkturpolitischen Mittel in der jeweiligen Lage am besten helfen. In Deutschland sollte der Sachverständigenrat diese Aufgabe einmal erfüllen. Da er aber von der Regierung unabhängig ist (was ihm eine „Wächterfunktion“ überträgt), konnte er nie operativ wirksam werden. Dafür bräuchte man ein neues Gremium oder eine Änderung der gesetzlichen Grundlagen des Sachverständigenrates.

Dieser Text ist eine teils gekürzte, teils gezielt erweiterte Version unseres Beitrags „Warum Makroökonomie und Fiskalpolitik der Politischen Ökonomie bedürfen“ in der Festschrift für Jürgen Kromphardt (hrsg. von Gustav A. Horn, Harald Hagemann und Hans-Jürgen Krupp, Marburg: Metropolis Verlag 2008).

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