Tränen fließen, Menschen tanzen

Und die SPD sucht dringend jemanden mit coolem Seitenscheitel und grauen Haaren

Mit großem Aufwand war der Wahlabend des 27. September im Willy-Brandt-Haus vorbereitet worden. Mehr als 1.500 Journalisten, Parteimitglieder und Gäste hatten sich zur Wahlparty angekündigt, alle großen Sender hatten Studios aufgebaut. Das Atrium unter der schützenden Hand Willy Brandts hatte sich schnell gefüllt, und die Anwesenden übertrafen sich gegenseitig in den Erwartungen über eine Aufholjagd der SPD, wie sie schon in den letzten Wahlkämpfen 2002 und 2005 gelungen war.


Entsprechend still wird es in der Parteizentrale mit der Veröffentlichung der ersten Hochrechnungen um 18 Uhr. Das historische Tief der SPD wird noch mit Schweigen kommentiert, das verheerende Ergebnis der SPD in Schleswig-Holstein dann schon mit einem Raunen. Und als die Linkspartei in Brandenburg den ersten Zahlen zufolge auch noch gleichauf mit der SPD liegt, stöhnen viele deutlich hörbar.

„Ich brauche einen neuen Job“

„Autsch!“, „Das tut weh“ und „bittere Enttäuschung“ – so lauten die ersten Kommentare. Auch Stimmen wie „Oh Gott, jetzt kommen die Linken“ machen schon die Runde, bevor Frank-Walter Steinmeier und Franz Müntefering im Atrium vor die Journalisten und die Gäste treten. Erst nach dem merkwürdig frenetischen Applaus, der den obersten Wahlkämpfern zuteil wird, begreift man im Willy-Brandt-Haus nach und nach das Ausmaß des Debakels: „Ich brauche einen neuen Job“, bemerkt die Mitarbeiterin eines Bundestagsabgeordneten knapp. Diesen Satz werden wir in dieser Nacht noch häufiger hören. Ein langjähriger Anhänger und Wahlkämpfer der Partei raunt gar ominös, es werde viele Jahre brauchen, „um das verloren gegangene Vertrauen wiederzugewinnen“.


Am Ende wird der Sekt ungeöffnet wieder weggefahren. „Die trinken hier alle Kummerbier“, antwortete eine Servicekraft ihrem Chef auf die Frage: „Wie läuft es so?“

Das Brandenburger Ergebnis spendet Mut

Die Politkneipe Wahlkreis überträgt den Wahlabend aus einem S-Bahn-Bogen im Wein Habel . Im Bogen nebenan feiern die Jungen Liberalen – gelb, laut und blau. Wer mag es ihnen verdenken? Im Wahlkreis sind heute vornehmlich Sozialdemokraten. Die Stimmung ist auch hier gedrückt. Erste Analysen machen die Runde: „Es fehlte die Machtoption.“ – „Die Große Koalition hat sozialdemokratische Politik gemacht, aber wir konnten das nicht vermitteln.“


Viele telefonieren in die Wahlkreise, um zu erfahren, ob ihre Kandidaten den Einzug geschafft haben. Das Resultat ist häufig ernüchternd. Tränen fließen. Bald wird der Fernseher stumm gestellt und die Musik angemacht. Menschen tanzen. Am Ende des Abends spendet das Ergebnis aus Brandenburg Mut. „Wohlgemerkt, das ist ganz ohne Linksruck der Partei zustande gekommen“, sagt ein SPD-Wähler.


Am Montag nach der Wahl wollen wir in ein paar Berliner Kneipen wissen, wie die Wahl ankam. Wir sind im Alt-Berlin. Viele junge und einige ältere Menschen treffen sich in dieser typischen, dunklen Berliner Pinte. „1,8 Millionen Menschen haben ihren Arsch nicht hoch bekommen!“ Hans, 32 Jahre alt, SPD-Mitglied in Berlin-Mitte findet die niedrige Wahlbeteiligung skandalös. „Die SPD hat versucht, mit am Tisch der Großen zu sitzen und jetzt machen es die Reichen unter sich aus“, sagt er. Hans ist überzeugt, dass das Thema Hartz IV ein Grund für die Wählerflucht der SPD ist. Es gebe zwar welche, die es sich, ohne je gearbeitet zu haben, bequem als „Hartzer“ eingerichtet hätten. Aber die SPD müsse „dafür stehen, dass die Klassen sich vertragen“ und einige Härten der Reform revidieren. Hans hat in den Wochen davor seine ersten Wahlkampferfahrungen gesammelt und meint, dass sich die SPD von der Linkspartei einiges abschauen könnte: „Die Linken gehen im Weinbergspark auf die Jungs mit Joint zu. Auch die SPD muss sich wieder trauen, auf alle zuzugehen.“


Im Hinterzimmer treffen wir Karoline (36) und Marianne (38). Beide kommen gerade vom Elternabend und trinken noch ein Bier zusammen. „Meine Frisörin wählt FDP – fürchterlich“, sagt Karoline. „Ich wähle SPD, weil ich denke, das muss man.“ Vom Ergebnis der Wahl sind beide geschockt. Karoline wird „ganz schlecht“, wenn sie daran denkt, dass Westerwelle jetzt Außenminister wird. „Was sollte die SPD jetzt tun?“, fragen wir die beiden. „SPD und Grüne sollen zusammengehen, die verstehen sich doch super“, sagt Karoline. Ihr Fazit: „Es muss in der SPD jemanden geben für die Helmut Schmidt-Wähler und die Johannes Rau-Wähler.“ Marianne pflichtet ihr bei: „Ja, mit coolem Seitenscheitel und grauen Haaren.“

Ist Müntefering der Favre der SPD?

Uwe ist überzeugter Ossi, wohnt seit 50 Jahren in Mitte, hasst Kommunisten und schmeißt mit seiner Schwester Romy die Schnelle Quelle. Am Wahlsonntag hatte er geöffnet, „schließlich spielte Hertha“. Und wenn es politisch wird?  „Auch die SPD muss einen Trainerwechsel machen – Münte muss gehen.“ Was sagt er zum schlechten Abschneiden der SPD? „Gut so. Ick wähl die Leute, die was für mich tun.“ Außerdem habe die SPD jetzt mal „Zeit, darüber nachzudenken, was eine Volkspartei ist“.  Uwe ist überzeugt: „Die FDP ist für den Mittelstand. Dit könnte ick von A bis Z aufzählen.“ Wir bekommen noch ein Bier. „Vor allem dit mit dem Nichtraucherschutz is’n Thema, und was heißt schon sozialer Ausgleich? Deutschland ist dit einzige Land, wo du jahrelang als Parasit leben kannst.“


Hinten im Raum sitzen noch ein paar Erstwähler. Sie kommen aus München und sind auf Kursfahrt. In ihrer Klasse hatten sie eine Probeabstimmung. Das Ergebnis: „40 Prozent Piratenpartei“. Marius (19), Reimund (18) und Ferdinand (18) haben aber alle SPD gewählt, mindestens mit der Erststimme. Leider hätten die Parteien die Jugendlichen im Wahlkampf zu wenig angesprochen, meint Ferdinand. „Wenig Umwelt. Und Bildung wurde total ausgespart.“

Starke Sprüche vor der Bettruhe

Reimund meint, dass die SPD zwar „die soziale Schiene verraten“ habe. Das sei aber auch total notwendig gewesen. Ihn beeindrucken Politiker, die ein Thema durchhalten. Der nächste Wahlkampf der SPD müsse aggressiver werden, rät Hannes (19). Marius pflichtet ihm entschlossen bei: „Ja, bloß nie wieder so einen Softie-Wahlkampf. Jetzt müssen wir aber gehen, gleich ist Bettruhe.“

WILLY-BRANDT-HAUS – Wahlabende zu allen Landtagswahlen und Bundestagswahlen – Wilhelmstraße 141 – 10963 Berlin – Nächster Wahlabend: 9. Mai 2010 (Landtagswahl in NRW)
ALT BERLIN – Bierstube – Münzstraße 23 – 10178 Berlin-Mitte
SCHNELLE QUELLE – Kneipe – Rosa-Luxemburg-Straße 5 – 10178 Berlin Mitte
WAHLKREIS – eigentlich Politkneipe, derzeit ohne Stammsitz – Newsletter unter: www.wahlkreis.com
HABEL WEINKULTUR AM REICHSTAG – Restaurant und Weinhandlung – Luisenstraße 19 – 10117 Berlin 

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