Das Tor macht weit

EDITORIAL

Am 10. Oktober dürfte die Einschaltquote der heute-Nachrichten deutlich höher gewesen sein als üblich. Ausgestrahlt wurde die Sendung nämlich in der Halbzeit des mit Spannung erwarteten Spiels der deutschen Nationalmannschaft gegen Russland. Erst unterzeichnete Polens Präsident Kaczynski doch noch den EU-Vertrag. Dann wurde ein verstörender Bericht eingespielt, der eine wirre Ansammlung aufgebracht agitierender, wild fuchtelnder und aufeinander einteufelnder Menschen zeigte. Sie schrien „Verräter“ und bezichtigten sich gegenseitig, „Anarchie und Putsch“ zu betreiben. Man sieht solche Bilder manchmal im Fernsehen, wenn Sitzungen ukrainischer oder südkoreanischer Parlamente aus dem Ruder laufen. Aber der Bericht stammte gar nicht aus Kiew oder Seoul, sondern aus dem beschaulichen Erfurt. Vorgeführt wurden Szenen einer Zusammenkunft Thüringer Sozialdemokraten, die der dortige Landesvorsitzende, tapfer lächelnd, als „knallharten Machtkampf innerhalb der SPD“ charakterisierte. „So sind sie wohl, die Sozis“, mag dem einen oder anderen Fußballfreund noch vage durch den Kopf gegangen sein, bevor in Moskau die zweite Halbzeit angepfiffen wurde. Bei der Bundestagswahl zwei Wochen zuvor hatten sich gerade noch 23 Prozent der Wähler für die SPD entschieden.

Erfurt ist nur ein Beispiel. Es fällt auf, dass sich in Analysen der Gründe für das Fiasko, das die SPD bei der Bundestagswahl erlebte, immer wieder der Begriff der „Hermetik“ findet. In den vergangenen Jahren hätten die deutschen Sozialdemokraten zunehmend „hermetisch“ agiert, notieren verschiedene kluge Beobachter wie etwa Bernd Ulrich in der ZEIT oder Dieter Rulff in dieser Ausgabe der Berliner Republik. Dem Lexikon zufolge bezeichnet die Kategorie der Hermetik „eine in der Antike wurzelnde religiöse Offenbarungs- und Geheimlehre ... Im weiteren Sinn ist ,Hermetik‘ ein Synonym für Alchemie und okkult-esoterische Lehren überhaupt“. Das Adjektiv „hermetisch“ wiederum wird verwendet, wenn von „technischen Verfahren der Abdichtung“ beziehungsweise „mit solch einem Verschluss versehenen hermetisch geschlossenen Systemen“ die Rede ist.

Allzu holzschnittartige Vorstellungen vom Parteienwettbewerb besagen, dass sich in der Machtausübung verschlissene Parteien anschließend in der Opposition erholen und revitalisieren. Solche Parteien strecken dann mutmaßlich ihre Fühler endlich wieder in die Gesellschaft hinein aus, um anschließend mit frischen Gestaltungsideen und einer Vielzahl neuer Bündnispartner unter großem öffentlichen Zuspruch erneut in die Regierungsverantwortung zu drängen. So zyklisch kann Parteiengeschichte verlaufen, wahrscheinlich ist dies im Fall der deutschen Sozialdemokratie nicht. Im Gegenteil: Diese Partei wird (wie manche ihrer europäischen Schwestern) überhaupt nur dann jemals wieder politischen Gebrauchswert erlangen, wenn sie den Kreislauf der Selbstbezogenheit entschlossen durchbricht, in dem sie zu versinken droht. Allein aus dem geschlossenen System dieser Partei heraus wird keine Erneuerung mehr gelingen. Wer jetzt nicht energisch alle Tore und Türen aufreißt, wird schon bald kein Haus mehr haben. Von der Hermetik zum Autismus ist der Weg nicht weit.

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