Die Aktivisten Bahr und Modrow weisen den Weg!

Jürgen Neumeyer isst und trinkt mit Stefan Liebich, Bundestagsabgeordneter der Linken und Sprecher des Reformflügels seiner Partei, in der "Salumeria Delizie D’Italia", Kollwitzstraße 100, Prenzlauer Berg (Montag bis Sonnabend 12 bis 24 Uhr)

Einmal nahm der Bundestagsabgeordnete Jan Korte seinen Genossen Stefan Liebich mit in die Salumeria Delizie D’Italia – und schon hatte sich Liebich in das Restaurant „verliebt“. Seither genießt er das „klassische italienische Ambiente mit den rot-weiß karierten Tischdecken, dem sehr guten Essen und dem guten Hauswein, von dem man am Morgen danach keinen Schädel hat“. Liebich kann hier aus Erfahrung „alles“ empfehlen und wählt schnell von der Tageskarte.

Ohne Umschweife, allerdings auch ohne sofortigen Drang zum parteiübergreifenden Genossen-Du, einigen wir uns auf einen gemeinsamen Vino Rosso della Casa (0,5 Liter für 8,90 Euro). Oliven, Weißbrot und ein frischer, sehr schmackhafter Salat kommen umgehend. Begrüßt werden wir von Wirtin Rita Scarano auf Italienisch. Gemeinsam mit ihrem Mann führt sie das Restaurant seit 12 Jahren. Italienisch ist auch die Arbeitssprache in der Küche, an der Bar und der Vorspeisenstation. Die meisten Mitarbeiter kommen aus der Gegend von Caserta bei Neapel.

„Hierher kann ich problemlos Gäste mitnehmen, egal ob privat oder politisch“, versichert Stefan Liebich. Da er schon dreimal im Prenzlauer Berg für den Bundestag kandidiert hat, ist er allerdings schon länger „nicht mehr so anonym hier“ – schließlich hängen seine Plakate im Kiez alle vier Jahre an allen Ecken. 2009 und 2013 hat er den Wahlkreis direkt gewonnen.

Vor dem Hauptgang erklärt mir Liebich den Werdegang seines Flügels innerhalb der Linkspartei. Anfang Dezember ist er zum Sprecher des „Forums demokratischer Sozialismus“ gewählt worden. Das ist derjenige Teil der Linken, in dem sich die so genannten Reformer versammeln. Am Aufbau dieses Flügels hatte Liebich maßgeblichen Anteil. Als Startpunkt benennt er den Geraer PDS-Parteitag im Jahr 2002. Die Partei war soeben mit gerade noch vier Prozent aus dem Bundestag geflogen, und nun standen „die üblichen Abrechnungen“ an. Erstmals seien in Gera „die Reformer in der Minderheit“ gewesen. Streitpunkt war damals schon die ewige „Frage des Regierens“.

Liebich erinnert sich gut an den „Moment auf der Treppe“ während des Parteitages, als sich die Reformer sammelten und zu einem „organisierten Kern“ formierten. Maßgeblich dabei sei der aus jungdemokratischen Zeiten organisationspolitisch geschulte Benjamin-Immanuel Hoff (Kampfname „Uljanow“) gewesen. Fünf Jahre später gründete sich das Forum noch einmal neu. Stefan Liebich verschickte einen Aufruf, dem er ein Zitat von Christa Wolf voranstellte: „Stell Dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg.“ Das ungefähr ist die Idee.

Meine angelesenen Vorstellungen von den Reformern im Osten und den Fundis im Westen korrigiert Stefan Liebich mit behutsamer Dialektik: Das sei „wahr und falsch“. Auch im Westen gebe es sehr wohl „engagierte Kommunalpolitiker, die vernünftige Politik machen“. Etliche von denen seien ja aus den Gewerkschaften und der SPD gekommen, hätten dort langjährige Erfahrungen gesammelt und seien bloß von Gerhard Schröders Politik enttäuscht gewesen. Umgekehrt gebe es auch ostdeutsche „radikale Kräfte“. Aber klar sei jedenfalls, dass das Fundament der Linken weiterhin im Osten liege, wohlgemerkt auch was die Beitragseinnahmen angehe. Mit Sorge verfolgt Liebich dabei freilich die Altersentwicklung seiner Partei: „65 Prozent der Mitglieder sind über 65 Jahre alt.“

Wenn andere berichten, innerhalb der Linkspartei sei „wegen der Flügel“ immer alles ganz furchtbar schwierig, dann widerspricht Stefan Liebich. Dies sogar, wenn es Mitglieder der obersten Parteispitze sind, die solche Sachen immer wieder mal behaupten. „Die Aufgabe von Strömungen ist es nun einmal, Konflikte transparent zu machen“, findet Liebich. Und deshalb arbeitet sein Forum nicht anders, als es auch in anderen – zum Beispiel sozialdemokratischen – Parteien üblich ist: regelmäßige Treffen, Newsletter mit thematischen Schwerpunkten, einfache Abstimmung mittels sozialer Netzwerke sowie gemeinsame Delegiertenvorbesprechungen am Rande von Parteitagen. Das klingt alles nicht völlig fremdartig.

Das Bistecca con porcine (Rumpsteak mit Steinpilzen für 21,90 Euro) kommt mit Ofenkartoffeln und Gemüsen der Saison, diesmal Spinat. Vorzüglich! Den Koch lerne ich heute nicht kennen, doch Stefan Liebich weiß, dass er eine Stimme hat „wie Marlon Brando in Der Pate“. Es ist Freitagabend und innerhalb einer halben Stunde sind alle 70 Plätze besetzt. Wer nicht reserviert hat, muss wieder gehen, Stammgäste inbegriffen. Signora Scarano erklärt das Erfolgsrezept: „Echte italienische Küche!“ Dann ringt sie ein wenig die Hände und klagt, dass die meisten „Italiener“ in der Umgebung in Wahrheit von echten Albanern geführt würden. Für die echten Italiener mit der echten italienischen Küche sei das ein Problem – eine These, die angesichts des durchschlagenden Erfolgs ihres eigenen Lokals nicht rundum einleuchtet.

Auch Stefan Liebich ärgert sich ein bisschen. Nämlich über die Große Koalition, die er im Übrigen „auch strategisch nicht so schlau“ findet. Er hat den Eindruck, dass sich die SPD zu wenig bewegt. Immerhin: Mit dem Leipziger Öffnungsbeschluss der Sozialdemokraten ist er zufrieden, der sei „gut formuliert“ und habe endlich ein Tabu gebrochen. Stabile Regierungsmehrheiten findet Liebich genauso richtig wie Koalitionsverträge mit finanzierbaren Vorhaben. Und auch eine verantwortungsvolle Europa- und Außenpolitik möchte er: „Wir sind nicht gegen den Euro“, so viel sei mal sicher. Andere Ansichten, fügt er mit Blick auf Oskar Lafontaine hinzu, hätten da „klar verloren“.

Und wie hält er es mit der ewigen Frage von Krieg und Frieden? „Ich bin kein Pazifist“, versichert Liebich. „Und wir sind keine pazifistische Partei.“ Allerdings: Die Außen- und Sicherheitspolitik, das sei natürlich schon „das dicke Brett“, das noch zwischen Linken und Sozialdemokraten stehe. Wenn es denn irgendwann mal klappen solle mit einer Koalition, dann müsse das vorher gründlich angebohrt werden. „Sonst können wir zwar Glück haben, und vier Jahre passiert vielleicht nichts“, aber weil das nun einmal unrealistisch sei, bedürfe es vorab Klärungen über UN-Einsätze und vieles mehr.

Mit Blick auf seine eigene Partei wünscht sich Liebich auf diesem Weg erfreulicherweise ein Diskussionsklima, „bei dem sich die SPD nicht täglich bei uns für die Kriegskredite von 1914 entschuldigen muss“. Einstweilen wäre schon viel gewonnen, findet er, wenn künftig zwischen Sozialdemokraten und Linken auf vielen Ebenen viel mehr Gespräche geführt würden als bisher. Egon Bahr und Hans Modrow hätten ja vorgemacht, wie es geht.

Es gibt tatsächlich noch eine Menge zu besprechen. Doch irgendwann verweigert Stefan Liebich charmant den dritten Wein; der Abend zuvor sei lang gewesen. Dem Charme von Rita Scarano hingegen widersteht er nicht: Zum Abschluss bekommen wir einen (sehr milden) Grappa aufs Haus eingeschenkt. Gleichsam als Trinkspruch formuliert Liebich einen offensichtlich wahren Satz dazu: „Wenn uns die Sozialdemokraten jetzt Sondierungsgespräche angeboten hätten, hätte uns das in eine schwierige Lage versetzt.“ Eine rot-rote Toskana-Connection könnte helfen, die Lage künftig zu entspannen. Stefan Liebich wäre dabei ein exzellenter Tischgenosse. Wenn der angenehm anregende Abend mit ihm im Delizie D’Italia eines erwiesen hat, dann dies.


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