Springprozession nach Guantánamo

Mehr Härte angesichts möglicher terroristischer Angriffe? Mehr staatliche Gewalt? Auf gar keinen Fall! Der freiheitliche Rechtsstaat habe seine Prinzipien zu wahren. Das bleibe das oberste Gebot für den erfolgreichen Kampf gegen den Terrorismus, meint unser Autor

In der Bundesrepublik wird Sicherheitspolitik nach der Echternacher Springprozession betrieben – und das, obwohl diese seit der Aufklärung einen äußerst schlechten Ruf hat. Sie geriet von staatlicher, ja sogar von geistlicher Seite derart in die Kritik, dass der Erzbischof von Trier den Gläubigen die Prozession im Jahr 1777 untersagte. Begründung: Sie sei „nicht vernünftig“. Nach der Französischen Revolution wurde die Springprozession ganz unterbunden, Napoleon ließ sie dann aber wieder zu. Das nicht enden wollende, chaotische Hin- und Herspringen in Echternach, begleitet von anfeuernder Musik, konnte erst 1947 gebremst werden. Seitdem hüpfen die Pilger wenigstens in halbwegs geordneten Polkaschritten und übersichtlichen Reihen durch die Straßen der kleinen Luxemburger Stadt.

Die bundesdeutsche Innenpolitik funktioniert ganz ähnlich: Experten der unterschiedlichen Sicherheitsbehörden entdecken eine gravierende Sicherheitslücke, die das Schlimmste für die Sicherheit des Gemeinwesens befürchten lässt. Sodann wird der Staat, der die öffentliche Ordnung und Sicherheit eigentlich schützen will, als wehrlos gegenüber der Organisierten Kriminalität oder dem islamistischen Terrorismus bezeichnet. Vermutungen werden angestellt, Indizien präsentiert, Gefahrenszenarien entworfen – bis der Bundesinnenminister es wagt, das Undenkbare zu denken. Spätestens jetzt setzt ein anschwellender Alarmismus von rechts ein, der in einen geübten Choral übergeht, in dem nacheinander schärfere Strafgesetze, neue Straftatbestände, mehr Aufgaben und erweiterte Befugnisse für die Sicherheitsbehörden sowie deren Zentralisierung verlangt werden. Schließlich tritt der Bundesinnenminister vor den Chor und präsentiert a cappella neue Gesetze, die tempo allegro durch das Parlament gepeitscht werden.

Nicht selten entfernt sich der Gesetzgeber dabei drei Schritte von den Grenzen der Verfassung, bevor er anschließend vom Bundesverfassungsgericht wieder zwei Schritte zurückgezerrt wird. Diese Echternacher Springprozession war zuletzt zu beobachten bei der akustischen Wohnraumüberwachung, beim Luftsicherheitsgesetz, bei der Rasterfahndung sowie der Online-Durchsuchung, die im nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzgesetz vorgesehen ist. So gerät die Terrorismusbekämpfung in Verruf.

Staatlich organisierter Hausfriedensbruch

Auch bei der Online-Durchsuchung war dem Landesgesetzgeber eigentlich klar, dass Verfassung und höchstrichterliche Rechtsprechung an Gesetze präzise Anforderungen stellen. Grundrechtseingriffe müssen so gestaltet werden, dass Sicherheit und Freiheit in einer Balance bleiben. Dazu zählen auch Eingriffe in den Schutzbereich der persönlichen Lebensgestaltung, in das informationelle Selbstbestimmungsrecht oder in den grundgesetzlichen Schutz der Wohnung. Bislang durften Wohnungen nur mit Richtervorbehalt und in Anwesenheit des Betroffenen durchsucht werden, der zudem einen Rechtsbeistand hinzuziehen konnte. Nun soll ein Teil der Wohnung heimlich inspiziert werden können, nämlich die Festplatte des privaten Computers, der sich auf dem häuslichen Schreibtisch befindet. Die Bestimmungen des nordrhein-westfälischen Gesetzes sind so unscharf, dass man darin getrost eine Freigabe zum staatlich organisierten Hausfriedensbruch sehen darf.

Zum Wesen einer Springprozession gehört es eben nicht, die Balance zu halten, sondern diese zu zerstören. In einer aufgeklärten Gesellschaft sollte sie ausgedient haben, schon weil Verfassungsorgane eigentlich vernünftig miteinander umgehen müssen. Doch Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble sieht das anders. Im Quartalsabstand und geradezu flagellantenhaft raunt er den Pilgern neue Stichworte zu, um sie in Ekstase zu versetzen. Als beispielsweise das Bundesverfassungsgericht das Recht auf einen staatlichen „Rettungstotschlag“ (Burkhard Hirsch) verneinte und die verfassungsmäßigen Grenzen benannte, die mit dem Luftsicherheitsgesetz übersprungen worden waren, schlug der Bundesinnenminister noch am Tag des Urteilsspruchs vor, das Grundgesetz entsprechend zu ändern. Dann würden die drei Sprünge nach vorn wieder im verfassungsrechtlichen Rahmen liegen.

Oder nehmen wir das Folterverbot: Im Grundsatz ist Schäuble dafür. Aber wenn andere sich nicht daran halten, will er die unter Folter gewonnenen „Erkenntnisse“ nutzen dürfen. Sollen doch andere springen, wenn wir es nicht dürfen, können oder wollen! Vernünftiger wäre es gewesen, er hätte unsere Bündnispartner daran erinnert, dass die Menschenrechte universell sind – wer den Anspruch hat, die freie Welt zu repräsentieren, darf die Prinzipien des freiheitlichen Rechtsstaates und das internationale Recht nicht außer Kraft setzen.

Die Gefahr lauert überall

Schäuble ist überzeugt, dass ein präventiver Sicherheitsstaat nicht allein auf konkrete Verdachtsmomente setzen kann. Denn die Gefahr lauert ja überall, und auch der heute unbescholtene Bürger kann sich schon morgen als „Gefährder“ entpuppen. Es sei daher besser, zehn Bürger zu beobachten und zu verdächtigen, als auch nur einen auszulassen. Und Schäuble weiß auch, wie: Der Online-Zugriff von Sicherheitsbehörden auf eine vernetzte oder zentrale Datei aller Bundesbürger mit biometrischen Ausweisen bildet den Grundstock für die „Verbrecherdatei“ neuen Typs.

Mit seinen Äußerungen zum Luftsicherheitsgesetz und zur Unschuldsvermutung hat Wolfgang Schäuble die Büchse der Pandora geöffnet, die geradewegs in den dunklen Raum des „Feindstrafrechts“ führt. Die genau kalkulierten Stichworte waren zum einen die gezielte Tötung von Terrorverdächtigen und zum anderen die Internierung von „Gefährdern“, die sich nicht abschieben lassen. Jedoch blieben die Pilger diesmal ruhig, die Springprozession hob nicht an. Das Lamento des Ministers, er sei nicht verstanden worden, fällt auf ihn selbst zurück. Denn der Bundesinnenminister weiß, was er will. Spätestens nach dem Spiegel-Interview, in dem er uns auf die „Dritte Spur“ eines „Feindstrafrechts“ locken wollte, begann selbst das gewogene Publikum zu ahnen, wohin der Minister die Springprozession treiben möchte: in einen rechtsfreien Raum, in dem der Notstand regiert und für den die Chiffre „Guantánamo“ steht.

Dies veranlasste Ortwin Lowack, von 1987 bis 1991 Sprecher der CSU im Deutschen Bundestag, zu einem bemerkenswerten Leserbrief an den Spiegel. Unser Staat, so Lowack, benötige einen Umbau zu mehr Rechtsstaatlichkeit und nicht zu weniger: „Wolfgang Schäuble zeigt das Maß an Überheblichkeit und Arroganz, das ihn auch schon in der Kohl-Ära ausgezeichnet hat. Er sollte endlich abtreten. Er ist tatsächlich eine Gefahr für unseren Rechtsstaat geworden!“

Allerdings trat Schäuble nicht ab, und er steht auch nicht allein da. Schon seit acht Jahren geistert das Konzept des „Feindstrafrechts“ durch die rechtspolitische Diskussion. Der Bonner Ordinarius Günther Jacobs bringt es wie folgt auf den Punkt: „Wer als Person behandelt werden will, muss seinerseits eine gewisse kognitive Garantie dafür geben, dass er sich auch als Person verhalten will. Bleibt diese Garantie aus oder wird sie sogar ausdrücklich verweigert, wandelt sich das Strafrecht von einer Reaktion der Gesellschaft auf die Tat einer ihrer Mitglieder zu einer Reaktion gegen einen Feind.“ Nun sei es die „Aufgabe der Wissenschaft, die Regeln des Feindstrafrechts zu identifizieren und aus dem Bürgerrecht auszusondern“.

Jacobs ist in seiner Zunft kein Einzelfall. Beispielsweise behauptet sich der Rechtsstaat nach Ansicht des Kölner Juristen Otto Depenheuer nicht durch seine liberalen Prinzipien, sondern indem er diese opfert, wenn die Bedrohung groß genug ist. Wolfgang Schäuble hat übrigens die Lektüre von Depenheuers Buch Selbstbehauptung des Rechtsstaats empfohlen.

Wovor schon Johannes Rau warnte

Währenddessen deutet sich in den Vereinigten Staaten eine Rückkehr zur Vernunft an. Die dortige Belebung des „Feindstrafrechts“ kann noch als Affekthandlung nach den Anschlägen vom 11. September 2001 begriffen werden. Doch inzwischen werden immer mehr Stimmen laut, die einem solchen Sonderrecht juristisch und politisch entgegentreten. Sie wollen nicht mehr viele kleinere Übel in Kauf nehmen, um ein vermeintlich großes Übel zu bekämpfen.

Der deutsche Innenminister hingegen entfernt sich immer weiter von einer rechtsstaatlichen Terrorabwehr und vertritt die Theorie und Taktik des kleinen Übels immer forscher. Dabei handelt er nicht einmal unter dem Eindruck verheerender Terror- anschläge, sondern sozusagen präventiv. Mildernde Umstände können nicht geltend gemacht werden. Er glaubt zu wissen, dass auch in Deutschland irgendwann der große Anschlag verübt werden wird. Für diesen Fall spekuliert Schäuble nicht mehr nur auf eine neue Springprozession, sondern gleich auf die große Springflut. Deshalb müssten die rechtsstaatlichen Dämme bereits jetzt verstärkt und erhöht werden.

Auf dem Höhepunkt des RAF-Terrorismus sagte Johannes Rau: „Hüten wir uns vor einem polizeistaatlichen Sonderrecht zur Bekämpfung des Terrorismus!“ Und 1997 warnte er vor Leuten, die mehr Härte, mehr staatliche Gewalt bis hin zu einem Kriegsrecht forderten. Angesichts einer Woge der Hysterie waren das mutige und mahnende Worte. Sie gelten auch heute. Der freiheitliche Rechtsstaat hat seine Prinzipien zu wahren. Das bleibt das erste Gebot für die erfolgreiche Abwehr von Extremismus und Terrorismus.

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