25 Jahre Neue Mitte



Vor fünfundzwanzig Jahren erschien bei Hoffmann & Campe ein Buch, das unter dem Arbeitstitel "Die neue Mitte" verfasst worden war. Es wurde dann publiziert mit dem Titel "Über den Tag hinaus". Als Autor zeichnete niemand Geringerer als der SPD-Parteivorsitzende Willy Brandt, der kurz zuvor als Bundeskanzler zurückgetreten war. Die Rede von der Neuen Mitte, die es in jedem Wahlkampf zu erobern und dann zu halten gelte, stammt also keineswegs von Bodo Hombach, sondern war die Lieblingsformel des Brandt-Vertrauten Klaus Harpprecht.

Ebenfalls vor 25 Jahren erschien ein Buch von Harpprecht (ebenfalls bei Hoffmann & Campe: Deutsche Themen, Hamburg 1974), aus dem klar wird, an welchen historischen Fehlleistungen der Autor den Abstieg der SPD in der Weimar Republik festmacht. In einem Abschnitt über "Die Schwäche der Mitte" schreibt er, dass der Sozialdemokratie "die Zimperlichkeit und Halbherzigkeit", mit der sie die Veränderung der Verhältnisse vornahm, "mit einem besseren Wort: ihre Humanität", keiner lohnte. Sie verspielte die Mobilisierung der Mitte, weil sie kraftlos und umständlich mit der Autorität des Staates umgegangen sei und unter einem Mangel an Selbstbewusstsein gelitten habe. Und: "Es war ihr vor allem nicht gelungen, sich der Fantasie, des Elans, der moralischen Passion der jungen Leute zu versichern." Man ist unweigerlich geneigt, sogleich die Parallelen zu den Schwierigkeiten der sozialdemokratischen Machtausübung im Jahr 1999 zu ziehen. Wird Berlin etwa wieder Berlin? Um in der Diktion Harpprechts zu bleiben: Nimmt die Berliner Republik etwa das graue, müde Gesicht des Staats von Weimar an, während sich die Geschichte gewordene Bonner Republik im Glanz ihrer ökonomischen, politischen und moralischen Leistungen spiegeln kann?

Ob die aktuelle Rede von der Neuen Mitte postmoderne Augenwischerei bleibt, hängt von der politischen Ambition ab, die hinter ihr steht. Aber die Erfindung der Neuen Mitte vor über 25 Jahren hat Maßstäbe gesetzt und wirkt bis heute anregend. Deren Protagonisten hatten den festen Eindruck gewonnen, dass der große Wahlsieg von 1972 ohne die atmosphärische Wirkung des Wortes von der Neuen Mitte nicht möglich gewesen wäre. Insbesondere Harpprecht war davon überzeugt, dass man auf den Willen zur Mitte und den Appell an den Bürgersinn nicht verzichten könne, wenn man bei Wahlen erfolgreich sein wolle. Denn selbst die totale Mobilisierung der Arbeiterstimmen reiche für die Bildung von politischen Mehrheiten bekanntlich nicht aus.

Da der Begriff allerdings reichlich unklar war, sollte er in der Regierungserklärung des frisch wiedergewählten Bundeskanzlers genauer ausgeführt werden. Weitere Stichworte lauteten "Ende der Nachkriegszeit", "neuer Bürgertypus" und "Qualität des Lebens". Herbert Wehner war zwar von dieser Idee nicht angetan und machte geltend, dass das Wort von der Neuen Mitte in der Partei nicht gemocht werde, aber die Bedenken drangen nicht durch. Der Begriff fand Eingang in die Regierungserklärung und wurde von Werner Maihofer in einer Grundsatzrede auf dem Stuttgarter Dreikönigstreffen der FDP im Januar 1973 aufgegriffen.

Es wurde eine "Neue Mitte"-Runde eingerichtet, und eine Gruppe sozialdemokratischer und liberaler Vordenker - unter ihnen Peter Glotz, Graf Lambsdorff, Werner Maihofer und Klaus Harpprecht erarbeiteten ein Memorandum zur Neuen Mitte, das den beiden Parteivorsitzenden für die weitere Diskussion in ihren Parteien überreicht wurde. In dem Text hieß es, der Begriff solle eine mehrheitsfähige Allianz bezeichnen, "die einer geschichtlichen Notwendigkeit entspricht und aus klaren geschichtlichen Wurzeln erwächst". Diese politische Allianz sei "kein Bündnis des Zufalls und kein willkürlich widerrufbarer Zusammenschluss auf Zeit". Der geschichtliche Auftrag der Neuen Mitte bestehe darin, die Bundesrepublik als freiheitlichen Rechts- und Sozialstaat auszuformen und an einer gerechten Sozialreform zuarbeiten, die ein Höchstmaß an individueller Freiheit für alle verwirkliche.

Die "Theorie" der Neuen Mitte bildete rasch eine Art ideologisches Korsett der sozial-liberalen Koalition. Willy Brandt entfaltete die historische Mission dieses Bündnisses bei der Verleihung des Theodor-Heuss-Preises vor 25 Jahren: Es gehe um die Aufhebung des jahrhundertalten Gegensatzes zwischen sozialdemokratischer Arbeiterbewegung und linksliberalem Bürgertum und um eine zeitgemäße Vision der Freiheit für alle Bürger - verwirklicht durch innere Liberalität und soziale Gerechtigkeit. Ein neu belebter Bürgergeist solle eine Bewegung für soziale und freiheitliche Reformen anregen, die nicht von oben dekretiert werden könne.

Natürlich standen hinter einem solchen Konzept auch taktische Kalküle, denn es ging um die Durchsetzung ziemlich praktischer Punkte auf der sozialdemokratischen Reformagenda. Sie lauteten: Mitbestimmung, Vermögensbeteiligung und neues Bodenrecht. Die sozialdemokratische Taktik ging deshalb dahin, die FDP, die die Neue Mitte als Gegengewicht zur Polarisierung zwischen den beiden Volksparteien gern allein besetzen wollte, in diesem Netz zappeln zu lassen und so fest an das Regierungsbündnis zu binden. Auch diese konzeptionelle Entscheidung und deren taktische Kalküle lassen sich nachlesen in einem Buch, das Hildegard Hamm-Brücher ebenfalls vor 25 Jahren unter dem Titel "Auftrag und Engagement der Mitte. Eckwerte der Demokratie in der Bundesrepublik" herausgab.

Ein Vierteljahrhundert später steht die Neue Mitte nach einem grandiosen Wahlsieg scheinbar mit leeren Händen da. Alles hängt davon ab, dass sie endlich eine politische Ambition entwickelt und wenigstens einen Funken historischen Sendungsbewusstseins versprüht. Die Situation ist nicht wirklich neu. Die konkreten Themen wären übrigens - mit einer Ausnahme - wieder die alten, allerdings in einer gänzlich veränderten nationalen und internationalen Umgebung: Betriebsverfassung und Mitbestimmung, Vermögensbeteiligung, Rentenreform und Bildungspolitik. Damit wäre die Reform der Reformen das gesellschaftspolitische Programm der Neuen Mitte. Die Ausnahme betrifft die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Sie spielte 1974 noch kaum eine Rolle. Die Perspektive des Programms der Neuen Mitte bleibt ebenfalls aktuell: Es ist die Idee der Freiheit, die im globalen Kapitalismus behauptet werden muss und die kein Privileg für wenige bleiben darf. Der Weg führt dabei wiederum über den Versuch, mehr Bürgergeist zu wecken, und er führt über die Instandsetzung der Institutionen des demokratischen Staats, die angesichts gravierender Akzeptanzprobleme und mancher politischen Versäumnisse nicht in Fernsehshows und gegenüber Interessenverbänden billig gemacht werden dürfen. Insofern muss die Neue Mitte, wenn über den Standort der Berliner Republik geredet wird, den Akzent auf das Wort Republik legen.

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