Die dritte Welle der Individualisierung

Über Traditionen linker Kulturkritik

Als mich Hans-Peter Bartels fragte, ob ich auf der Jahrestagung des Netzwerks Berlin einen Vortrag übernehmen könne, der in aller gebotenen Kürze die wichtigsten Stationen der linken Tradition von Kulturkritik abfahre - er sagte "Adorno, Marx usw., Du weißt schon" -, da fuhr mir doch ein Schreck in die Glieder, und ich antwortete ihm, ich sei nur ein Historiker. Er meinte, eben dies würde mich für eine solche Aufgabe prädestinieren, da Historiker immer über alles Dagewesene sprechen könnten. Bedeutsamer aber war der Hinweis "Adorno, Marx usw., Du weißt schon...".

Ich habe mir dann einige Tage Bedenkzeit erbeten. Wie die Entscheidung ausgefallen ist, können Sie sich spätestens jetzt denken. Aber ich will doch mitteilen, warum ich mich auf das Thema überhaupt eingelassen habe. Erstens, weil es nach fast zwanzig Jahren eine vermutlich nicht peinliche Reise in die Vergangenheit der eigenen politisch-intellektuellen Früh-Sozialisation zu werden versprach; noch mehr: nämlich eine vielleicht sogar interessante Entdeckungstour in die Frühgeschichte der 78er, die sich ja jetzt als Generation Berlin bezeichnen lassen.1 Wer sie verstehen will, muss vor allem diesen Teil ihrer Sozialisation kennen. Zweitens, und das ist noch wichtiger: Wenn wir uns über unser Unbehagen an der nachindustriellen Moderne verständigen wollen, dann müssen wir uns klarmachen, dass wir - oder jedenfalls die meisten von uns - im Kontext der späten Blütenzeit einer ambitionierten linken Kulturkritik politisch aktiv geworden sind. Das wirkt nach und weckt Bedürfnisse, zum Beispiel das dringende Bedürfnis angesichts der aktuellen Debatten um Globalisierung, Flexibilisierung und Individualisierung die Zielrichtung einer modernen Kulturkritik des nachindustriellen Kapitalismus auszuloten.

Im Zentrum des Interesses jeder Kulturkritik, egal ob sie von links oder von rechts kommt, steht das Verhältnis von Individualisierung und Gemeinschaft2, wobei Individualisierung als Herauslösung des Einzelnen aus traditionellen Solidarformen und als Verlust von - wie Axel Honneth deutlich macht - "Erlebnisweisen und Erfahrensformen (...) sittlich integrierter Gemeinschaften"3 das entscheidende Ergebnis von Modernisierung darstellt. Dies ist übrigens keineswegs immer so gewesen und schon in Asien anders: Hier verläuft Modernisierung nicht als Individualisierung. Wir sprechen somit von einer westlichen Form der "Entzauberung der Welt", bei der das Individuum aus den Trümmern der vormodernen Sozial- und Verkehrsformen steigt. Dabei gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen einer westlichen linken Kulturkritik und einer westlichen rechten Kulturkritik. Die linke Kritik insistiert nicht auf eine vergangene oder im Vergehen begriffene angeblich größere Kultur, sondern hat die Umrisse einer "kultivierteren Gesellschaft" bereits im Auge.


Nach diesen Klarstellungen sollen nun drei Formen ambitionierter linker Kulturkritik skizziert werden.

1979 gehörte an meinem Gymnasium Herbert Marcuse zum informellen Lese-Pflichtkanon eines jeden Oberstufen-Schülers, der Sozialwissenschaft oder Philosophie als Leistungskurs gewählt hatte und sich sehnlichst wünschte, recht bald zur studentischen Linken zu zählen. Gelesen wurde Der eindimensionale Mensch. Das Buch war 1964 zum ersten Mal in Boston erschienen, kam 1967 in Westdeutschland heraus und brachte es bis 1979 auf zwölf Auflagen mit knapp 100.000 Exemplaren. Der Untertitel, Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, stellt eine ziemlich präzise Übersetzung des US-amerikanischen Titels dar Studies in the Ideology of Advanced Industriel Society.

Vor dem Lesen faszinierte uns schon der Mann, der aus einer bürgerlichen Familie stammte, aber dennoch zum Sozialisten, Antifaschisten und Gesellschaftskritiker geworden war. 1918 war Marcuse Mitglied eines Soldatenrats in Berlin und gehörte kurzzeitig der MSPD an, die er wegen der Mitschuld an der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts verließ. Nach dem Studium und der Promotion 1922 führte er in Berlin "eine Art linken literarischen Salon"4, dann ging er nach Süddeutschland und wurde Assistent bei Heidegger. Die Entdeckung von Marx konnte er in Deutschland nicht mehr sehr ausführlich betreiben. Nach der Machtübergabe an Hitler ging der jüdische Antifaschist in die Emigration, blieb auch nach dem Krieg in den USA und wurde dort in der Protestbewegung aktiv. 1966 nahm er an dem berühmten Frankfurter Vietnam-Kongress teil, ein Jahr später diskutierte er auf Einladung des SDS in West-Berlin über Formen des außerparlamentarischen Widerstands, und ein weiteres Jahr später ermunterte er den vom Attentat schwer gezeichneten Rudi Dutschke zum Weitermachen. Für uns war zunächst nicht so wichtig, was er sagte, sondern dass er überhaupt in die Bundesrepublik gekommen war, sich mit der außerparlamentarischen Bewegung demonstrativ solidarisiert und jene Lügen gestraft hatte, die mit dem Verdikt des Anti-Amerikanismus jede Kritik an der amtlichen US-Politik in Verruf zu bringen trachteten.

Nun aber zum Buch. Dessen grundlegende, materialistische Botschaft lautete: Der eindimensionale Mensch ist eindimensional, weil die Gesellschaft und der zeitgenössische Diskurs eindimensional sind. Das klingt heute banal, damals war es eine Erkenntnis. Aber dass es so einfach mit der kritischen, gesellschaftstheoretischen Analyse nicht wird, signalisierte bereits der erste Satz: "Eine komfortable, reibungslose, vernünftige, demokratische Unfreiheit herrscht in der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation, ein Zeichen des technischen Fortschritts."5


Wer das gelesen hatte, der las weiter; wenigstens noch Marcuses berühmte Aufsätze über die Repressive Toleranz und Über den affirmativen Charakter der Kultur. Letzterer war zwar schon 1937 bei der Arbeit im Institut für Sozialforschung entstanden, klang aber noch dreißig Jahre später ungeheuer aktuell: War es nicht immer noch so, dass die bürgerliche Kultur allein eine oberflächliche Versöhnung der Individuen mit der bestehenden Gesellschaft erzwang? Band die "repressive Entsublimierung" die Menschen nicht mit scheinbarer Bedürfnisbefriedigung an die bestehende falsche Ordnung? Lenkte die Jagd nach dem eigenen kleinen, armseligen Glück die Menschen nicht von der eigenen, gesellschaftlich verursachten Misere ab und verhinderte auf perfide Art die praktische, nur gemeinsam vorzunehmende Veränderung der Lebensbedingungen?

Im Zentrum der Marcuseschen Kulturkritik, der Kritik der Ideologie des Organisierten Kapitalismus, stand die These, dass in der bestehenden Gesellschaft Individualisierung im verwalteten Frohsinn, in gleichförmiger, vordergründiger Bedürfnisbefriedigung, in der abstumpfenden Idiotie der Spaßgesellschaft, würde man heute sagen, mündete.

Wir glaubten jedenfalls, die "repressive Toleranz", die uns die Verwirklichung unserer Glücksansprüche in einer scheindemokratischen Konsumgesellschaft lediglich vorgaukelte, aber die wirkliche Autonomie, den eigenen Akt der Befreiung vorenthielt, überall mit Händen greifen zu können: im Schulunterricht, im Elternhaus und - in der Politik. Wir waren ernst, kritisch, avantgardistisch (und verlangten die Behandlung der kritischen Theorie der Frankfurter Schule im Unterricht). Wir waren eine Randgruppe!

Aber noch mehr: Man konnte mit Marcuse Marxist, außerparlamentarischer Aktivist und Sozialdemokrat sein - nicht, weil er selbst alles gewesen war, sondern weil er mit der abflauenden sozialen Protestbewegung zwar scharf ins Gericht ging, doch nicht mit ihr brach. Deshalb wurde er zu ihrer Ikone.

Ja, auch wir gaben zu, teilweise war die Bewegung vereinnahmt worden (wie die Juso-Führung von der Partei!), teilweise wurde sie offen unterdrückt (Allgemeine Schulordnung! Radikalenerlass!), teilweise zersplitterte sie und war unfähig sich zu organisieren (an die K-Gruppen: von der Sozialdemokratie lernen heißt organisieren lernen!). Aber mit Marcuse blieb die Hoffnung, von der "großen Weigerung" zur Befreiung zu gelangen, gesellschaftlichen Zwang auf ein Minimum zu reduzieren. Mit anderen Worten - und hier landen wir beim sozialdemokratischen Marx, bei der "realen Utopie" des freiheitlichen Sozialismus: sowenig Reich der Notwendigkeit wie nötig, soviel Reich der Freiheit wie möglich!

Nun war der erste Verbindungspunkt für uns zwischen Marcuse und Marx nicht das Kapital, auf das hier angespielt wurde (jedenfalls nicht bei mir), sondern - durch die Brecht-Rezeption verstärkt - die frühen Schriften und somit der junge Marx, der das Problem der Entfremdung thematisiert hatte (die Entfaltung der Mehrwerttheorie kam später).

Wir entdeckten (wie Marcuse fünfzig Jahre vorher) Marxens kulturkritische Seite, wenngleich er anders als dieser nicht davon gesprochen hätte, dass sich im "Medium der Technik (...) Kultur, Politik und Wirtschaft zu einem allgegenwärtigen System, das alle Alternativen in sich aufnimmt oder abstößt" verschmelzen.6 Aber wie Marx sah Marcuse im System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung die Ursache für die Entäußerung der Arbeit7 und somit die Ursache für die Entfremdung, womit Marx eine historisch-gesellschaftliche Konstellation beschrieb, in der die Beziehungen zwischen Menschen als Verhältnisse zwischen Sachen erscheinen und in der die von den Menschen hervorgebrachten Produkte, gesellschaftlichen Verhältnisse, Institutionen und Ideologien ihnen als fremde, sie beherrschende Mächte gegenübertreten. Eben diese abstrakte Gesellschaftlichkeit, De-Humanisierung und Brutalität der kapitalistischen Zivilisation versuchte Marcuse neu zu fassen. Die Identifikation mit dem gegebenen Dasein, dem verwalteten Leben, stellt für ihn deshalb die höchste Stufe der Entfremdung dar.8

Marx zeigte eher den Prozess der Herauslösung der Subjekte aus den vorkapitalistischen Sozialformen, also den Übergang zum Industriekapitalismus, dessen Augenzeuge er ja war; Marcuse beschrieb den aus traditionalen Sozialformen bereits herausgelösten und in die modernen Sozialformen des bürokratischen Militär- und Wohlfahrtsstaates eingepassten Menschen.

Wenn Marx und Marcuse das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft thematisieren, dann wenden sich beide gegen die Fiktion eines unter Bürgern abgeschlossenen Gesellschaftsvertrags und betonen statt dessen die abstrakte und betäubende Gesellschaftlichkeit des Industriekapitalismus. Auch wenn die kapitalistische Industriegesellschaft für den Einzelnen gegenüber der feudalistischen Epoche einen Freiheitsgewinn erbrachte, so sahen sie in mehr persönlicher Unabhängigkeit noch keine wirkliche Befreiung der Individuen. Denn an die Stelle der persönlichen, lokalen Abhängigkeit trat eine sachliche, allgegenwärtige Abhängigkeit. Im System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung handeln die Menschen zwar selbst, aber als bloße Charaktermasken, in Abhängigkeit vom ökonomischen Prozess oder - wie Marcuse es beschrieb - als durch die Routinen, Standardisierungen und Automatisierungen, also durch die Eindimensionalität des Lebensalltags geprägter Objekte einer verwalteten Gesellschaft.

Beide - Marx und Marcuse - versprachen einen Ausweg, hatten eine Alternative, besaßen eine Utopie: die Utopie eines freien Individuums in einer gewalt- und zwangfreien Gesellschaft. In den Worten Marcuses: "(...) zunehmende Irrationalität des Ganzen, Verschwendung und Restriktion der Produktivität, das Bedürfnis nach aggressiver Expansion, die beständige Bedrohung durch Krieg, verschärfte Ausbeutung, Entmenschlichung. Und all dies verweist auf die geschichtliche Alternative: die geplante Nutzung der Ressourcen zur Befriedigung der Lebensbedürfnisse bei einem Minimum an harter Arbeit, die Umwandlung der Freizeit in freie Zeit, die Befriedigung des Kampfes ums Dasein."9

Aber - und hier saß der Seitenhieb auf die real existierenden sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegungen: Die Arbeiter können an der Befreiung von unten nur dann mitwirken, wenn sie "die lebendige Negation und Anklage der bestehenden Gesellschaft waren oder noch sind. Wo diese Klasse jedoch zur Stütze der herrschenden Lebensweise geworden ist, würde ihr Aufstieg zur Kontrolle jene nur verlängern." Deswegen bestehe die einzige Chance auf eine durchgreifende Veränderung im Zusammentreffen zweier Extreme: "dem fortgeschrittensten Bewusstsein der Menschheit (das wir uns natürlich aneignen wollten, der Verf.) und ihrer ausgebeuteten Kraft" (die wir in den Fabriken und Entwicklungsländern sahen und mit denen wir uns verbünden wollten, der Verf.).10 Den verstellten Blick auf die neue, nicht-repressive Gesellschaft konnte indes erst die Kunst freigeben. Erst die künstlerische Entfremdung (= Sublimierung) der entfremdeten Umgebung eröffnet neue Sinnhorizonte jenseits des Gegebenen und Hingenommenen.

Marcuse wurde in den siebziger Jahren pessimistischer als wir ihn damals wahrnahmen oder wahrnehmen wollten, aber er resignierte nicht. Der Glaube an das "wir" (die Arbeiterklasse, die Protestbewegung, die Randgruppen) ging allmählich verloren. Statt dessen setzte er auf die emanzipative Kraft der Kunst. Denn: Einen rein affirmativen Charakter konnte die Kultur niemals haben, sie barg auch Eigensinnigkeiten oder Eigensinnlichkeiten menschlichen Lebens und somit ließ sie ein emanzipatorisches Potential unter der Patina der Konformität der repressiven Gesellschaftsordnung hervorscheinen. Gegen die Überwältigung neuer, sensibler Tendenzen durch die triviale Massenware der Kulturindustrie setzte er das Plädoyer für autonome Kunstwerke, die imstande seien, die "subversive Gewalt" erst zu erzeugen. Marcuse forderte von der wahren Kunst, jeden Schematismus zu vermeiden und an der "künstlerischen Entfremdung" der "entfremdeten Existenz" zu arbeiten.

Damit geraten wir endlich in die unmittelbare Nähe von Adorno, der angesichts des entfremdeten und verwalteten Lebens in modernen Zeiten gerufen hatte: "Sesam öffne dich, ich will hier raus!" Die von ihm zusammen mit Horkheimer 1947 publizierte Dialektik der Aufklärung, die zwanzig Jahre später in einer deutschen Ausgabe erschien, beschrieb einerseits den selbstzerstörerischen Charakter der Aufklärung und die Nähe von Barbarei und Zivilisation, oder besser: die Tendenz zur Barbarei in der modernen Zivilisation, andererseits - und das beeindruckte mich nicht minder - eine Kritik an einer auf reine Selbsterhaltung durch rücksichtslose Naturbeherrschung bauende Form des Subjekts. Weil aber Adorno mehr als Benjamin "ein dunkler, ja schwarzer Theoretiker der Gesellschaft"11 war, empfanden wir ihn - was unseren idealistischen Aktivismus anging - doch eher als entmutigend. Das war natürlich kein Zufall. Auch wenn Adorno die Hoffnung auf einen Umsturz aller entwürdigenden Verhältnisse nicht gänzlich aufgab, so schien sie ihm doch sehr fern und seine gesellschaftskritische Theorie begrub unter der Last der Interpretation der Gesellschaft als einem unausweichlichen Zwangszusammenhang und der Übermacht der Kulturindustrie nicht nur das Individuum, sondern auch die möglichen Kritiker. Diese "Flaschenpost" wollte von einem politisch Engagierten jedenfalls nicht weiter gelesen werden.

Während also diejenigen meiner Jahrgangsklasse, die sich nicht besonders politisch engagierten, Adorno lasen und zumeist Philosophie studierten, interessierten mich eher das Geschichtsstudium, Marx und Engels und - so wurde es bei den Jusos empfohlen - Hilferding, Basso, Gramsci, Bauer. Diese Empfehlung wurde befolgt, weil in den achtziger Jahren definitiv klar wurde, dass das "Goldene Zeitalter" des Kapitalismus vorbei war. Die Rückkehr der Massenarbeitslosigkeit, das Aufkommen neuer Armut setzte die soziale Frage wieder auf die Tagesordnung und damit auch eine stärker soziale Kritikform am kapitalistischen System. Die fand man aber nicht bei Marcuse.

Für das geistige Fundament der Friedens- und Umweltbewegung erscheinen mir im Nachhinein jedoch Marcuse und Marx, Horkheimer und Adorno bedeutsamer, vielleicht sogar für das Engagement bei den Jungsozialisten und in der SPD. Denn die SPD sollte zum entscheidenden politischen Protagonisten einer Modernisierung gemacht werden, in der die Demokratisierung und Befreiung des Individuums im Mittelpunkt steht.

Aus der Großen Weigerung wurde so die Doppelstrategie aus außerparlamentarischem Protest und innerparteilichem Konflikt, die endlich (und hier überspringe ich einige Jahre) in der Mitarbeit am Projekt einer "anderen Moderne" - wie sie im Berliner Grundsatzprogramm konturiert wurde - mündete. Was sich äußerlich als "von der lila Latzhose (= die Große Weigerung) zum Laptop ( = politische Mitarbeit)" ausdrückte, war inhaltlich das Bestreben, die Diagnose Marcuses zu widerlegen und - in Abgrenzung zu diktatorischen Formen der Modernisierung wie sie dem Nationalsozialismus, den kommunistischen Regimen oder asiatischen Ländern eigen waren beziehungsweise sind - das freie Individuum über demokratische Institutionen mit der modernen Gesellschaft in Einklang oder besser: in ein produktives, chancen- und entwicklungsorientiertes Verhältnis zu bringen. Möglich erschien das nur mit und in der Partei Willy Brandts, also der freiheitlich-liberalen Sozialdemokratie.

Dabei sah es so aus, als befände man sich im Bund mit der Geschichte: Dafür sprachen die Demokratiebewegungen in Mittel- und Südamerika, in Asien und natürlich in Osteuropa und der sich in Nordamerika, Japan und Westeuropa vollziehende Wandel von der formierten Industriegesellschaft, die Marcuse noch vor Augen stand, zur liberalen Wissensgesellschaft. Dieser Wandel erschütterte das verwaltete Leben zwischen Massenproduktion und Massenkonsum und brach deren erstarrte Verwaltungs-Institutionen auf.

Aber es war natürlich anders gekommen, als Marcuse geglaubt hatte. Denn nicht eine "andere" Arbeiterklasse oder eine neue soziale Protestbewegung der Randgruppen revoltierte erfolgreich gegen das verwaltete Leben und die bürokratische Zwangsgesellschaft sondern der Neue Kapitalismus selbst begann die alte Gesellschaft abzuschaffen.12 Er operierte dabei ironischerweise mit den Organisationskonzepten der außerparlamentarischen Bewegungen und Nicht-Regierungsorganisationen, nämlich Netzwerkstrukturen, und nahm die Kritik am bürokratischen Staat und einer Zwangsgesellschaft, deren wirtschaftliche Dynamik gleichsam leer lief, auf. "Kritische Manager" sprachen auf einmal wie Marcuse über den Kapitalismus.

Die dritte Welle der Individualisierung verläuft über eine Form der Modernisierung, die allgemein mit dem Begriff der Flexibilisierung umschrieben wird. Sie betrifft die Herauslösung des Individuums aus den Sozialformen der entwickelten industriekapitalistischen Gesellschaft (zum Beispiel der Kleinfamilie, dem Beruf, der Tarifgemeinschaft oder der nach dem Prinzip der basisnahen Stellvertretung aufgebauten Partei- und Gewerkschaftsorganisation). Betrachtet man die räumlichen und gruppenbezogenen Mobilitätsprozesse, dann verläuft sie radikaler als die erste Welle der Individualisierung, weil sie noch mehr Tempo aufweist. Aber auch hinsichtlich der sozialen Mobilität erscheint sie radikaler, nicht weil mit ihr - wie noch mit der zweiten Welle - ein höherer gesellschaftlicher Statuts, ein arrivierter kultureller Lebensstil oder ein größerer Lebensstandard als der elterliche verbunden ist, sondern weil sie sozial riskanter geworden ist.13

Es stellt sich aber nun leider heraus, dass die überkommenen Verwaltungsstrukturen nicht einfach zerbrechen, wegfallen und auf dem Schutthaufen der Geschichte landen, auf dem es dann zum Zusammenschluss befreiter Individuen kommt; es sieht keineswegs so aus, als ob die Überwindung erstarrter, linearer Lebensmuster zur individuellen Selbstverwirklichung leiten könnte; und es scheint auch nicht so, als ob die Einförmigkeit, Normierung und Eindimensionalität des menschlichen Daseins durch eine postmoderne Multioptionsgesellschaft abgelöst wird, welche der Utopie der repressionslosen und gerechten Gesellschaft entspräche.

Eine soziologische Mode sowie eine konservative Kulturkritik rechter und altlinker Spielart und eine Masse aufgebrachter Politiker und Vereinsaktivisten betrachtet die Individualisierung der dritten Welle sogar als Untergang des demokratischen Abendlandes. So beklagt der amerikanische Politikberater Francis Fukuyama einen "liberalen Individualismus", der die Gemeinschaft auf allen Ebenen zerstöre, "von der Familie und der Nachbarschaft bis zum Arbeitsplatz".14 Er hofft darauf, dass die Globalisierung ebenso wie die Industrialisierung zuvor den demokratischen Gesellschaften neue gemeinschaftsbildende Normen und Werte beschert; solange dies nicht geschieht, beschwört Fukuyama die alten.

Ein Dokument politischen Unverstandes stellt in dieser Hinsicht das Schröder-Blair-Papier dar. Wie Fukuyama folgt es einem Konzept konservativer Modernisierung: Die Globalisierung wird weniger als Verheißung denn als Schicksal hingestellt und soll durch den Appell an traditionelle Tugenden und Pflichten bewältigt werden. Der Staat ist nicht länger stark bei der Gestaltung der Modernisierung oder auch nur bei der Bekämpfung ihrer negativen ökonomischen, sozialen und ökologischen Auswirkungen als vielmehr bei der Einhaltung gemeinschaftlicher Regeln. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Konzeption rasch in eine linke Form autoritärer Modernisierung umschlagen kann. Hieß es bei Thatcher noch, es gibt keine Gesellschaft - nur Individuen, so könnte die Parole der autoritären Modernisierung von links lauten: Es gibt keine Individuen mehr, nur noch eine Gemeinschaft!

Nun hat uns aber Richard Sennett nicht nur gezeigt, wie verkürzt die konservative beziehungsweise altlinke Kulturkritik sind, sondern auch wie wenig ein Programm der Modernisierung auszurichten vermag, das nicht an der Reform des neuen Systems der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ansetzt.

Sennett lamentiert weder über schrumpfende Sozialetats noch hat er einen flammenden Aufruf für die Bewahrung alter Besitzstände parat. Er liefert auch keine kalte Analyse des Stroms internationaler Gelder oder der Kurven ökonomischer Wachstumsraten. Was die Stärke seiner kritischen Analyse vielmehr auszeichnet, ist, dass sie den konkreten, arbeitenden Menschen in den Mittelpunkt einer kritischen Betrachtung des neuen Kapitalismus rückt. Der amerikanische Titel des Buches macht dies deutlicher. Er lautet: The Corrosion of Character; frei übersetzt: Was bewirkt ein Wirtschaftssystem, das nur "Tugenden" wie Bindungslosigkeit, Kurzfristigkeit, Hochgeschwindigkeit und Rastlosigkeit, permanente Risikobereitschaft, rücksichtsloses Konkurrenzdenken und ökonomische Habgier, oberflächliche Kooperationsarbeit, organisierte Verantwortungslosigkeit und Vergessen kennt? Es erzeugt Unsicherheit, schürt Angst, vertieft Ungleichheiten und verdirbt letzten Endes den persönlichen Charakter des Menschen. Marcuse hätte dies vermutlich als eine spezifische Form der Entfremdung in der postindustriellen kapitalistischen Gesellschaft dargestellt. Was bei ihm noch als abstumpfende Routine eines fordistischen Kapitalismus kritisiert wird, wird von Sennett fast schon wieder rehabilitiert, wenngleich er einräumt, dass es kein Zurück zur "abstumpfenden Politik des Dienstalters und der Betriebszugehörigkeit" geben könne und auch nicht geben sollte.15

So wie für Marcuse die zweite Welle der Individualisierung besitzt für Sennett die dritte Welle der Individualisierung einen ambivalenten Charakter. Die flexible Kultur des Dienstleistungs-Kapitalismus bewirkt zwar wachsende Mobilität. Diese führt aber nicht automatisch zu mehr Freiheit, Eigenständigkeit und Selbstverwirklichung, sondern zu Orientierungsverlusten, neuartigen Zwängen und Abhängigkeiten. Das neue System gesellschaftlicher Arbeitsteilung, das unter dem Signum der Flexibilität steht und einen ständigen, diskontinuierlichen Umbau von Institutionen (Re-engeneering), eine flexible Spezialisierung der Produktion und die Konzentration der Macht in Netzwerken ohne Zentralisierung fordert, gaukelt Freiheit nur vor, erzeugt in Wirklichkeit neue Formen willkürlicher Machtverteilung und tiefe Unsicherheit. Was früher galt, gilt nicht mehr: Ein Berufswechsel führt nicht mehr notwendig zu einem höheren Einkommen.

Diese Erfahrung machen indes nicht mehr nur die Modernisierungsverlierer. Diesmal trifft es auch die Modernisierungsgewinner, und das macht die neue soziale Mitte so nervös. Selbst die gut qualifizierten, beweglichen, belastbaren, leistungsbereiten und aufstiegsorientierten Arbeitnehmer-Selbständigen können sich nicht länger auf der sicheren Seite wähnen. Auch sie laufen Gefahr, an einem Null-Summen-Spiel teilzunehmen. Sie basteln eifrig an ihrer Karriere, können aber schon ihren Kindern den eigenen Lebensweg nicht mehr erzählen, jedenfalls nicht als eine Geschichte mit klarem Beginn, überwundenen Anfangsschwierigkeiten, stetigem Aufstieg und gutem Ende. Immer häufiger blicken sie zurück auf volle Terminkalender, aber ein unerfülltes Leben.

Welchen Ausweg sieht Sennett? Er kann ihn nur andeuten. Es ist eine "klassische Kombination" aus Zusammenbruchserwartung und der Hoffnung, auf die Erneuerung von Solidarität in sozialen und politischen Konflikten. Anders als der Kommunitarismus sieht er nicht in der Übereinstimung in Wertfragen eine wirkungsvolle Gemeinschaftsstiftung, sondern in der Thematisierung von Differenzen und dem Austragen von Konflikten. Und dann ist als letzter Satz des Buches noch die sozialphilosophische Drohung zu vernehmen, dass "ein Regime, das Menschen keinen tieferen Grund gibt, sich umeinander zu kümmern, ... seine Legitimität nicht lange aufrechterhalten" könne.16


Ich hoffe, es wird jetzt endgültig klar, auf was ich hier hinaus will. Luc Boltanski und Eve Chiapello haben in ihrer Studie über den "neuen Geist des Kapitalismus"17 drei Formen der Kritik an drei Formen des Kapitalismus ausgemacht. Die - wenn man so will - klassische, soziale Kritikform des 19. Jahrhunderts, die sich bei Marx findet und wie sie die sozialistische Arbeiterbewegung bis in die 1920er Jahre übte. Sodann die "critique artiste" der Avantgardebewegungen, die "1968" mit der sozialen Kritikform zusammentrifft. Ich würde hier allerdings noch differenzieren und meinen, dass dies wesentlich stärker in Frankreich als in der Bundesrepublik geschieht; hier scheint mir die "critique artiste" zunächst stark zu überwiegen und dann eine kurzlebige Renaissance der sozialen Kritikform einzusetzen. Endlich - und darauf kommt es jetzt an - geht es um die Entwicklung einer angemessenen Kritikform gegenüber dem neuen Netzwerk-Kapitalismus, der ganz auf Flexibilität und Innovativität setzt.

Was ergeben sich daraus für politische Schlussfolgerungen?

Es geht um die Analyse des Neuen Kapitalismus und die Entfaltung der von Sennett, Boltanski und Chiapello angedeuteten Kritikform. Die Arbeit an den Alternativen zum Früher und Jetzt und an den Konturen einer Gesellschaft der Freien und Gleichen muss endlich beginnen. Dies kann u.a. im Rahmen der SPD-Grundsatzprogrammdebatte geschehen.
Es geht um den Entwurf einer sozialen und politischen Konfliktstrategie, die nicht länger die Möglichkeit des Falls von Bergleuten ins Bergfreie, sondern von betriebsbedingt gekündigten Bankangestellten skandalisiert. Es geht somit um die Politisierung der neuen soziale Mitte, nicht um eine Randgruppenstrategie.

Meine Überzeugung ist, dass eine sozialdemokratische Politik, die in der lebendigen Tradition Willy Brandts steht, sich im Neuen Kapitalismus und für das neue Jahrhundert eher von der marxistisch informierten Kapitalismus- und Kulturkritik Sennetts inspirieren lassen und nicht auf kommunitaristische Wunderheiler setzen sollte. Der Appell an vermeintlich gemeinschaftsbildende Pflichterfüllung verhallt nämlich entweder im Sturm der Globalisierung oder er wird repressiv. Er unterschätzt zudem die Ambivalenz der dritten Welle der Individualisierung und nutzt nicht das radikale Versprechen der gleichen Freiheit.

Die politische Botschaft der SPD müsste demnach lauten: Wir biegen den Neuen Kapitalismus im Sinne der neuen sozialen Mitte. Wir schaffen moderne Sicherheit, damit mehr Freiheit für alle möglich wird. Ein Zurück zur Sicherheit der Arbeitnehmer-Gesellschaft der 1970er Jahre wird es nicht geben.


1 Vgl. Reinhard Mohr: Zaungäste. Die Generation, die nach der Revolte kam, Frankfurt/M. 1992.
2 Axel Honneth: Individualisierung und Gemeinschaft, in: Christel Zahlmann: Kommunitarismus in der Diskussion, Berlin 1994, S. 16-23.
3 Ebd., S. 16.
4 Ralf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte - Theorietische Entwicklung - Politische Bedeutung, München 1997, S. 114.
5 Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch, Darmstadt/Neuwied 1979 , S. 21.
6 Vorrede ebd., S. 19.
7 "Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen." MEW, Erg.bd. 2 Tl., S. 514.
8 Marcuse, Eindimensionaler Mensch, S. 31.
9 Ebd., S. 263.
10 Ebd., S. 268.
11 Rolf Wiggershaus: Theodor W. Adorno, München 1987, S. 89.
12 Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998, S. 39.
13 Dies als Einschränkung oder Modifikation der Beschreibung der vier Mobilitätsfaktoren bei Michael Walzer. Vgl. Michael Walzer: Sphären der Gerechtigkeit, Frankfurt/M-New York 1992.
14 Francis Fukuyama: Ich oder die Gemeinschaft, in: Werner A. Perger/Thomas Assheuer (hg.): Was wird aus der Demokratie?, Opladen 2000, S. 24.
15 Sennett, Der flexible Mensch, S. 157.
16 Ebd. S. 203.
17 Luc Boltanski /Eve Chiapello: Le nouvel esprit du capitalisme, Gallimard 1999.

Der hier abgedruckte Text folgt dem Vortrag, den Karsten Rudolph auf einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung und des Netzwerks Berlin unter den Titel "Flexibilisierung und Sicherheit" am 3. Juni 2000 in Freudenstadt hielt.

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