Pflichten? Nein, Verantwortung!

Deutschlands Außenpolitik hat noch nicht verstanden, dass unser Land aktiv für eine Weltordnung einstehen muss, die unseren Wohlstand und unsere Freiheit auch künftig möglich macht

Deutschland stehe in der Pflicht: Diese Formulierung führt direkt in den schummrigen Keller, in dem die deutsche Kollektivpsyche ihre Altlasten bebrütet. Kein anderes westliches Land beharrt so zäh darauf wie Deutschland, seine Sicherheitspolitik aus Zwängen – normativen Zwängen, Bündniszwängen, Sachzwängen – abzuleiten. „Das Völkerrecht verpflichtet uns“, „die Amerikaner erwarten das von uns“, oder (ein Lieblingswort der Kanzlerin) „diese Entscheidung ist alternativlos“ – dies sind noch immer reflexhaft zitierte Standardformeln deutscher Außenpolitik.

Deutschland ist stark. Und wer stark ist, muss gestalten

Um jedes Missverständnis auszuschließen: Dass deutsche Außenpolitik sich zu Völkerrecht und Bündnistreue bekennt, zu den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und der Nato, ist angesichts unserer Geschichte eine zivilisatorische Errungenschaft. Diese Selbstbindung an eine normativ fundierte internationale Ordnung und multilaterale Organisationen ist ein Fortschritt, den es zu bewahren gilt. Und doch hat die mantraartige Berufung auf „die Pflicht“ etwas Pathologisches.

Alternativlose Situationen, also echte Zwangslagen, sind in der Außenpolitik höchst selten. Zwingende Völkerrechtsnormen sind noch seltener. Zwingende Völkerrechtsnormen, die zum Handeln verpflichten, sind die absolute Ausnahme. Die Behauptung, es gebe nur eine einzige mögliche oder akzeptable Entscheidung, ist folglich fast immer konstruiert; man könnte auch sagen, herbeigezwungen.

Der Politiker, der sich auf einen Handlungszwang beruft, entpolitisiert damit die Politik. Denn er negiert ihren Wesenskern: die Freiheit (und die Verantwortung), zwischen Optionen zu entscheiden. Schlimmer noch, er – oder sie – leugnet damit die Möglichkeit von Freiräumen, die es erlauben, Situationen zu gestalten, und Optionen überhaupt erst zu schaffen. Das ist es auch, was unsere Freunde, Nachbarn und Verbündeten an uns befremdet: dass wir, 25 Jahre nach der Wiedererlangung voller Souveränität, immer von „Pflicht“ sprechen, wo es doch um Verantwortung geht.

Was also ist Deutschlands Verantwortung in der Außenpolitik? Ein Anfang wäre, dass wir uns ehrlich machen. Wir sind so wohlhabend, so sicher und so frei wie noch nie zuvor in unserer Geschichte. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und der Eurozone lässt unsere Wirt­schaft und Gesellschaft blühen. Aufgrund unserer Fähigkeit zu technischer und sozialer Innovation profitieren wir von der Globalisierung wie kaum ein anderes Land. Das hat uns – vor allem im Verhältnis zu unseren europäischen Nachbarn, aber auch im Verhältnis zu anderen Staaten, sogar den Vereinigten Staaten – eine neue Stärke und einen so noch nicht dagewesenen Einfluss verschafft. Nennen wir es ruhig Macht, denn so empfinden es jedenfalls die anderen. Und dass wir uns so sicher fühlen dürfen liegt vor allem daran, dass wir mit der Erweiterung von EU und Nato einen Ring schützender Demokratien um uns herum gelegt haben.

Die Ressourcen unserer Stärke sind in Gefahr

Als offene Bürgergesellschaft, die ihren Wohlstand aus der weltweiten Mobilität von Daten, Gütern und Menschen bezieht, sind wir allerdings auch hochgradig verwundbar. Wir sind auf die Nachfrage aus anderen Märkten, den Zugang zu Ressourcen und freie Handelswege angewiesen – auch auf Arbeitskräfte aus dem Ausland. Wir sind also existenziell abhängig von der Globalisierung, und von der freien, friedlichen Weltordnung, die diese erst möglich macht. Ebenso abhängig sind wir von der wirtschaftlichen und politischen Integration in Europa, aus der wir einen großen Teil unserer Stärke beziehen, und die uns auf internationaler Bühne erst das notwendige Gewicht verleiht.

Beide Quellen unseres Erfolgs – das vereinte Europa und die freie, friedliche Weltordnung, in deren Schutz wir rund um den Globus Handel treiben – sind heute in Gefahr. Die europäische Wirtschaftskrise, der Konflikt mit Russland um die Ukraine, die Kriege im Nahen und Mittleren Osten, aber auch die Spannungen zwischen China und seinen asiatischen Nachbarn verstärken sich vielfach gegenseitig – auch, weil durch die Globalisierung die Welt zusammenwächst. Und die internationalen Normen und Institutionen, die jahrzehntelang das Rück­grat der vom Westen errichteten und garantierten Nachkriegsordnung bildeten, werden von aufstrebenden Mächten zunehmend infrage gestellt.

Wir werden eigene Vorstellungen entwickeln müssen

Gewiss, Deutschland übernimmt schon heute ein Ausmaß an praktischer Verantwortung, das weit über die Scheckbuchdiplomatie von einst hinausgeht: in der Eurokrise, bei den Sanktionen gegen Russland, in Afghanistan. Aber Krisenmanagement in Europa und seiner Nachbarschaft wird auf Dauer nicht genügen. Es geht um nicht weniger als die Bewahrung und Fortentwick­lung einer internationalen Ordnung, die immer polyzentrischer sein wird – und die nicht mehr allein von der Supermacht USA garantiert wird. Deutschland wird eine eigene Vorstellung davon entwickeln müssen, wie eine freie und friedliche Weltordnung künftig aussehen sollte. Es sollte sich mit Gleichgesinnten zusammenschließen, um aus der Vision Realität werden zu lassen. Und es sollte bereit sein, sie gegen Feinde zu schützen; mit Waffen, wenn es sein muss. Mit „Pflicht“ hat all dies nichts zu tun – mit Verantwortung aber alles.

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