Es geht um Europas Grundwerte

"Die Republik ist bloß ein Gewand für die Nation", findet Ungarns Premier Viktor Orbán. Dieser Ungeist prägt die neuen Mediengesetze seines Landes. Europa darf solche Verachtung fundamentaler Prinzipien nicht hinnehmen

Europe whole and free“ – „Europa, vollständig und frei“, forderte Präsident George Bush in seiner berühmten Mainzer Rede im Mai 1989. Dass aus dem Traum Wahrheit wurde, verdankt sich nicht zuletzt der Entscheidung einer mutigen ungarischen Regierung, im Sommer desselben Jahres die Grenzen nach Österreich zu öffnen und so Tausenden von DDR-Flüchtlingen den Weg in den Westen zu bahnen. 21 Jahre später – und just wenn Budapest den Vorsitz des Europäischen Rates übernimmt – liegt Ungarn wieder vorn. Diesmal allerdings scheint Ungarn fest entschlossen, den Rückweg anzutreten – und Europa gleich mitzunehmen.  

Normalerweise ist der sechsmonatige Ratsvorsitz eine ziemlich geräuschlose Angelegenheit. Das gilt erst recht seit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages, mit dem die Ämter eines Vollzeit-EU-Präsidenten und einer Außenpolitik-Beauftragten geschaffen wurden. Deshalb merkten nur wenige Europäer überhaupt, dass Ungarns Vorgänger Belgien vom ersten bis zum letzten Tag seines Ratsvorsitzes in der zweiten Jahreshälfte 2010 keine Regierung hatte. Hingegen beschloss der ungarische Premierminister Viktor Orbán, das neue Jahr mit einem politischen Feuerwerk zu beginnen, samt zweier Raketen der Extraklasse: einem Satz neuer Mediengesetze und einer „Krisensteuer“ für Investoren.     

Aufruhr war die Folge. In Ungarn gingen die Studenten mit Klebebandkreuzen über den Lippen auf die Straße, die Zeitungen erschienen mit leeren ersten Seiten. Aus den anderen europäischen Mitgliedsstaaten hagelte es Kritik: von der Medienkommissarin Neelie Kroes, dem Medienbeauftragten der OSZE, Bundeskanzlerin Angela Merkel, der französischen Regierung, und von einer überparteilichen Koalition im Europäischen Parlament sowie einer Handvoll europäischer Unternehmenschefs. Als führende Politiker von Orbáns rechtskonservativer Fidesz-Partei verlegen mit den Füßen scharrten und Kompromissbereitschaft andeuteten, fuhr der Premierminister höchstselbst dazwischen und erklärte, „nicht in unseren wüstesten Träumen“ werde er Änderungen an den Gesetzen zulassen.

Um Transparenz (und Schadensbegrenzung) bemüht, stellte das ungarische Ministerium für Öffentliche Verwaltung und Justiz alsbald englische Übersetzungen der Mediengesetze ins Internet, zusammen mit umfänglichen Widerlegungen der Kritik. Überzeugend war der Versuch allerdings nicht. Die neuen Mediengesetze (insgesamt mehr als 200 Seiten) verlangen von sämtlichen Medien, ob öffentlich oder privat, dass sie sich bei einer mächtigen neuen Kontrollbehörde registrieren lassen; das fünfköpfige Aufsichtsorgan der Behörde ist ausschließlich mit Fidesz-Mitgliedern besetzt. Die Behörde ist ermächtigt zu prüfen, ob die Berichterstattung ungarischer Medien „objektiv und ausgewogen“ ist. Falls sie einen Regelverstoß erkennt, kann sie empfindliche Geldstrafen verhängen – oder das Organ sogar zwangsweise schließen. Sie kann Journalisten verpflichten, selbst geschützte Quellen im Namen der „nationalen Sicherheit und öffentlichen Ordnung“ preiszugeben. Kurz, die neuen Mediengesetze greifen – entgegen den Behauptungen der Regierung Orbán – auf ersichtlich unangemessene Weise in die Freiheit der Medien ein; außerdem sind sie zugleich zu unbestimmt und übermäßig weit gefasst.

Die nukleare Option ist wenig hilfreich

Die „Krisensteuer“ rechtfertigte die Budapester Regierung mit dem Argument, diese sei rechtlich unbedenklich, weil sie ausländische wie inländische Investoren gleichermaßen treffe. Ausländische Investoren kontern, dass die Steuer – weil sie nur ab einer hohen Schwelle gilt – de facto ausschließlich ausländische Firmen trifft. Sie hätten auch den französischen Dichter Anatole France zitieren können: „Das französische Recht, in seiner majestätischen Gerechtigkeit, verbietet es Reichen und Armen gleichermaßen, unter den Brücken zu schlafen.“

Rufe aus den Reihen der Kritiker, die Europäische Union müsse Ungarn nun mit Sanktionen belegen – oder gleich hinauswerfen – sind allerdings ebenfalls nicht hilfreich, um nicht zu sagen: Sie sind melodramatisch. In der Tat, der Lissabonner Vertrag sieht die Möglichkeit solcher Sanktionen (bis hin zur Suspendierung der Mitgliedschaft) in seinem Artikel 7 vor. Er ist eine Lehre aus den letzten Endes gescheiterten Versuchen, im Jahr 2000 die konservative österreichische Regierung von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel dafür politisch zu isolieren, dass sie Jörg Haiders Rechtsaußenpartei (wenn auch nicht ihn selber) in die Regierungskoalition geholt hatte. Aber der neue Artikel 7, wiewohl eine notwendige Ergänzung des Instrumentenkanons der EU, ist sozusagen die nukleare Option der Union. Seine Anwendung setzt eine „schwerwiegende Verletzung“ der EU-Regeln voraus und verlangt mindestens eine Zweidrittelmehrheit im Rat der 27 EU-Mitglieder. Stattdessen hat Kommissarin Kroes vernünftigerweise ein „Vertragsverletzungsverfahren“ eröffnet, ein übliches und oft angewendetes Verfahren, um nationale Gesetze auf konstruktivem Wege in Einklang mit EU-Recht zu bringen. Das könnte ein gesichtswahrender Ausweg für Orbán sein; derzeit scheint seine Regierung sich darauf einzulassen.

Dessen ungeachtet kann es keinen Zweifel daran geben, dass die Politik der aktuellen ungarischen Regierung eine ernste Herausforderung für die Europäische Union bedeutet. Soweit es um die inkriminierten Gesetze geht, ist sie rechtlicher Natur, allerdings geht es hier im Kern um ein politisches Problem – das deshalb auch vor allem in der politischen Auseinandersetzung bewältigt werden muss. Denn die neuen Gesetze sind bloß die jüngste Etappe in einer langen Serie von zutiefst illiberalen Eingriffen der Regierung Orbán – bestärkt durch einen Zweidrittelsieg bei der letzten Wahl im April 2009 – in die ungarische Verfassungsordnung: von der Beschneidung der Befugnisse des Verfassungsgerichts bis hin zu Übergriffen auf die Pensionsfonds, kulturelle Institutionen sowie auf die Zentralbank.

Orbán selbst hat nie einen Hehl aus seiner grundsätzlichen Verachtung für die parlamentarische Demokratie gemacht: „Die Republik“, sagte er 2006, „ist bloß ein Gewand für die Nation.“ Diese Aussage ist grundfalsch. Gewaltenteilung, die Verantwortung von Regierungen gegenüber den Regierten und der Schutz der Grundfreiheiten und -rechte – das alles sind die Grundfesten der europäischen res publica. Sie zu verachten heißt, alles zu verachten, wofür das Projekt Europa steht.

Gewiss, Europa hat monatelang stillschweigend zugeschaut, während die Regierung Orbán die ungarische Verfassungsordnung in ihrem Sinne umgestaltete. Richtig ist leider auch, dass die Pressefreiheit auch in anderen EU-Staaten (zu denken wäre unter anderem an Italien oder Rumänien) nicht recht ernst genommen wird, um es vorsichtig auszudrücken. Und auch in Deutschland gibt es historisch gewachsene Verflechtungen zwischen Medienanstalten und Politik (die etwa dazu führen, dass der Sprecher der Bundeskanzlerin Intendant einer öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt wird), die man getrost als problematisch bezeichnen darf. Schlimmer noch, die weltweite Wirtschaftskrise hat europaweit eine ängstliche und nach innen gewandte öffentliche Stimmung erzeugt, die Wachstum und Stabilität über Freiheit und liberale Grundwerte setzt und die rücksichtslosen Demagogen und Populisten einfache Beute verschafft.

Doch nichts von alledem darf als Entschuldigung und Vorwand dafür gelten, die Ereignisse in Ungarn oder anderswo schönzureden. Europa muss seine Grundwerte verteidigen – aber in der politischen Arena. Es ist Zeit, den Europäern klar zu machen, dass Europa nicht nur eine Frage des Euros ist. «

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