Koordinaten der German Angst

Des Deutschen liebste Tageszeit ist der Vorabend des Untergangs. Doch wer immer nur in apokalyptischer Stimmung schwelgt, wird seine Schwierigkeiten niemals lösen. Höchste Zeit für mehr praktischen Optimismus. Anlass genug dafür haben wir längst

„Die Dänen finden, dass sie eine nette Nation sind, dass es angenehm ist, ein Däne zu sein.“
Norbert Elias, Studien über die Deutschen

Einfach nur eine „nette Nation“ kann Deutschland vor dem Hintergrund seiner Geschichte nicht sein. Doch um diese Einsicht muss in unserer Gesellschaft kaum noch gekämpft werden; Verdränger und Verschweiger sind keine ernsthaften Gegner mehr. Wie wir uns heute als Deutsche fühlen, ob wir es angenehm finden, Deutsche zu sein, hat mit der Bewältigung der NS-Vergangenheit nur noch begrenzt zu tun. Das bedeutet aber nicht, dass die Geschichte uns nicht fest im Griff hätte. Die Kernfrage jeder Mentalitätsbetrachtung, schreibt der große deutsche Soziologe Norbert Elias, ziele darauf, „wie sich das Schicksal eines Volkes im Laufe der Jahrhunderte im Habitus seiner einzelnen Angehörigen niederschlägt“.

Das deutsche Schicksal – mit den Desintegrationserfahrungen des Heiligen Römischen Reiches, der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges, der prekären Mittellage in Europa, der späten staatlichen Einigung und der relativen Schwäche des Zentralstaates, gescheiterten Revolutionen, wirtschaftlichem Zusammenbruch, verunglückter Demokratie, zwei Weltkriegen und natürlich zwei Diktaturen – hat einen deutschen Habitus hervorgebracht, der in vielerlei Hinsicht bis heute fortwirkt. Oder jedenfalls in Krisenzeiten schnell aktivierbar ist.

Dieser Habitus ist geprägt durch Angst, vor allem Abstiegsangst; eine zwanghafte Neigung zum Vergleich mit anderen und das bedrängende Gefühl, man müsse endlich auf-, ja überholen; ein Fremdeln gegenüber der parlamentarischen Demokratie, die, anders als in Großbritannien oder Amerika, nicht zum Kern des nationalen Idealbildes, zum allgemeinen „Wir“ gehört; einen intellektuellen Hang zum Radikalen, Absoluten: ganz oder gar nicht, alles oder nichts, schwarz oder weiß, gut oder böse; ein gestörtes Nationalgefühl, das nur schwer zwischen Ideal und Wirklichkeit zu unterscheiden weiß und sich deshalb von der Realität permanent enttäuscht sieht. In Norbert Elias Worten: „Da Deutsche mit einem stärker überhöhten Wir-Ideal aufgewachsen waren als zum Beispiel die Engländer, fiel es ihnen oft schwer zu entscheiden, welche Unvollkommenheiten an Menschen, Institutionen, privaten und öffentlichen Beziehungen vernünftigerweise hinzunehmen waren und welche nicht. In ihrer Arbeit kam den Deutschen ihr Perfektionsdrang gut zustatten. In ihrem sozialen und besonders ihrem politischen Leben hatte die weite Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit, die Suche nach Vollkommenheit, das Verlangen nach einer idealen Gemeinschaft, nach dem Traum-Reich, ihr Gegenstück in Gefühlen der Leere und oft der Gleichgültigkeit, Apathie oder des Zynismus: Wenn man das Ideal nicht erreichen konnte, war es fast belanglos, was man tat oder wie man es tat.“

Angsthaben löst unsere Probleme nicht

Angst und ein unrealistisches, überhöhtes Bild von den Möglichkeiten des Gemeinwesens, des Staates, „der“ Politik waren in den letzten zehn Jahren die Grundtöne in der aktuellen Diskussion über die deutschen Zustände.

In den siebziger und achtziger Jahren hatte sich die Angst, ohne die es offenbar nicht geht in Deutschland, politisch nach links bewegt: Atomkriegsangst, Ökokatastrophenangst, Überwachungsstaatangst, Angst vor einer Rückkehr des Faschismus gehörten zum linken Lebensgefühl. Und mit weniger als einem ausgewachsenen Weltuntergangsszenario gaben sich die Untergangspropheten selten zufrieden. Die Angst trug die Züge einer magischen Praxis zur Gefahrenabwehr, wie die Amerikanerin Susan Stern in ihrem Deutschland-Handbuch für Ausländer schreibt (These Strange German Ways): „Gewiss würde das Schlimmste eintreten, wenn man sich nicht gehörig davor fürchtete.“

In den neunziger Jahren nach der weltpolitischen Wende 1989/90 machten die linken Ängste einem ökonomischen Bedrohungsgefühl Platz. Die neuen Warnungen – vor dem fremdartigen und unheimlichen Phänomen der Globalisierung, vor Kapitalflucht und Massenarbeitslosigkeit, vor zusammenbrechenden Sozialversicherungssystemen, Überalterung, Staatsverschuldung, würgender Bürokratie und erdrückender Steuerlast – wurden nun nicht mehr von grünen Stadträten in Strickpullovern oder schriftstellernden Grundschullehrerinnen vorgetragen, sondern von Wirtschaftsprofessoren, Fonds-Analysten, selbsternannten Anwälten der „Generationengerechtigkeit“, von der FDP, von Teilen der CDU, von Wirtschaftsverbandsfunktionären und einer wachsenden Gruppe von Journalisten.

Der Angst-Mainstream fließt breit dahin

Andere Protagonisten, andere Outfits, andere Inhalte: Aber der Klang der Kassandrarufe ähnelt sich verblüffend. Wieder geht es nicht ohne apokalyptische Note, ohne die Drohung mit Abgrund, Absturz, Zusammenbruch, Niedergang. Das angebotene Rettungsprogramm entspricht den Anforderungen des deutschen Habitus: Reformen müssen radikal sein und drastisch, die Einschnitte tief, die Zumutungen hart, eigentlich wird eine Revolution gebraucht – und am liebsten will man jetzt sofort, hier, gleich und auf der Stelle wissen, wie die Gesundheitsversorgung für 80 Millionen Menschen im Jahr 2073 in der fünften Nachkommastelle geregelt sein wird. Wenn das nicht geht, ist ohnehin alles egal.

Es ist das alte deutsche Muster: ganz oder gar nicht, alles oder nichts, schwarz oder weiß. Und bitte perfekt. „Der“ Politik wird bei der Lösung der apokalyptischen Probleme wenig bis nichts zugetraut: Der „schwache Anti-Führer-Staat“ Bundesrepublik habe sich in der Krise nicht bewährt, schreibt, vermutlich sogar ohne böse Hintergedanken, ein bekannter deutscher Journalist in seinem Untergangs-Bestseller. Von der Zeit bis zur FAZ finden sich zwischen den Zeilen mancher Kommentare mittlerweile spielerische Infragestellungen des politischen Systems insgesamt. Und nur allzu gern spielt man „die“ überforderte Politik gegen „den“ Bürger aus.

Die Krisenrhetorik, die Selbst-Niedermache (bevor andere es tun) ist urdeutsch. Die Inhalte sind zeitgeistabhängig. Der Angst-Mainstream fließt breit dahin, auch wenn gegenwärtig nach einer optimistischeren Weltsicht gesucht zu werden scheint. Doch eine bloße Mode wird den Angstreflex nicht beseitigen: Der Spiegel speist ihn mit regelmäßigen Titelgeschichten, ebenso jahrelang die Talkshow von Sabine Christiansen; der ehemalige BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel mochte nicht einmal das Verdienstkreuz seines zusammenbrechenden Landes annehmen, sondern klärte das Ausland über die desolaten deutschen Verhältnisse auf. In unzähligen Verbänden, Think Tanks und Stiftungen werden immer noch „Deutschland-am-Abgrund“-Tagungen vorbereitet, abgehalten und dokumentiert. Dass Bücher wie Deutschland – Abstieg eines Superstars von Spiegel-Autor Gabor Steingart oder Schluss mit lustig aus der Feder von ZDF-Moderator Peter Hahne Bestsellerstatus erlangen, legt zudem eine interessante Schlussfolgerung nahe: Den Käufern, den Lesern, den Krisenbürgern sind die Warnungen keineswegs zuwider, sie passen vielmehr in deren Selbstbild, sie entsprechen dem deutschen Habitus, sie bestätigen, was man immer schon gefürchtet hat.

„Du bist Deutschland!“ – „Umso schlimmer.“

Die Lautstärke und Dramatik der Warnrufe ist in den letzten Jahren regelmäßig damit begründet worden, dass es gelte, eine uneinsichtige, besitzstandsbewachende Bevölkerung endlich aufzurütteln, sie zum Zuhören zu zwingen. Aber vielleicht verhält es sich anders: Vielleicht können die Deutschen – natürlich nicht die tatsächlich Arbeitslosen, Behinderten, Kranken, von der Gesellschaft an den Rand Gedrängten, sondern die anderen – in ihrer masochistischen Angst-Lust gar nicht genug bekommen von der drohenden Apokalypse. Vielleicht ist der Vorabend des Untergangs ihre liebste Tageszeit.

Aus diesem Grunde waren auch offizielle Kampagnen zur Stimmungsaufhellung wie „Du bist Deutschland“ oder „Land der Ideen“ zum Scheitern verurteilt: Das Publikum leitete daraus anscheinend nur ab, wie schlecht es ihm gehen musste, wenn es dergestalt aufgeheitert werden sollte. Und die große Weltmeisterschafts-Party im vergangenen Sommer? Sie hat gezeigt, dass die Deutschen bei gutem Wetter vergnügt und friedlich (und mit ausgezeichneter Sanitär-Logistik) Bier trinken können. Aber am deutschen Habitus, an Abstiegsangst und Misstrauen gegen die Politik, hat das nichts geändert. Man könnte die lustvolle Selbstanklage des Exportweltmeisters Deutschland, des größten Landes in Europa, der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt (nach den USA und Japan) für liebenswerte nationale Exzentrik halten. Aber tatsächlich verschärft sie einige Probleme, um deren Lösung doch alle so sehr bangen.

Zu den zentralen Schwierigkeiten unseres modernen Landes gehört die Kinderlosigkeit – mit allen bekannten Folgen für die Sozialkassen und allen kaum vorstellbaren Konsequenzen für das soziale Miteinander. Niemand weiß wirklich, wie man Geburtenraten positiv beeinflusst, aber wie man sie ruiniert, scheint klar: Eine Gesellschaft, die sich selbst keine Zukunft bescheinigt, pflanzt sich, wenn sie es vermeiden kann, nicht fort. Angst und die permanente Leugnung der eigenen Stärken werden auch jene Kreativität behindern, die wir brauchen, um Regeln für das Zusammenleben in einer alternden Post-Arbeitsgesellschaft zu erfinden – und effektive Strategien für die schwierige Aufgabe, Kinder aus bildungsfernen Familien zu Bildungsbürgern zu erziehen.

Geduldiges Bemühen statt Sofortismus

Kinderlosigkeit, Alterung, Wegfall einfacher Arbeitsplätze: Das bleiben Deutschlands schwierigste Herausforderungen. Es geht nicht darum, sie zu leugnen. Aber alle drei erfordern geduldiges Bemühen, nicht Sofortismus. Sie erfordern Pragmatismus und Realismus – nicht Katastrophenangst. Alle drei sind mit einem ausschließlich ökonomisch orientierten Politikprogramm nicht zu bewältigen. Die reduktionistische Tendenz der Standortdebatte der letzten Jahre hat in der Welt treffend Eckhard Fuhr karikiert: „Es wird Zeit, dass das Bürgertum endlich wieder zu alter Form aufläuft. Die ersten anderthalb Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung war es ein ziemlicher Ausfall. Es zeigte sich eigentlich nur noch in Gestalt von Lobbyisten, die ununterbrochen in der deutschen Dauertalkshow herumlümmelten und das Vaterland zum Wirtschaftsstandort herunterredeten, der für die Globalisierung fit gemacht werden müsse. Da war keine Idee mehr von Deutschland.“

Eine neue Idee von Deutschland brauchen wir – ohne Verdrängung der real existierenden Schwierigkeiten. Aber auch ohne eine hysterische, interessengeleitete Untergangslust. Wir müssen uns wenden gegen das Schlechtreden von Dingen, die eigentlich gut sind. Gegen das automatische „Ja, aber“, wenn jemand es wagt, auf Party, Tagung oder Redaktionskonferenz einen Umstand zu erwähnen, der Deutschland als liebenswert oder leistungsfähig erscheinen lässt.

Der Spiegel-Autor Matthias Matussek (und einige andere) haben mit ähnlich gerichteten Lockerungsübungen begonnen. Matusseks Buch Wir Deutschen – Warum die anderen uns gern haben können war nichts anderes als ein Test: Wie freundlich darf man heute über Deutschland reden? Es fällt auf, dass Matussek sich weitgehend auf kulturelle Phänomene beschränkt, von Heinrich Heine bis Heidi Klum, und diese Sphäre mag in der Tat am ungefährlichsten sein: Auch weil es rot-grüne Antinationalisten, die bei jedem deutschlandfreundlichen Geräusch „Faschismus!“ rufen, heute kaum noch gibt.

Siehe oben: Der antinationale Affekt hat den Standort gewechselt. Und er verteidigt das Deutungsmonopol auf Größe und Unbesiegbarkeit der deutschen Probleme. Exportweltmeister? Aber die Wertschöpfung findet doch im Ausland statt! Wiedervereinigung mit 100-Milliarden-Euro-Transfers pro Jahr? Darauf kann man sich doch nicht ewig rausreden! Heikel sind aus Sicht der professionellen Schwarzseher alle Relativierungen des Krisenbefundes – und internationale Vergleiche, die Deutschland gelegentlich ganz gut dastehen lassen.

Die Briten zweifeln nicht an ihrem Land

„Modell England?“, fragt dankenswerter Weise Matthias Matussek: „Rund 2,8 Millionen Menschen sind erwerbsunfähig geschrieben. Sie tauchen in der Arbeitslosenstatistik gar nicht mehr auf. ... Auf der Insel werden mehr Antidepressiva genommen als anderswo. Die Insel hat in Westeuropa das verheerendste Alkoholismusproblem, die höchste Teenager-Schwangerenrate, die breiteste Unterklasse, die meisten Schulschwänzer, die schlechtesten öffentlichen Schulen und Hospitäler mit den längsten Warteschlangen.“ Man kann diese Sätze auswendig lernen (oder sich ähnliche Problemlisten über Frankreich, Italien, Estland oder Tschechien zusammenstellen) und sie auf jeder beliebigen Party vortragen: Die zuverlässige Reaktion wird ein „Ja, aber“ zu Lasten Deutschlands sein.

Die Briten hingegen nehmen ihre Probleme mit realistischer Gelassenheit hin, oft auch mit einem resignierten „typical“, aber sie zweifeln nicht wirklich an ihrem Land. Nicht aus Zufall ist Großbritannien die Heimat des spin doctoring: Wie man Statistiken verunklart, erfolglose Projekte einfach umbenennt, unrepräsentative Einzelmaßnahmen zum angeblich allgemein geltenden Standard erklärt, freundliche Sprachregelungen für schreiende Missstände erfindet und mit einer schrottreifen öffentlichen Infrastruktur lebt – das alles könnten die Deutschen von den Briten lernen. Es ist vielleicht sympathisch, wenn wir das gar nicht wollen. Aber ein Lehrgang im spin doctoring könnte einüben, wie man wenigstens über Gutes gut redet. Und dass bei zwei möglichen Interpretationen eines Phänomens nicht automatisch die schlechtere zu wählen ist.

In Finnland interessiert sich keiner für Pisa

Wer seine Verhaltensmuster erkennt, kann sie ändern. Es gibt eine Reihe von Themen, an denen sich üben lässt, wie man einen Sachverhalt – ohne Verfälschung der Tatsachen – zu seinen Gunsten interpretiert. Das mag in den vergangenen Jahren bei uns unüblich gewesen sein, verboten ist es nicht:
1. In den Vereinigten Staaten verlassen 30 Prozent aller Schüler die High School ohne Schulabschluss. Trotz dieser wahrhaft dramatischen Zahl kann von einer selbstzerfleischenden Bildungsdebatte in Amerika keine Rede sein. In Deutschland hingegen war das mäßige Pisa-Ergebnis Anlass für umfangreiche Selbstgeißelungen. Dabei hätte man differenzieren können: Das deutsche Gymnasium bringt im internationalen Vergleich hoch qualifizierte Absolventen hervor. Die Probleme konzentrieren sich in den Hauptschulen, und dort noch einmal bei Kindern mit einem (nicht kolonial vorgeprägten) Migrationshintergrund. An diesem Punkt hätte entschlossene Hilfe ansetzen müssen, nicht Lamento. Typisch auch die deutsche Vergleichssucht: Bei Pisa-Sieger Finnland interessierte sich niemand besonders für das Testergebnis – bis deutsche Forschungsdelegationen die finnischen Kultusbehörden lahm zu legen drohten.

2. Aus den Gymnasien wechseln offenbar immer noch einige intelligente junge Leute an die Hochschulen und erwerben dort so interessante Kenntnisse, dass sie hinterher Anstellungen auch an herausragenden Universitäten und Forschungseinrichtungen in den Vereinigten Staaten finden. Man könnte das als Zeichen für die Qualität deutscher Hochschulabschlüsse deuten, auch als Hinweis auf die Weltoffenheit deutscher Studenten, oder etwas unfreundlicher als amerikanisches Ausbildungsdefizit. Doch unter der sozialdemokratischen Bundesbildungsministerin Bulmahn wurde treffsicher die einzig negative Deutung gewählt: Deutschland sei zu unattraktiv geworden. Brain Drain. Exodus der Eliten.

3. Unser Gesundheitswesen betrachten wir fast nur noch unter dem Gesichtspunkt seiner vorausgesagten Unfinanzierbarkeit – und alle Kompromisse, um welche „die“ Politik bei der Neuregelung des Versicherungswesens ringt, können natürlich nur enttäuschen. Aus Patientensicht ist dieses Gesundheitssystem freilich immer noch so attraktiv, dass im Ausland nur wenige überlegene Beispiele zu finden sind – so dass Araber, Skandinavier und Briten sich gern und auf eigene Kosten in Deutschland behandeln lassen, wenn sie die Möglichkeit dazu haben. In England finden Ärzte, was Arbeitszeiten und Bezahlung angeht, etwas bessere Arbeitsbedingungen als in Deutschland – aber als Patient, berichtete ein Doktor und Arbeitsemigrant jüngst in der FAZ, ziehe er doch deutsche Krankenhäuser vor.

4. „Bürokratie“ wird bei uns eigentlich nur noch unter einem einzigen Aspekt beäugt: Kann man sie abbauen? Tatsächlich wäre es von großem Interesse, einmal die Vorzüge deutscher Verwaltungen, ihre klare Struktur und Transparenz, ihr Ausbildungsniveau, ihre Unbestechlichkeit und sogar ihren Altruismus unter die Lupe zu nehmen (nirgends gibt es so familienfreundliche Arbeitszeitregelungen, keine (Wirtschafts-)Institution stellt Mitarbeiter für Wahlbeobachtungen in aller Welt frei).

Ebenso wenig wie die hübsche Fußball-Weltmeisterschaft etwas Grundlegendes an den langfristigen Einstellungen der Deutschen geändert hat, wird die Große Koalition auf die Schnelle die German angst besiegen. Sie beginnt allerdings, den völlig ungehemmten Wirtschaftsalarmismus aus den Medien zu vertreiben – schließlich kann dieser jetzt nicht mehr gegen das eine, das einstmals rot-grüne politische Lager in Stellung gebracht werden. Vielleicht wechselt die Angst tatsächlich demnächst wieder ihren Standort in der Gesellschaft, doch was nach zwanzig Jahren intensiver Umwelt- und Weltkriegs- und weiteren zwanzig Jahren ebenso leidenschaftlicher Abstiegs- und Sozialangst kommen wird, ist heute schwer zu sagen. Der militante Islamismus und das außer Kontrolle geratende Lumpenproletariat im eigenen Land sind zumindest starke Kandidaten. Bis wir es genauer wissen, können wir uns an Harry Potter orientieren, der beim Kampf mit einem boggart, einem Gestaltenwandler, lernen muss, sich seiner größten Furcht zu stellen. Wider Erwarten ängstigt sich unser Held nicht vor Lord Voldemort, sondern fürchtet am meisten auf der Welt die Dementoren, Inbegriffe des Schreckens und der menschlichen Ohnmacht. Sein Lehrer, Professor Lupin, lobt ihn für diese „Wahl“: „Du fürchtest Dich vor der Angst selbst“, sagt er zu Harry. Das können, das sollten wir vielleicht auch. Vorsichtshalber.

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