Jeder wird gebraucht

Auf dem Arbeitsmarkt tut sich eine Menge. In Zukunft wird es immer stärker darauf ankommen, dass überhaupt genügend gut ausgebildete Fachkräfte vorhanden sind. Deshalb brauchen wir eine neue vorsorgende Arbeitsmarktpolitik

Sonntags freue ich mich jetzt wieder d’rauf, am Montag auf Arbeit zu gehen“ – so oder ähnlich sehen es viele der so genannten Bürgerarbeiter von Bad Schmiedeberg. In dem kleinen Kurort in Sachsen-Anhalt wird seit Herbst 2006 das Projekt „Bürgerarbeit“ getestet, das besonders schwer vermittelbaren und Langzeitarbeitslosen neue Perspektiven eröffnen soll. Statt Arbeitslosengeld II haben sie jetzt einen öffentlich finanzierten Arbeitsvertrag und zahlen eigene Sozialbeiträge. Mit ihrer Arbeit unterstützen sie die Freiwillige Feuerwehr, die Kirche oder helfen mit bei der Betreuung von Alten und Pflegebedürftigen. Die Bürgerarbeit kam, die Arbeitslosigkeit sank. Und der Bürgermeister freut sich, dass es nicht mehr „so trübsinnig wie früher“ ist in dem Städtchen am Rande der Dübener Heide. Das Beispiel klingt gut – und gerade deshalb lohnt sich genaues Hinschauen.

Lange haben wir darauf gewartet, aber nun endlich zeigen alle wichtigen wirtschaftlichen Indikatoren nach oben. Die Wirtschaftsforschungsinstitute korrigieren ihre Wachstumsprognosen nach oben, der Export brummt, die Binnennachfrage ist angesprungen, die Steuereinnahmen steigen, die Sozialversicherungen weisen erstmals seit langem Überschüsse aus. Und es sieht so aus, als werde die gute wirtschaftliche Stimmung fürs Erste anhalten.

Auch auf dem Arbeitsmarkt tut sich derzeit eine ganze Menge. In Brandenburg etwa verzeichnen wir die geringste Arbeitslosenquote seit sechs Jahren, auch wenn immer noch über 200.000 Menschen ohne Arbeit sind. Doch Erstaunliches ist passiert. Die Zahl der Arbeitslosen sinkt seit zwei Jahren kontinuierlich – und zwar im Jahresvergleich um fast 20.000.

Sieht man genauer hin, zeigt sich, dass arbeitslos gewordene Menschen schneller als früher wieder eine Beschäftigung finden. Ein Arbeitsloser in Senftenberg in der Niederlausitz ist nur noch durchschnittlich 153 Tage „Kunde“ bei seinem Arbeitsamt – und das in einer Region, in der die Arbeitslosenquote immer noch bei 20 Prozent liegt. Natürlich sind auch 153 Tage noch zuviel. Doch zunächst einmal ist es ein Erfolg, wenn viele Menschen den Teufelskreis der Arbeitslosigkeit heute viel schneller verlassen als noch vor ein paar Jahren. So entziehen wir der Langzeitarbeitslosigkeit den Nachwuchs. Damit aber kristallisiert sich zugleich immer mehr die Frage heraus, was wir den Menschen anbieten können, die bereits seit drei, fünf oder noch mehr Jahren arbeitslos sind? Das ist eins der zentralen Themen der nächsten Jahre.

Dynamischer Wandel, nicht bloß Niedergang

Unser Land befindet sich in kontinuierlichem Wandel. Da ist zum einen die wirtschaftliche Dynamik – man denke nur an die wachsenden Märkte in Osteuropa, in China, Indien oder Vietnam. Viele Betriebe, die heute in Asien, Polen oder im Baltikum aktiv sind, konnten sich das vor ein paar Jahren noch nicht vorstellen. Produktionsstrukturen verändern sich. Und zwar fast täglich. Und damit einher geht ein permanenter Wandel der Qualifikationen. Was man einmal gelernt hat, reicht heute nicht mehr. Ganze Berufe verschwinden, andere entstehen: Wir telefonieren heute zwar so viel wie nie zuvor, eine „Telefonistin“ braucht trotzdem keiner mehr. Und gleichzeitig hätte vor 20 Jahren keiner gewusst, was wohl ein Mechatroniker macht.

Die rapiden Veränderungen auf den Märkten, in der Art und Weise wie wir produzieren – und damit der Bedarf an Berufen und Qualifikationen – haben zu der hohen Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland nach der Wende geführt. Gleichzeitig haben diese Veränderungen aber auch Neues entstehen lassen. Heute existieren in Ostdeutschland extrem leistungsfähige und produktive Unternehmen, eine hoch moderne Landwirtschaft, viele starke Betriebe, die auf den Märkten mithalten können.

Daneben gibt es in unserem Land einen zweiten Wandel. Der demografische Umbruch verläuft nicht so schnell, dafür aber umso nachhaltiger. In 13 Jahren werden in Brandenburg ein Drittel mehr Menschen als heute leben, die älter als 65 Jahre sind. Und wir werden 12 Prozent weniger Menschen im „erwerbsfähigen“ Alter zwischen 20 und 65 Jahren sein. Wir haben zu wenige Kinder, aber selbst wenn die Geburtenrate in den kommenden Jahren stiege, würden sich die grundlegenden demografischen Trends nicht verändern. Zugleich macht der demografische Wandel auch vor unseren Unternehmen nicht halt. Wer sich in Brandenburger Unternehmen umschaut, stellt schnell fest: Die Belegschaft ist überdurchschnittlich alt, es gibt zu wenig Nachwuchs. Vor zehn Jahren waren etwa 18 Prozent der Beschäftigten über 50 Jahre alt, heute ist es bereits ein Viertel.

An der Schwelle zu einem neuen Arbeitsmarkt

In den Jahren nach der Wende haben wir in Ostdeutschland vor allem den wirtschaftlichen Umbruch erlebt. Viele Unternehmen konnten nicht mehr mithalten und wurden geschlossen. Die Arbeitslosigkeit stieg. Und wo neue Unternehmen entstanden, brauchten sie längst nicht mehr so viele Arbeitskräfte wie vorher. Dieser hohe Sockel an Arbeitslosigkeit macht uns jetzt zu schaffen. Heute gibt es Menschen, die seit vielen Jahren ohne Job sind, manche sogar seit 15 Jahren, ab und zu höchstens unterbrochen durch Weiterbildung oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Ihnen und leider oft genug auch ihren Kindern sind der Halt und bisweilen auch die Hoffnung verloren gegangen.

Heute nun stehen wir – nicht nur in Ostdeutschland – an der Schwelle zu einem neuen Arbeitsmarkt, der vollkommen anders aussieht als in der Vergangenheit. In Ostdeutschland wird in Zukunft nicht mehr so sehr der ökonomische sondern vielmehr der demografische Wandel die Situation auf dem Arbeitsmarkt bestimmen. In den kommenden Jahren wird es viel stärker als bisher darauf ankommen, dass gut ausgebildete Fachkräfte in ausreichender Zahl vorhanden sind.

Viele Rentner, wenig Nachwuchs

Zwei Zahlen aus Brandenburg illustrieren das Problem. Im Jahr 2002 waren hier noch etwa 115.000 Menschen zwischen 16 und 19 Jahren alt. Heute, nur fünf Jahre später, sind es gerade noch 87.000. Und in drei Jahren werden es nur noch 49.000 sein. Das bedeutet nichts anderes, als dass sich die Zahl derjenigen halbiert, die einen Ausbildungsplatz suchen – und dass sich in wenigen Jahren auch die Zahl der Nachwuchskräfte für die Unternehmen halbieren wird. Jede und jeder einzelne von ihnen wird also gebraucht. Das gilt erst recht deshalb, weil in den kommenden Jahren überdurchschnittlich viele Arbeitnehmer in Rente gehen und ihren Platz freimachen werden.

Das deckt sich mit den Erwartungen der Unternehmen. Bis 2010 werden allein in Brandenburg etwa 100.000 neue Fachkräfte gebraucht, vor allem gut qualifizierte. Im Maschinenbau rechnet man mit einem Bedarf von etwa 3.400 Menschen, im Tourismus mit etwa 4.500, im Fahrzeugbau mit 3.200, bei der Altenpflege mit 3.200. Und ab dem Jahr 2011 braucht das Land jährlich etwa 1.000 neue Lehrer.

Die Arbeitsmarktpolitik der Zukunft muss deshalb viel mehr als bisher vorsorgende Arbeitsmarktpolitik sein – und einen breiteren Ansatz verfolgen. Viel zu wenige Hände gehen nach oben, wenn man heute Schüler der 10. oder 11. Klasse fragt, was sie einmal werden wollen. Manchmal sind es nur vier oder fünf pro Klasse. Und viel zu wenige Schüler wissen, welche Unternehmen es am Ort oder in der Region gibt, welche Berufe man dort lernen kann. Die Ursachen solcher Orientierungslosigkeit liegen in der Vergangenheit. Umfragen zeigen, dass 61 Prozent der Schüler im öffentlichen Dienst die größten Beschäftigungschancen sehen, aber nur 40 Prozent in der Industrie. Und das, obwohl der öffentliche Dienst fast der einzige Sektor in Ostdeutschland ist, der auch in den kommenden Jahren weiter Arbeitsplätze abbauen wird, während Industrie und Dienstleistungen in den vergangenen zehn Jahren ununterbrochen gewachsen ist und jetzt schon händeringend Fachkräfte sucht.

Vorsorge beginnt mit Kommunikation

Doch es hilft nichts, solche Tendenzen zu beklagen. Eine nach vorne gerichtete Strategie muss vielmehr die Unternehmer sowie die Schulen in den Blick nehmen – und daraus eine im weitesten Sinne vorsorgende Arbeitsmarktpolitik entwickeln. Diese hat erst einmal nichts mit dem Sozialgesetzbuch oder der Arbeitslosenversicherung zu tun. Vielmehr müssen Unternehmen viel stärker als bisher selbst in die Schule, um dort den Schülern zu vermitteln, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten gebraucht werden. Umgekehrt müssen Unterrichtstage in den Unternehmen, Kooperationen zwischen Klassen und Firmen und eine intensivere ökonomisch-politische Bildung zum Standard werden. Nur so werden Lehrer und Schüler ein Bild davon bekommen, wie eine moderne Volkswirtschaft funktioniert, welche neuen Berufsfelder existieren und welche Chancen es in der eigenen Heimat gibt.

Eine vorsorgende Arbeitsmarktpolitik baut deshalb in erster Linie auf Kommunikation auf. Sie soll die Stärken von Unternehmen und ganzer Regionen verdeutlichen und damit vor allem Orientierung für Eltern und Lehrer, für Schüler oder Studenten schaffen. Wir reden derzeit viel über den „absehbaren“ Fachkräftemangel. Der größte Erfolg wäre es, wenn genau der eben nicht eintritt. Aber dies wird nur mit mehr Kommunikation zwischen allen Beteiligten möglich sein. Zu einer vorsorgenden Arbeitsmarktpolitik gehört allerdings auch, sich für mehr Toleranz und Offenheit einzusetzen, denn ganz ohne gezielte Zuwanderung wird es nicht gehen.

Daneben brauchen wir eine mitfühlende und solidarische Arbeitsmarktpolitik. Auch wenn sich die Beschäftigungschancen vielerorts verbessern: Zur Wahrheit gehört leider auch, dass Menschen, die über lange Jahre arbeitslos gewesen sind, häufig nur noch geringe Chancen haben, einen neuen Job zu finden. Oft wird ihre Qualifikation nicht mehr gebraucht, zuweilen ist auch die Motivation abhanden gekommen. Das aber bedeutet, wir werden in eine Situation kommen, in der (langfristige) Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel gleichzeitig auftreten. Auf den ersten Blick mag das zwar paradox erscheinen. Das Geheimnis ist jedoch mit etwas Ehrlichkeit einfach zu lüften: Aus einem 55-jährigen Melker lässt sich eben kein IT-Spezialist mehr machen. Umso mehr brauchen wir trotzdem Perspektiven für diesen Arbeitslosen.

Auf persönliche Beratung kommt es an

Damit kehren wir zurück nach Bad Schmiedeberg in Sachsen-Anhalt. Das dortige Projekt „Bürgerarbeit“ steht auf mehreren Säulen. Den Anfang machen intensive Gespräche mit den Arbeitslosen, um herauszufinden, wo genau die individuellen Probleme bei der Arbeitssuche liegen. Wenn jedoch alle Bemühungen keinen Erfolg gebracht haben, dann bekommen die Arbeitslosen einen Arbeitsvertrag über die „Bürgerarbeit“. Idealerweise werden dabei die Leistungen für das Arbeitslosengeld und die (ohnehin vom Staat gezahlten) Mietkosten zusammengefasst und mit Mitteln der EU ergänzt – in Bad Schmiedeberg ist dies leider noch nicht der Fall, da das Bundesgesetz dem noch im Wege steht. Am Ende stehen ein sozialversicherungspflichtiger Job, die Verpflichtung, sich weiter um Arbeit und Qualifizierung zu bemühen – und ein Einkommen von etwa 800 Euro brutto. Das mag nicht die Welt sein. Und dennoch: Der Gegenwert ist nicht in Geld aufzuwiegen. Verantwortung, gesellschaftliche Integration und neues Selbstvertrauen lassen sich nicht in Prozentpunkte der Arbeitslosenversicherung umrechnen. Wichtig sind sie trotzdem. Jeder Politiker sagt heute, es sei besser, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Nur passiert dies immer noch viel zu selten.

Die Bürgerarbeit kann solchen Menschen neue Hoffnung und neuen Lebenssinn vermitteln, die schon sehr lange Zeit arbeitslos sind, nur noch wenige Jahre bis zur Rente haben und kaum noch eine Chance, auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Job zu finden. „Manchmal habe ich sogar schon den Feierabend verpasst“, sagt eine der Bürgerarbeiterinnen. Sie hat schon über 300 Bewerbungen verschickt und nichts als Absagen erhalten. „Jetzt weiß ich wieder, was ich am Abendbrottisch erzählen kann“, sagt einer der Männer.

Was können wir aus dem Projekt „Bürgerarbeit“ lernen? Erstens, dass sich Beratung lohnt. Neudeutsch heißt sie „Profiling“. Es geht darum, intensiv mit den Arbeitslosen zu sprechen, gemeinsam mit ihnen nach Wegen zu suchen, einen Arbeitsplatz zu bekommen. In Bad Schmiedeberg fand nach solchen Gesprächen ein Drittel der Arbeitslosen zügig einen Job in Firmen der Region – außerhalb der Bürgerarbeit. In allen Ländern mit Beschäftigungsquoten von 70 Prozent und mehr, wie etwa in Schweden, Dänemark oder Großbritannien, ist diese persönliche Beratung ein elementarer Bestandteil der Arbeitsmarktpolitik. Dabei können und müssen wir noch besser werden.

Arbeit finanzieren statt Arbeitslosigkeit

Zweitens müssen wir eingestehen, dass wir ein System sozialer Arbeit für diejenigen Menschen brauchen, deren Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt – leider – als sehr klein einzuschätzen sind. Das werden vor allem ältere Langzeitarbeitslose sein, denen wir eine Brücke in den Ruhestand bauen müssen. Dafür müssen wir Gelder, die ohnehin ausgezahlt werden, in Lohn für Arbeit – eben für „Bürgerarbeit“ – umwandeln. Oder kurz gesagt: Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren. An genau dieser Stelle müssen wir die Arbeitsmarktreformen weiterentwickeln.

Die wichtigste Herausforderung für eine solidarische Arbeitsmarktpolitik ist es, den Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit, Armut, Hoffnungslosigkeit und Frustration zu unterbrechen – und mehr Motivation bei Arbeitslosen und ihren Kindern zu erreichen. Die „Vererbung“ von Arbeitslosigkeit von Generation zu Generation ist das Schlimmste, was passieren kann. Mit einer zugleich aktivierenden und solidarischen Arbeitsmarktpolitik lässt sich das verhindern.

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