Im Osten was Neues

Im Mai 2011 fällt eine der letzten Barrieren innerhalb Europas: Dann sind endlich auch die mittel- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten der EU Teil des gemeinsamen Arbeitsmarktes. Höchste Zeit, diese Chance zu nutzen und Ängste zu entkräften

Viele Bürgerinnen und Bürger haben zur Europäischen Union ein gespaltenes Verhältnis. Einerseits können sich die meisten mit der europäischen Einigung identifizieren, weil sie nationale Gegensätze und Grenzen überwindet. Wer weiß es nicht zu schätzen, sich in der Europäischen Union frei bewegen, arbeiten und studieren zu können, ohne ständig Geld wechseln oder den Reisepass zücken zu müssen? Dass wir unsere Waren ohne Einschränkungen auf einem Markt von 500 Millionen Menschen anbieten können? Dass Europa beim Verbraucher-, Umwelt- und Klimaschutz mehr und mehr mit einer Stimme spricht? Schritt für Schritt wächst – um Willy Brandt zu zitieren – „zusammen, was zusammen gehört“.  

Andererseits beschleicht viele bei dem Gedanken an die EU auch ein Unbehagen. Das Stichwort lautet „Eurokratie“: Längst ist die Brüsseler Bürokratie zu einer entscheidenden Ebene des politischen Gestaltens geworden, die jedoch fern, elitär und undurchschaubar erscheint und die soziale Dimension vernachlässigt. Wir haben mit der EU einen länderübergreifenden Wirtschaftsraum geschaffen, der einmalig in der Geschichte ist. Aber die europäische Sozialpolitik steckt noch in den Kinderschuhen. Dabei gehören Wirtschaft und Soziales untrennbar zusammen. Die soziale Marktwirtschaft ist ein unumstößlicher Pfeiler, auf dem Wohlstand und gesellschaftlicher Zusammenhalt der Bundesrepublik aufbauen. Und das muss auch im europäischen Einigungsprozess gelten.

Im kommenden Jahr wird es wichtiger denn je, dass die Bürgerinnen und Bürger die europäische Einigung auch mit sozialem Fortschritt in Verbindung bringen. Denn dann wird ein Prozess abgeschlossen, der eine große Chance ist, aber auch viele Menschen besorgt stimmt: Vor fünf Jahren hat die Europäische Union mit der Osterweiterung einen maßgeblichen Schritt zur Einigung des Kontinents unternommen. Am 1. Mai 2011 werden wir nach Jahrzehnten der Teilung den vorerst letzten Schritt gehen: Mit dem Ende der Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für die mittel- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten der EU wird eine Paragrafenmauer eingerissen, die die Freiheit der Menschen beschnitten hat und besonders im Osten als faktische Unterteilung in EU-Bürger erster und zweiter Klasse empfunden wurde. Das hat das Verhältnis zwischen beiden Gesellschaften belastet. Und wenn die Barrieren am Arbeitsmarkt fallen, wird das auch dazu beitragen, auf beiden Seiten der Grenze langfristig Vertrauen zu schaffen. Nach siebenjähriger Übergangsfrist tritt nun endlich in Kraft, was längst selbstverständlich sein sollte: Dann gilt für alle Unionsbürgerinnen und -bürger die gesamte Grundrechtecharta der Europäischen Union, inklusive des zentralen Freiheitsrechts aus Artikel 15, „in jedem Mitgliedsstaat Arbeit zu suchen, zu arbeiten, sich niederzulassen oder Dienstleistungen zu erbringen“.

Die Lücke zum Westen schließt sich

Sicher: Übergangsfristen gab es schon bei den Beitritten von Spanien, Griechenland und Portugal. Und angesichts der Dimension der Osterweiterung der Europäischen Union war eine gewisse Transformationsphase unvermeidbar. Dennoch ist im Rückblick klar, dass der Übergang, der auch auf das Betreiben der Bundesrepublik hin durchgesetzt wurde, zu lang war. Zwar besteht sowohl beim Wohlstandsniveau als auch bei den Sozialstandards in den mittel- und osteuropäischen Staaten nach wie vor viel Nachholbedarf. Aber die Lücke zum Westen schließt sich. Auch sind die osteuropäischen  Staaten wesentlich heterogener, als wir es häufig wahrnehmen: Metropolen wie Warschau, Prag und Bratislava prosperieren, während ländliche Regionen noch erheblichen Unterstützungsbedarf haben, analog zur Situation bei uns. Die Trennlinie verläuft also nicht mehr so sehr zwischen Ost und West, sondern quer durch die jeweiligen Gesellschaften. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat diese ökonomischen Trennlinien sogar noch verschärft.    

Die Erfahrung mit Umbrüchen und Krisen hat dazu beigetragen, dass das Krisenmanagement in Mittel- und Osteuropa überwiegend erfolgreich war. Beispielsweise hat Polen als einziges europäisches Land das Krisenjahr 2009 mit einem nennenswerten Wirtschaftswachstum von immerhin zwei Prozent und einem weitgehend stabilen Arbeitsmarkt überstanden. Immer mehr Westeuropäer arbeiten zeitweilig oder dauerhaft in den aufblühenden Regionen des Ostens. Diese Grenzgänger ärgern sich derzeit noch genauso über die Mauer aus Paragrafen wie die Osteuropäer, die einen Beitrag auf unserem Arbeitsmarkt leisten möchten.

Vor allem aber können wir es uns nicht mehr leisten, dass gut ausgebildete, motivierte Mittel- und Osteuropäer Deutschland auf der Suche nach guter Arbeit links liegen lassen und in Scharen in Länder wie Großbritannien ziehen, die ihren Arbeitsmarkt längst für sie geöffnet haben. Angesichts des demografischen Wandels und des immer rascher steigenden Fachkräftebedarfs können wir auf qualifizierte Zuwanderung aus dem Osten schlicht nicht mehr verzichten. Um die Chance des gemeinsamen Arbeitsmarktes zu nutzen und Ängste in Teilen der Bevölkerung zu entkräften, sind drei Faktoren entscheidend:

Erstens müssen klare soziale Standards gesetzt und kommuniziert werden. Denn dass das Ende der  Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit vor allem eine Chance ist, sehen noch nicht alle so. Den Sorgen und Ängsten der Bürgerinnen und Bürger müssen wir durch Handeln und offene Kommunikation begegnen. Dabei muss vor allem deutlich sein, dass die Öffnung des Arbeitsmarktes nicht automatisch zu einer sozialen Erosion führt. An Deutschlands Westgrenze zu Frankreich und den Benelux-Staaten profitieren alle Seiten von den offenen Grenzen, auch wenn dort ein Wohlstandsgefälle zwischen reichen Luxemburgern und eher strukturschwachen Grenzregionen herrscht. Warum sollte dieser Erfolg nicht auch im Osten zu erzielen sein? Das beste Mittel dagegen ist das unmissverständliche Eintreten für soziale Standards, zu denen in erster Linie eine verbindliche Lohnuntergrenze gehört. So haben Berlin und Brandenburg für das Wach- und Sicherheitsgewerbe einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt, der Beschäftigte in dieser Branche vor Lohndumping schützt.

Warum Einwanderung notwendig ist

Solange sich die Bundesregierung einem allgemeinen Mindestlohn verweigert, wie er in fast allen EU-Ländern längst üblich ist, müssen die Bundesländer vorangehen, wo sie können. Berlin und Bremen wollen öffentliche Aufträge nur noch an Unternehmen vergeben, die ihren Mitarbeitern anständige Löhne zahlen. Auch Brandenburg wird noch in diesem Jahr ein Vergabegesetz bekommen. Hilfreich sind auch gemeinsame Kampagnen der EU wie das Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung 2010. Sie helfen, das soziale Vertrauen zu stärken.

Zweitens müssen wir Zuwanderinnen und Zuwanderer anziehen und aktiv integrieren. Der Angst in Teilen der Bevölkerung, dass zugewanderte Arbeitnehmerinnen und Arbeiternehmer den Einheimischen Konkurrenz machen, kann entgegengehalten werden: Einwanderung ist notwendig, um die größer werdenden Fachkräftelücken zu schließen und damit Arbeitsplätze und Lebensqualität bei uns zu erhalten. Es gibt keinen Grund für die Annahme, wir könnten ab 2011 plötzlich von Arbeitsuchenden „überflutet“ werden. Im Gegenteil müssen wir aufpassen, dass wir nicht zu einer Party einladen, zu der dann keiner kommt. Am Beispiel von Brandenburg, das mit 250 Kilometern von allen Bundesländern die mit Abstand längste Grenze zu Osteuropa hat, lässt sich das verdeutlichen: Die Bundesagentur für Arbeit schätzt, dass lediglich 2.000 bis 3.000 polnische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dauerhaft in Brandenburg arbeiten wollen, wenn die Bedingungen hier nicht attraktiver und gastfreundlicher werden.

Wir müssen aktiv um die besten Köpfe werben

Dabei hat der Wirtschaftsraum Berlin-Brandenburg laut einer von den beiden Landesregierungen in Auftrag gegebenen Prognos-Studie bereits im Jahr 2020 eine potenzielle Lücke in Höhe von 362.000 Facharbeitern. Der Think Tank „Das Progressive Zentrum“ hat dazu in einer Studie zur Zukunft des Europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells eine Imagekampagne vorgeschlagen, die beim Werben um die besten Köpfe hilfreich sein könnte: Demnach könnte die Bundesrepublik offensiv für das Arbeiten und Studieren in Deutschland werben – in Zusammenarbeit mit der Europa-Universität Viadrina, den Goethe-Instituten und weiteren in Osteuropa aktiven Institutionen. Das Ziel wäre es, Fachkräfte anzuziehen, die bisher in andere Staaten ausgewandert sind. Gelingt hingegen kein aktiver Umgang mit der Freizügigkeit, werden allenfalls Geringqualifizierte den Weg zu uns finden.

Die Chance auf Fachkräfte aus Osteuropa darf uns aber keinesfalls davon abhalten, unseren eigenen Nachwuchs zu fördern. Das wäre kreuzgefährlich. Auch wollen wir nicht dazu beitragen, dass unsere osteuropäischen Nachbarn durch den Verlust ihrer besten Kräfte „ausbluten“, so dass dort Wachstum und Wohlstand gefährdet werden. Diese Entwicklung kann nur im Miteinander erfolgreich sein.

Drittens müssen „weiche“ Standortfaktoren verbessert werden, die eine Kultur des Willkommens schaffen. Wir dürfen die Fehler der vergangenen Jahrzehnte nicht wiederholen, als das Diktum des Schweizer Schriftstellers Max Frisch galt: „Wir riefen Gastarbeiter und es kamen Menschen.“ Deshalb sollten wir für die, die zu uns kommen, Unterstützung anbieten; sie müssen sich hier wohlfühlen und ein Zuhause finden. Zu diesen Integrationshilfen gehören konkrete Maßnahmen für den Alltag. Dazu haben wir in Brandenburg bereits einiges auf den Weg gebracht: In Fortbildungen und Trainings lernen Mitarbeiter von Kitas, Schulen, der öffentlichen Verwaltung und Ausländerbehörden, aber auch Arbeitgeber, wie sich diese Institutionen Einwanderern öffnen können. Wichtig ist ferner die verbesserte Anerkennung von Bildungsabschlüssen. Weil die Bundesregierung auf diesem Feld passiv ist, müssen die Bundesländer ihre Gestaltungsspielräume bei der Anerkennung von Bildungsabschlüssen nutzen.

Zuwanderung kann unaufgeregt gelingen

Außerdem gilt: Mangelnde Kenntnisse der Sprache und Kultur des Anderen, gern gepflegte Vorurteile oder schlicht Gleichgültigkeit gegenüber den „Neuen“ hemmen den offenen und produktiven Umgang miteinander. Vorreiter für eine Kultur des Willkommens können die Grenzregionen spielen. Ihr Zusammenwachsen durch Austauschprogramme und Arbeitskontakte ist ein Schwerpunkt der Brandenburger Landesregierung und sogar als Ziel in der Landesverfassung verankert.

Lernen können wir auf allen drei Gebieten von den Erfahrungen Schwedens, Irlands und Großbritanniens, die ihren Arbeitsmarkt bereits im Jahr 2004 zeitgleich mit der Osterweiterung der EU geöffnet haben. Schweden zeigt, dass die Zuwanderung ein für die Einheimischen unaufgeregter Prozess sein kann, wenn die Menschen dem Sozialstaat vertrauen und tariflich und durch Lohnuntergrenzen garantierte Löhne existieren. Als wahre Magneten für junge, motivierte Mittel- und Osteuropäer haben sich Großbritannien und Irland in deren Wirtschaftsboomjahren bis 2008 erwiesen. Allerdings wird auch dort deutlich, dass Attraktion allein nicht reicht, wenn sie nicht mit Integration verbunden ist. Den Angelsachsen ist es nicht immer gelungen, Hochqualifizierte in adäquate Jobs zu bringen. Brainwaste statt braingain – eine Unterforderung von Talenten in einfachen Dienstleistungsjobs hat dazu beigetragen, dass viele Immigranten im Zuge der Krise wieder in ihre Heimat zurückgekehrt sind.

Wenn es gelingt, länderübergreifend einen dynamischen Arbeitsmarkt zu schaffen und gleichzeitig das soziale Europa zu stärken, dann wird der 1. Mai 2011 als ein Meilenstein der europäischen Einigung in die Geschichte eingehen. «

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